(LI-Paper)
Robert Nef / 2003
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Wohlfahrt und den Staat
Stirbt der Wohlfahrtsstaat an seiner Überforderung?
Markt, Mündigkeit und Menschenwürde
Die drei Wurzeln des Wohlfahrtsstaates
Etatisten gegen «Sozialisten»
Vom Sinn und Unsinn der Umverteilung
Armut wird «gemacht»
Sozialismus ist asozial
Vereinzelung als Folge und nicht als Ursache
Entgeltliche Dienstleistungen als Ergänzung der Freiwilligenarbeit
Mut zur Eigenständigkeit, Mut zum Dienen
«Ja» zur subsidiären Sozialpolitik
Kein Sozialabbau, eine Entziehungskur!
Geordneter Rückzug aus der Sackgasse
Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Wohlfahrt und den Staat
Im Zentrum einer freien Gesellschaft steht nicht das isolierte Individuum, sondern der mündige, gesellige Mensch, der in vielfältigen, mitmenschlichen, familiären, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen und beruflichen Beziehungen lebt und der das Wohlergehen anderer aus freien Stücken zu seinem Hauptanliegen macht, weil es auch die Basis seines eigenen Wohlergehens ist, sein «aufgeklärtes Selbstinteresse», seine Privatautonomie.
Der Titel dieser Schrift «Der Wohlfahrtsstaat zerstört die Wohlfahrt und den Staat» ist zunächst eine Provokation. Es ist eigentlich eine Frechheit, etwas so Wohlvertrautes und Populäres wie den Wohlfahrtsstaat zum potentiellen Gegner der gemeinsamen Wohlfahrt zu statuieren, die für viele Menschen der wichtigste Staatszweck ist.
Die Provokation geht noch weiter: der Staat als solcher wird als potentielles Opfer dargestellt. Reine Panikmache? Mobilmachung eines zynischen Sozialabbauers? Haben wir es gar mit einem verkappten Todfeind des Staates zu tun, der mit einer gewissen Schadenfreude das «Ende des Nationalstaates» voraussagt: Tod durch Überforderung, durch Auszehrung, durch die Schuldenfalle, gestorben an den Rezepten, welche jene verschrieben haben, die ihn retten wollten und die es gut mit ihm meinten?
Es geht in dieser Schrift nicht in erster Linie um eine Provokation. Im Zentrum steht vielmehr die Sorge um die Zukunft des Staates. Der Staat ist der Hort des Rechts, und auf eine rechtsstaatliche Minimalbasis möchte kaum jemand verzichten. Ein durch wohlfahrtsstaatliche Überforderung wirtschaftlich und moralisch bankrott erklärter Staat könnte aber seine ureigensten Grundaufgaben, nämlich den Schutz der Freiheit und die Gewährleistung der Ordnung nicht mehr wahrnehmen. Darum lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie dieser Bankrott vermieden werden kann.
Stirbt der Wohlfahrtsstaat an seiner Überforderung?
Wir stehen vor der Aufgabe, jene Entwicklung zu verhindern, die man mit guten Gründen eine Sucht nennen kann, eine zunehmende, allseitige und totale Abhängigkeit von einer Institution, welche die Fähigkeit zur nachhaltigen Selbststeuerung und Selbstheilung nicht mehr im Griff hat und auf einen Zusammenbruch zusteuert.
Die Hauptschwäche des Wohlfahrtsstaats besteht nicht darin, dass er immer unbezahlbarer wird, sondern dass er den sozialen Ast absägt, auf welchem er sitzt. Eine Gesellschaft, in welcher die Menschen verlernen, einander spontan und von sich aus motiviert beizustehen und zu helfen, ist dem Untergang geweiht, selbst wenn ihre ökonomische Produktivität noch ausreicht, um ihre Fehlstrukturen aufrecht zu erhalten oder gar auszubauen. Das Sozialverhalten wird in langsamen zivilisatorischen Lernprozessen von Generation zu Generation aufgebaut. Dieser Aufbau kann möglicherweise mit dem Tempo des Zerfalls nicht Schritt halten. Der entscheidende Engpass liegt nicht bei den Finanzen, sondern in der menschlichen Seele.
Der Wohlfahrtsstaat ist eine zu ernste Sache, als dass man ihn den Sozialisten überlassen dürfte, aber auch seine Radikalkritiker sind nur dann ernst zu nehmen, wenn es ihnen gelingt, aufzuzeigen, welche Alternativen es denn gäbe. Theorie ist, wenn nichts funktioniert, aber alle wissen warum, und Praxis ist, wenn alles funktioniert, aber niemand weiss warum. Immerhin gibt es auch in der Sozialpolitik oft nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Alternativen zu altvertrauten und populären Institutionen des Daseinsvorsorgestaats haben zunächst immer etwas Utopisches.
Es ist leicht zu kritisieren, wenn man keine Gefahr läuft, ein eigenes Programm in die Realität umsetzen zu müssen und wenn man für alle Übel dieser Welt dem politischen Gegner die Schuld in die Schuhe schieben kann. Das gilt für linke und für rechte Utopisten. Umgekehrt ist man – nach einem Wort von Max Frisch – nicht realistisch, indem man keine Ideen hat.
Das Ideal, von dem die radikale Wohlfahrtsstaatskritik ausgeht, ist nicht etwa eine total deregulierte Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Verbindlichkeiten, ohne Treu und Glauben und ohne Moral. Im Gegenteil. Eine hoch arbeitsteilige, technisch zivilisierte Gesellschaft braucht Regeln, die Vertrauen und Verlässlichkeit garantieren und schaffen. Aber diese Regeln müssen non-zentral vereinbart werden und nicht zentral und einheitlich befohlen sein. Die Zukunft gehört einer Gesellschaft, die aus mündigen, grundsätzlich eigenständigen, möglichst unterschiedlichen Menschen besteht, die jene Netzwerke aufbauen und pflegen, die für die Minderheit von Hilfebedürftigen notwendig sind.
Markt, Mündigkeit und Menschenwürde
Diese liberale Gesellschaft hat folgende Merkmale:
- Sie baut auf mündige Menschen und nicht auf politische Organisationen. Diese mündigen Menschen müssen in der Lage sein, jene Regeln, die für das Zusammenleben notwendig sind, zu überliefern, vertraglich und verträglich zu vereinbaren und immer wieder an neue Situationen anzupassen.
- Sie baut auf eine grosse Zahl von non-zentralen, kleinen, konkurrierenden und kooperierenden Einheiten und nicht auf zentrale politische Steuerung. Die Menschen müssen in Millionen von kleinen und kleinsten Experimenten des Zusammenlebens und Zusammenwirkens aus Versuch und Irrtum lernen.
- Sie baut auf Vielfalt und nicht auf Gleichmacherei. Die Zivilgesellschaft ist nichts anderes als das friedliche Nebeneinander, Miteinander, gelegentlich Gegeneinander und oft auch Durcheinander verschiedener Menschen.
- Sie baut auf flexible Rollenteilungen und Lebensmuster. In der grossen «Schule des Lebens» gibt es keine feste Rollenzuweisung zwischen Lehrenden und Lernenden. Alle sind abwechslungsweise Lehrer und Schüler. Das Grundprinzip ist die gegenseitige Rücksichtnahme und die Achtung vor der Menschenwürde.
- Sie baut auf Transparenz und Kommunikation. «Abgucken» ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Erfolgreicheres ist zu kopieren und auszubauen, Fehler sind zu vermeiden oder wenigstens zu verkleinern. 6. Sie baut auf Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Wer die «Schule des Lebens» und die «Schule des Marktes» schwänzt, ist selbst schuld und muss die Folgen tragen.
Dieses Programm ist nicht einfach die Quintessenz einer dogmatischen neoliberalen Ideologie. Sie entspricht mittel- und langfristig dem, was in einer intensiv vernetzten, arbeitsteiligen Welt überhaupt Chancen hat, zu funktionieren. Die entscheidende Frage lautet nicht: «Was ist sozial gerecht?», sondern «Was funktioniert?». Etwas, das nicht funktioniert, kann nämlich auch nicht gerecht sein.
Doch welche Politik ermöglicht oder begünstigt eine solche funktionierende Gesellschaft? Politik sollte kein Schwarzpeterspiel sein, sondern «der gemeinsam bewegliche Umgang mit gemeinsamen Problemen» (Hartmut von Hentig). Oft ist sie leider nichts anderes als die gemeinsame Verdrängung und Verhinderung von Lösungen durch gemeinsame Lügen. Aus diesem Teufelskreis gilt es auszubrechen.
Die drei Wurzeln des Wohlfahrtsstaates
Der Wohlfahrtsstaat ist gegen echte oder vermeintliche Defizite der Industriegesellschaft geschaffen worden. Er rechnet gerade nicht mit dem «mündigen Menschen». An seinem Ursprung kann man drei Wurzeln sehen, eine üble und zwei «gut gemeinte».
Die üble Wurzel des Wohlfahrtsstaats ist, wie Gerd Habermann in seinem Buch zu diesem Thema nachgewiesen hat (Der Wohlfahrtsstaat, Geschichte eines Irrwegs, Frankfurt/M, 1997), die Lust des obrigkeitsstaatlichen Herrschens über gehorsame und gefügige Untertanen. In diesem Bestreben des «Gefügigmachens» treffen sich die Interessen der politisch Mächtigen und der industriellen Arbeitgeber, «big government» und «big business» in einträchtiger Interessengemeinschaft. Sie brauchen abhängige Staatsklienten, unselbständige Arbeitnehmer und unmündige Massenkonsumenten, welcher auf die kontinuierlichen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen derart angewiesen sind, dass man ohne Übertreibung von einer Sucht reden kann. Süchte sind durch das gesundheitsschädliche Verlangen nach «immer mehr» gekennzeichnet und durch die Entzugserscheinungen nach dem Absetzen der Droge.
Die anderen, die «wohlmeinenden» Wurzeln des Wohlfahrtsstaates sind vielleicht die gefährlicheren. Die eine geht von einer temporären Schutz- und Führungsbedürftigkeit einer Mehrheit von Menschen aus, die man schrittweise – durch positive Massnahmen, Hilfeleistungen und Unterstützungen – von Staates wegen in einen Zustand grösserer Freiheit führen möchte. Diese «emanzipatorische» Spielart des Wohlfahrtsstaates, ist unglaublich attraktiv, weil sie im Gewande der Freiheitsfreundlichkeit daherkommt. Theoretisch müsste sie auf eine schrittweise Selbstaufhebung und auf eine dauernde Verkleinerung des Hilfs- und Förderungs- Apparats tendieren.
Praktisch werden aber die real existierenden Misserfolge dieser «sanften Gängelung» in Richtung Freiheit dadurch kompensiert, dass man einfach sagt, es sei noch zu wenig des Guten getan, um die tatsächliche Wende hin zu einer wirklich freien und selbstverantwortlichen Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern herbeizuführen. Diese Taktik des dauernden Vertröstens und Hinausschiebens kennen wir auch aus der jüngsten Geschichte der sozialistischen Praxis. Sie musste in ihrer totalitären Ausprägung ohne innenpolitischen Gegner auskommen. Der wohlfahrtsstaatliche Etatismus (praktiziert von Sozialisten aller Parteien!) hat es in pluralistischen Systemen besser als der Sozialismus im Einparteienstaat. Er kann das Ausbleiben von Erfolgen oder das Unbezahlbarwerden seiner Rezepte – wenigstens zum Teil – dem politischen Gegner anlasten, der gerade am Ruder ist oder der als Opposition den geplanten wohlfahrtsstaatlichen Endausbau vereitelt oder verzögert.
Die dritte «gutgemeinte Wurzel» beruht auf der Theorie des Marktversagens im Bereich der Arbeit. Sie wird von den Motiven her als «sozial» als «im Interesse der Arbeitnehmer» verkauft, dient aber bei genauerem Hinsehen in erster Linie den industriellen Arbeitgebern. Der Wohlfahrtsstaat ist auch so etwas wie ein politisch abgesegnetes Kartell der Industrie, welches – unter dem Vorwand des Arbeitnehmerschutzes – jenen Teil des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt neutralisiert, der sich im Lohn- und Rentenbereich vor allem bei Arbeitskräftemangel zugunsten der Arbeitnehmer auswirken würde. Zu einem gewissen Grad profitieren die Arbeitgeber von der Verwandlung des Arbeiters von einem oft aufsässigen, eigenständigen, individuellen Vertragspartner zu einem gefügigen, kollektiv disziplinierten Gewerkschafter und Sozialdemokraten und zu einem abhängigen «Benützer», bzw. «Kunden» oder «Untertanen» des Wohlfahrtsstaates. Zahnrädchen hier in der Fabrik, Zahnrädchen dort in der sozialen Versorgungsmaschinerie, beides aufeinander kollektiv abgestimmt und politisch abgesegnet.
In jeder Menschengruppe gibt es eine «Normalverteilung» von «gut» und «böse» und – ich gehe noch weiter – die Verteilung hört beim Individuum nicht auf. In jedem Menschen ist beides angelegt, nur ist es nicht angeschrieben, nicht etikettiert. In keinem menschlichen Bereich ist die Gefahr so gross wie in der Politik, dass man es gut meint, aber letztlich mittel- und langfristig das Gegenteil bewirkt. Politik ist geradezu das Tummelfeld des Gut-Gemeinten, und leider haben die Gutmeinenden immer eine grosse Anhängerschaft und ein überdimensioniertes Echo in den elektronischen Medien.
Etatisten gegen «Sozialisten»
Die Politik arbeitet gern mit dem Entweder-oder-Schema. Wer auf dieses Schema einsteigt, gelangt schnell einmal zu überraschenden Aussagen. Gehen wir einmal davon aus, es gebe in der politischen Philosophie zwei Grundoptionen. Auf der einen Seite stehen jene, welche den Staat als entscheidende Problemlösungsinstanz ansehen. Angehörige dieser Gruppe müsste man als Staatsgläubige zweckmässigerweise als «Etatisten» bezeichnen.
Auf der anderen Seite stehen jene, welche die gemeinsame Lösung gemeinsamer Probleme im Rahmen der Zivilgesellschaft, in der Societas, bevorzugen. Konsequenterweise müsste man diese Gruppe der Gesellschaftsgläubigen «Sozialisten» nennen, wobei die Zivilgesellschaft auf einem Netz von Traditionen und freiwilligen Vereinbarungen beruht und nicht auf staatlichem Zwang. Die Bezeichnung «sozialistisch» ist aber heute durch die mehrheitlich staatsgläubigen Parteien «besetzt». Der zur Gemeinschaft zwingende Wohlfahrtsstaat ist eine Veranstaltung der staatsgläubigen Etatisten, die es allerdings in allen Parteien gab und gibt. Die alten Römer kannten drei Stufen der Vergesellschaftung: pax – amicitia – societas, Friede – Freundschaft – Gesellschaft, eine sehr tiefsinnige und auch realistische Dreierformel. Sie ist als politisches Programm dem revolutionären Dreigespann «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» der Französischen Revolution haushoch überlegen. Obwohl der Slogan seinerzeit zunächst zur Terrorherrschaft der egalitär-doktrinären Jakobiner und schliesslich zur etatistisch-aggressiven Autokratie von Napoleon Bonaparte führte, bildet er noch immer jenen ideologischen Mix, nach welchem die politischen Parteien ihre Positionierung und gegenseitige Abgrenzung vornehmen. Die einen fordern etwas mehr Freiheit, die andern etwas mehr Gleichheit, und alle etwas mehr Brüderlichkeit, bzw. Schwesterlichkeit. Kein Wunder, dass auf dieser Grundlage wenig Konstruktives, Zukunftsträchtiges entsteht.
Eine weitere Gegenüberstellung der schrecklichen Vereinfacher betrifft Individualisten und Kommunitaristen. Auch bei dieser Gegenüberstellung zeigt sich, dass die hier vertretenen Auffassungen, wenn man auf den ursprünglichen Wortsinn abstellt, eher kommunitaristisch als individualistisch sind. Es gibt allerdings zwei grundlegend verschiedene Spielarten des Kommunitarismus, den etatistischen und den vertragsgemeinschaftlichen. Ein staatsskeptischer Kommunitarist möchte sich allerdings jene Gemeinschaft, in der er sich wohlfühlt, mindestens teilweise, selbst aussuchen. Bei dieser Sichtweise kann man sich sogar auf eine Aussage des liberalen Klassikers Ludwig von Mises stützen, der betont hat, die ökonomische Freiheit bestehe nicht darin, sich sozial nicht zu integrieren, sie versetze vielmehr das Individuum in die Lage «to choose the way in which he wants to integrate himself into the totality of society», d.h. den Weg zu wählen, auf dem es sich in die Gesamtheit der Gesellschaft integrieren wolle.
Die grosse Trennlinie geht nicht zwischen Individuum und Gemeinschaft, Individualisten und Kommunitaristen, sondern zwischen Anhängern des Zwangs und Anhängern der Freiwilligkeit. Gemeinschaft ist etwas Gutes, Überlebenswichtiges, aber sie lässt sich nicht auf Zwang aufbauen, sondern braucht den freiwilligen Konsens.
Konsens, mit der Betonung auf sens, ist ein Begriff aus der Vertragslehre. Er bezieht sich nicht etwa auf gemeinsames Wissen sondern auf gemeinsames Wahrnehmen und hat etwas durchaus Sinnliches. Ich habe überhaupt nichts gegen Individualisten. Aber mit lauter Leuten, die zu allem und jedem sagen «sorry, das ist nicht mein Problem», kann eine arbeitsteilige Zivilgesellschaft nicht überleben. Wenn z.B. Eltern pflegebedürftig werden, wenn Kinder studieren wollen, wenn die Ehefrau berufstätig sein will und während ihrer berufsbedingten Abwesenheit die Kinder betreut haben möchte, so gehört das primär einmal in ein persönliches, in eigener Regie geführtes Pflichtenheft und nicht auf die politische Traktandenliste für ein Angebot an zusätzlichen staatlichen und zwangsfinanzierten Dienstleistungen. Arbeitsteilung sollte in einer Zivilgesellschaft auf massgeschneiderten Vereinbarungen beruhen und nicht auf konfektioniertem Zwang.
Warum sollen andere, den Beteiligten und Betroffenen unbekannte Menschen dazu gezwungen werden, die Lösung solcher Probleme zu finanzieren? Ja, man kann noch weiter gehen. Selbst wenn eine Mehrheit dafür ist, einen solchen Zwang einzuführen, warum sollen Minderheiten, die aus irgendwelchen Gründen völlig andere Prioritäten haben, gezwungen werden, sich hier fremdbestimmen zu lassen? Selbstbestimmung geht vor Mitbestimmung, denn für alle Individuen, welche nicht in das Schema von Mehrheiten passen, bedeutet das Mehrheitsprinzip Fremdbestimmung. «Volkes Stimme» ist nicht immer «Gottes Stimme». Die Volksmehrheit hat nicht automatisch immer Recht, die Mehrheit darf nicht alles. Auch demokratisch legitimierte Herrschaft muss, wenn sie ins persönliche Leben und ins Eigentum eingreift, beschränkt sein.
Vom Sinn und Unsinn der Umverteilung
Wer eine populäre Institution kritisiert, darf es sich nicht zu einfach machen. Der Wohlfahrtsstaat hat gewisse Vorzüge, die unbestritten sind und die seine Popularität stützen. Er basiert auf der Idee der Umverteilung. Umverteilen heisst «den Reichen das, was sie zu viel haben, über Steuern und Abgaben wegnehmen und diese Mittel den Bedürftigen, die zu wenig haben, zukommen lassen». Das ist unheimlich populär und leuchtet in dieser Form einer ganz grossen Mehrheit unmittelbar, vielleicht zu unmittelbar ein. Was «zu viel» ist und was «zu wenig», bleibt kontrovers. In einer Demokratie entscheidet darüber die Mehrheit.
Und bei diesem Mechanismus zeigt sich der fatale Systemfehler der Umverteilung und des darauf abgestützten Wohlfahrtsstaats. Jene Gruppe, die glaubt, «zu wenig» zu haben, die potentiellen Empfänger, kann die potentiellen Zwangsspender überstimmen und zwar bis über jene Grenze hinaus, wo die umverteilten Mittel eben andernorts fehlen. Meistens ist dies ausgerechnet bei jenen Investitionen der Fall, die eine künftig prosperierende Wirtschaft für ihre Weiterentwicklung braucht, bzw. brauchen würde. Dahinter steht nicht der «böse Wille» von ein paar unbelehrbaren linken Intellektuellen. Es ist der Mechanismus der Demokratie im Sinne des Mehrheitsprinzips selbst, welcher uns in diese Falle lockt.
Das macht die Problemlösungen nicht einfacher, aber es verbietet ein parteipolitisches Schwarzpeterspiel bei der Zuweisung der Verantwortung. Es sind nicht die Linken, es sind nicht die Sozialisten und Sozialdemokraten, welche den Wohlfahrtsstaat wollten und wollen, es waren und sind wir alle, und darum fällt der Abbau und der Abschied so schwer. Aber irgendjemand muss den Mut haben, darüber offen zu reden und jene Schelte auf sich zu nehmen, die jeweils darin kulminieret, Leute, die den Wohlfahrtsstaat in Frage stellen, seien nicht «sozial» und hätten eben kein Herz für die Bedürftigen und die Benachteiligten.
Aber was heisst denn «sozial»? Es ist den etatistischen Sozialisten und Sozialdemokraten weltweit gelungen, den Begriff «sozial» direkt mit ihrem Gedankengut in Verbindung zu bringen. Das ist eine höchst beachtliche Leistung im Kampf um die Besetzung der Begriffe.
Armut wird «gemacht»
Viele Bürgerliche und Liberale verbinden ihr Bekenntnis mit einem schlechten Gewissen und betonen, gleichsam entschuldigend, sie seien zwar liberal, aber trotzdem auch noch sozial. Man fragt sich, was denn hier in der Ideengeschichte und in der Geschichte der Begriffsmanipulation geschehen ist, dass kaum mehr jemand den Mut hat zu sagen, dass Sozialismus – in allen etatistischen Spielarten – letztlich in seinen Auswirkungen asozial sei, weil er den kontinuierlichen Zuwachs an Produktivität hemme oder vereitle und damit die einzige Basis einer wirksamen und nachhaltigen Armutsbekämpfung unterminiere.
Es geht nämlich nicht darum, weltweit die Armut zu bekämpfen, vielmehr gilt es, jene Ideologien zu entlarven, welche das schrittweise Verschwinden der Armut vereiteln oder verzögern. Wie «Dummheit» ist auch «Armut» von jenen mitzuverantworten, welche spontane «Entdummung» und «Entarmung» mit ihren gut gemeinten bevormundenden politischen oder religiös fundierten Zwangsprogrammen verzögern und vereiteln. Armut findet nicht einfach statt, sondern ist die Folge einer auf Zwang basierenden Gesellschaftsordnung. Eigentlich ist auch der Begriff «Armutsbekämpfung» fragwürdig.
Es wäre einfach, wenn das «Problem Wohlfahrtsstaat» auf die Frage nach dem Mass reduziert werden könnte. Die Überforderung, die heute Tatsache ist, beruht auf der Tatsache, dass mehr versprochen wird, als gehalten werden kann. Konsequenterweise nehmen die Schwierigkeiten stets zu. Man versucht, immer waghalsiger zu improvisieren und verschleiert dabei die Tatsachen und die grösseren Zusammenhänge.
Wer behauptet, wir befänden uns derzeit aufgrund einer Wachstumsschwäche leider auf der Schattenseite des Wohlfahrtsstaats und es gelte nun einfach, den Weg zurück auf die Sonnenseite zu finden, irrt sich. Das «System Wohlfahrtsstaat» das auf Umverteilung beruht, ist insgesamt untauglich. Wird die Umverteilung so definiert, dass man den Wohlhabenderen etwas wegnimmt, um damit die Ärmeren zu begünstigen, dann findet dieser Grundsatz in der Regel breite Zustimmung. Trifft man die Definition allerdings so, dass man den Fleissigen etwas wegnimmt und die Fauleren damit begünstigt – was nachweisbar in manchen Fällen zutrifft -, dann nimmt die Zustimmung bereits deutlich ab. Dabei ist klar, dass die Behauptung, jeder Reiche sei tüchtig und jeder Arme faul, ebenfalls unzutreffend ist und in vielen Fällen sogar verletzend. Dass es, über längere Zeiträume hinweg, in einer offenen Leistungsgesellschaft einen Zusammenhang zwischen Reichtum und Tüchtigkeit gibt, lässt sich allerdings nicht bestreiten.
Sozialismus ist asozial
Der Umverteilungsapparat besteht nicht nur aus jenen, denen weggenommen wird und jenen, die erhalten. Es gibt dazwischen den Riesenapparat der Umverteiler – die Politik, die Verwaltung. Und dieser Umverteilungsapparat arbeitet alles andere als unentgeltlich. Im Gegenteil: In diesem Apparat versickert ausserordentlich viel Geld. Damit wird die Effizienz des ganzen Prozesses untergraben. Es gibt Beispiele – zu erwähnen wäre Indien – wo die Umverteilung zur Hauptsache von den Reichen zu den Umverteilern geht. Die wirklich Armen erhalten überhaupt nichts mehr. So weit sind wir in der Schweiz noch nicht. Aber diese Form der Degeneration ist jedem Umverteilungsapparat immanent. Man gibt vor, noch genauer, noch feiner, noch präziser umverteilen zu wollen – und baut in Wahrheit lediglich den Umverteilungsapparat immer personalintensiver aus. Schliesslich speist das, was abgeschöpft wird, nur noch den Apparat. Ist diese Entwicklung einmal im Gange, dann helfen kleinere Korrekturen nicht mehr. Dann ist ein Systemwechsel unumgänglich.
Sozialismus in Verbindung mit Etatismus ist nicht sozial. Gegen einen freiwillig und mit eigenen Mitteln praktizierten Sozialismus, jenen Sozialismus im ursprünglichsten Wortsinn, ist überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Möglicherweise sind aber gerade jene Menschen «sozial», die unabhängig von der Beliebtheitskurve auf Probleme hinweisen, die Mehrheiten nicht hören wollen und nicht jene, welche nicht aufhören, den Leuten vorzugaukeln, man könne in aller Ruhe so weiter machen, und irgendjemand werde das alles irgendeinmal bezahlen können. «Peace for our time» und «après nous le déluge” sind keine sozialen Strategien der Zukunftsbewältigung.
Wer glaubt, die finanziellen Probleme des Wohlfahrtsstaats durch ein zusätzliches Anziehen der Steuerschraube lösen zu können, täuscht sich und andere, ganz unabhängig davon, welche parteipolitische Richtung er vertritt. Es geht hier nicht mehr um eine gesinnungsethische Frage des politischen Wollens, sondern um die verantwortungsethische Frage, welche Folgen man auslöst, bzw. in Kauf nimmt. Wer nämlich mehr Steuern erheben will, läuft schnell einmal Gefahr, letztlich weniger Produktivität zu generieren und damit auch weniger Staatseinnahmen.
Vereinzelung als Folge und nicht als Ursache
Führende Soziologen konstatieren in der modernen oder postmodernen Gesellschaft eine Abnahme des Gemeinschaftsgefühls und eine Zunahme des rücksichtslosen Egoismus. Man ist schnell bereit, diesen Prozess dem «Neoliberalismus» anzulasten. Aus dieser Sicht sind es die bösen Anhänger des Marktes, die «Marktisten», die nur noch in Geld und Profit rechnen können, welche diese traurige Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen bewirken.
Der Wohlfahrtsstaat, so wird behauptet, ist bei dieser Diagnose einfach die Therapie, der Lückenbüsser, welcher angesichts des Abbaus der Fürsorglichkeit immer notwendiger wird. Tatsächlich gibt es diese bedauerlichen Prozesse der egoistischen Individualisierung und der «Versingelung», aber die Ursachen liegen nicht beim Markt, sondern bei den «gut gemeinten» Zwangs- und Korrekturmassnahmen. Es ist letztlich der Staat, der Lückenbüsser selbst, welcher das fatale Grösserwerden der «sozialen Lücke» bewirkt.
Der bissig-zeitkritische österreichische Publizist Karl Kraus hat in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts über die damals modische Psychoanalyse folgendes gesagt: «Die Psychoanalyse ist selbst die Krankheit, für deren Heilung sie sich hält.» Dasselbe gilt für den Wohlfahrtsstaat. Der Wohlfahrtsstaat ist selbst die Krankheit, für deren Heilung man ihn hält. Er führt zu noch mehr Vereinzelung, zu noch mehr Delegation von Mitmenschlichkeit an Ämter, von Sympathie an Funktionäre, er führt insgesamt zu einer Verschlechterung des ganzen subtilen Netzwerks an Dienstleistungen familiärer, nachbarschaftlicher, caritativer und – nicht zuletzt – auch kommerzieller Art.
Entgeltliche Dienstleistungen als Ergänzung der Freiwilligenarbeit
Entgeltliche Dienstleistungen werden in Zukunft vermehrt an die Stelle jener wohlfahrtsstaatlicher Gratisversorgung treten, die natürlich keinesfalls gratis ist, sondern immer teurer und z.T. auch immer schlechter wird. Und wie steht es denn mit dem «dritten Weg», mit der Freiwilligenarbeit. Gibt es einen Weg zurück zur Caritas und zur privaten und kirchlichen Wohltätigkeit? Man kann Probleme durch die nostalgische Rückkehr zu vergangenen Zeiten nicht lösen. Gerade wer wertkonservativ denkt und fühlt, muss gegenüber dem schrittweisen Wandel offen sein, auch wenn dieser schmerzt. Befürworter der sogenannten Freiwilligenarbeit, die sich auch im Sozialbereich persönlich engagieren, haben heute grosse Mühe, geeignete Nachfolger bzw. Nachfolgerinnen zu finden. Man hält es offensichtlich für normal, dass auch soziale Dienstleistungen nicht unentgeltlich sind. Auch viele soziale Aufgaben stehen nicht mehr ausserhalb des Wirtschaftskreislaufs. Der Staat erlangt dadurch einen andern Stellenwert. Nach dem Subsidiaritätsprinzip hat er lediglich durch gezielte Subjekthilfe sicherzustellen, dass niemand auf lebenswichtige Dienstleistungen verzichten muss, weil er sie nicht bezahlen kann. In der kontinuierlichen Verbesserung und Verfeinerung sozialer Dienstleistungen auf privater Basis steckt meines Erachtens noch ein grosses, menschlich und wirtschaftlich attraktives Beschäftigungspotential. Das Industriezeitalter hat die Arbeit an der Maschine verherrlicht und die Dienstleistung am Mitmenschen herabgewürdigt.
Wodurch lässt sich der Wohlfahrtsstaat ersetzen? Und was könnte an seine Stelle treten? Es drängt sich auf, den Begriff der zivilen Dienstleistungsgesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Dienen, leisten und sparen, das sind die drei Säulen der Produktivität. «Dienen» nicht als Opfer, sondern als persönlich bestimmter Beitrag in einem wirtschaftlich selbsttragenden Netz der Arbeitsteilung. Für Leistungen, die etwas wert sind, kann auch etwas bezahlt werden – ohne Umweg über irgendwelche staatlichen Institutionen, Ämter und Funktionäre: Zug um Zug oder von Konto zu Konto. Daran ist überhaupt nichts Unmenschliches, Asoziales, und es macht durchaus Sinn, wenn beispielsweise auch Tony Blair, ein moderner Linkspolitiker, die Privatisierung des Sozialbereichs fordert.
Was ist denn überhaupt «das Soziale», und worin manifestiert es sich? Die entgeltliche Dienstleistung hat etwas eminent Soziales in sich, und zwar für alle Beteiligten und Betroffenen. Nehmt dem Menschen die Möglichkeit, etwas zu leisten und daran etwas zu verdienen – und sei es auch nur wenig – und ihr raubt ihm einen Teil seiner Würde!
Die von sogenannt fortschrittlichen Sozialwissenschaftern geforderte Zweidrittelsgesellschaft, in der nur eine Minderheit arbeitet und der Rest von der prognostizierten ungeheuren Produktivität dieser Arbeit einfach mit einer Rente abgespiesen wird, hat etwas Menschenverachtendes. Da kann man diese Rentner oder Bürgergeldbezüger noch so sehr von professionellen, wohlfahrtsstaatlich finanzierten Beschäftigungsspezialisten durch allerhand Sozial- und Kulturprogramme, d.h. mit Brot und Spielen, bei guter Laune halten, das Selbstwertgefühl, das entgeltliche Tätigkeit vermittelt, kann dadurch nie ersetzt werden. Man gewinnt damit lediglich das Heer der Klienten, welche diesem ökonomischen und sozialen Unsinn über das «Primat der Politik» den Heiligenschein der Gerechtigkeit verleihen.
Mut zur Eigenständigkeit, Mut zum Dienen
Bleibt es dabei? Ist das alles? Gibt es in einer kommerzialisierten Dienstleistungsgesellschaft nichts mehr, was «Jenseits von Angebot und Nachfrage» liegt? Ich meine doch. In jeder Gruppe gibt es Menschen, die aus ihrem Leben mehr machen wollen, als ein blosses materielles Tauschgeschäft. Die Bereitschaft beim Diensteleisten über das hinauszugehen, was finanziell entgolten wird, ist noch nicht ausgestorben. Aber wir müssen ihr Sorge tragen. Vernünftigerweise kann man sie letztlich nicht von allen Menschen verlangen.
Der Grundsatz, «Ich bin sozial, wenn ich niemandem zur Last falle», ist realistischer, und wenn er allgemein beherzigt würde, würde die Sozialpolitik massiv entlastet. Diese Art von Egoismus, basierend auf dem ärztlichen Grundsatz «in erster Linie nicht schaden», ist die Basis jeder funktionierenden Gesellschaft. Zusätzliche Nützlichkeit, zusätzliche Dienstleistungsbereitschaft muss freiwillig sein, wenn man will, dass sie bleibt und wächst. Es gilt nicht nur der Satz «Angst essen Seele auf» (Rainer Werner Fassbinder), es gilt analog dazu, der andere Satz «Zwang essen Freiwilligkeit auf».
Wenn die Fragen «Wie viel Wohlfahrtsstaat?»und «Wie viel freiwillige Hilfsbereitschaft, Sympathie und Fürsorglichkeit?» und «Wie viel kommerzielle, benützerfinanzierte Dienstleistung?» eine einfache Additions- und Subtraktionsrechnung wären, so wäre die provokative These im Titel dieser Schrift schlicht falsch. Man könnte dann einfach die Lücke zwischen dem, was Markt und Mitmenschlichkeit an gemeinsamer Wohlfahrt produzieren und dem was an echter Not doch noch übrig bleibt, durch staatliche Dienstleistungen überbrücken.
Aber dem ist leider nicht so. Das sogenannte «Einspringen» des Wohlfahrtsstaats bewirkt mindestens zweierlei. Das Anziehen der Steuerschraube und speziell der Progression vermindert den Anreiz zum privaten Engagement. Das sogenannte «Gratisangebot» macht soziale Eigenleistungen im kleinen Netz überflüssig und lässt die Bereitschaft, Notsituationen frühzeitig zu erkennen, verkümmern. Zudem verhindert es das Entstehen von entgeltlichen benützerfinanzierten und damit auch benützerorientierten Dienstleistungen, weil sie sich gegenüber den hoch subventionierten Angeboten schlicht nicht durchsetzen können.
Warum muss beispielsweise ein Mahlzeitendienst gratis bzw. durch Staatsmittel verbilligt sein, wenn doch die Mehrheit der alten Menschen, welche ihn beanspruchen, nachgewiesenermassen nicht zu den Bedürftigen gehört. Die Behauptung «alt gleich arm» trifft für die Schweiz nicht zu. Sehr vieles von dem, was die Alten finanziell entlastet, schont letztlich nur das Erbe, das damit seine Funktion als Manövriermasse für Not- und Wechselfälle verliert.
Etatisten sehen darin einen Grund, den Wohlfahrtsstaat via Erbschaftssteuern als Ausgleichsbecken zu installieren, am liebsten gleich auf nationaler oder gar internationaler Ebene. Aber was passiert dann? Die Bereitschaft und die Fähigkeit, eine finanzielle Lebensplanung auch über die Generationen hinweg über eine staatsunabhängige Notreserve sicherzustellen, wird zum Verschwinden gebracht und damit verschwindet auch ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur, in welcher die Familie stets auch eine wirtschaftliche Einheit gewesen ist.
Das Wirtschaftliche ist allerdings auch in der Familie nicht das Zentrale, aber die Ausschaltung wirtschaftlicher Verknüpfungen beeinträchtigt auch die sozialen und kulturellen Bande. Es verschwindet mit dem Wegsteuern des Familienerbes und dessen Ersatz durch den anonymen Generationenvertrag in der Sozialversicherung auch ein Teil jener Fähigkeit zur Selbstvorsorge, welche zur Mündigkeit, zur Eigenständigkeit und zur Würde des Menschen gehört und auch aus liberaler Sicht nicht grundsätzlich und vollumfänglich abzulehnen ist.
«Ja» zur subsidiären Sozialpolitik
Es gilt zwar der Grundsatz, den man nicht genug wiederholen kann: In erster Linie bin ich dadurch sozial, dass ich niemandem zur Last falle. Niemandem schaden! Genügt das? Nein, aber es bringt schon sehr viel. Und es ist die einzige taugliche Alternative zum gefährlich attraktiven Satz: «Es müssen alle allen helfen und es müssen alle mit allen solidarisch sein.» Dies führt zuletzt zur unerfüllbaren und paradoxen Forderung «alles für alle», zur totalen Frustration in einer Spirale der Begehrlichkeiten. Der Wohlfahrtsstaat wird zu jener Einrichtung, die für alle sorgt, ausser für den Steuerzahler, der die zunehmenden Kosten nicht mehr bezahlen kann.
Es gibt in jeder Gesellschaft Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Probleme eigenständig zu lösen und die auch niemanden haben, der sich um sie kümmert. Diese Menschen sollen auch von der politischen Gemeinschaft nicht im Stich gelassen werden. Für diese Menschen müssen wir, personenbezogen, ein Auffangnetz spannen, zunächst privat, aber subsidiär auch im Gemeinwesen. Wir müssen den wirklich Bedürftigen unbürokratisch und auch nicht zu geizig helfen. Hilfe soll in Form einer «Ergänzung» geleistet werden. Darum ist der in der Schweiz gebräuchliche Begriff «Ergänzungsleistung» auch ein guter Anknüpfungspunkt für eine Reform. Man geht zu recht davon aus, dass «Ganzheit» und «Eigenständigkeit» miteinander zusammenhängen.
Ergänzungsleistungen werden nur ausgerichtet, wenn der positive Beweis der Bedürftigkeit erbracht wird. Diese Voraussetzung ist aber eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Auch bei der Invalidität ist es selbstverständlich, dass ein Invalider seinen Invaliditätsgrad ärztlich attestieren muss, wenn er eine Rente bekommen will. Es ist vielmehr eine Zumutung an die Gemeinschaft der Beitragsund Steuerzahler, wenn in einem Staat beispielsweise ein Buschauffeur eine Blindenrente bezieht, wie dies in Neapel vorgekommen sein soll.
Ein Bedürftigkeitsnachweis ist keine Demütigung und auch kein «Spiessrutenlaufen», und wenn es im Einzelfall dazu kommt, dann muss gegen solche Missbräuche von Funktionärsmacht energisch eingeschritten werden. Die soziale Hilfe im Sinn der Ergänzungsleistung, der «Hilfe zur Selbsthilfe» muss an Personen gehen, und nicht an Institutionen. Sie sollen dadurch in die Lage versetzt werden, jene Dienstleistungen zu konsumieren, die zu einem normalen Leben gehören. Bei der Produktion der Dienstleistungen braucht es – auch im Gesundheits- und Erziehungswesen – Konkurrenz. Gerade weil die beiden Bereiche Schlüsselbereiche sind, dürfen dort Leistungen nicht monopolistisch angeboten werden. Es ist nicht einfach, die Grenzen des Bedürftigkeitsnachweises richtig zu ziehen. Darum muss die Sozialpolitik auf jener Stufe angesiedelt werden, auf der sich die Menschen persönlich kennen, im kommunalen Bereich, bzw. auf Quartierebene.
Kein Sozialabbau, eine Entziehungskur!
Die hier skizzierten Lösungsvorschläge sind natürlich noch zu wenig konkret und zu wenig ausgereift. Aber sie zeigen, dass wir nicht zu resignieren brauchen. Es gibt einen Ausstieg aus der Sucht des Wohlfahrtsstaates. Die Bezeichnung «Sozialabbau» ist polemisch und falsch. Es geht nicht um eine Rückkehr zu überholten Verhaltensmustern, sondern um den Aufbruch zu neuen Lösungen: private und darum nachhaltig tragfähige soziale Netze. Diese Umstellung und Neuorientierung ist, wie jede Entziehungskur, kein Sonntagsspaziergang, und dies gilt ganz besonders in einer direkten Demokratie, in der ohne eine überzeugte Mehrheit nichts läuft.
Es gibt keine Patentlösung für die sozialen Probleme der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Auch ist das hier skizzierte System der Subjekthilfe und Subjektförderung nicht vor Irrtümern und Fehlentwicklungen gefeit. Je weniger zentral es ist, desto mehr kann man aus Fehlern und Irrtümern lernen. Es geht in der Politik und auch im Alltagsleben nicht darum, keine Fehler zu machen, es geht darum, die Lernfähigkeit und damit einen wesentlichen Bestandteil der Mündigkeit zu erhalten und immer wieder neu zu erkämpfen.
Gefragt ist eine Strategie: Wie kommt man aus dem gegenwärtigen unerfreulichen Zustand in eine bessere Lage? Ich bin überzeugt, dass schrittweises Vorgehen besser und schmerzloser ist als das Warten auf einen grossen Zusammenbruch, selbst wenn die Wartezeit mit dem Sammeln von Rezepten verbracht wird, wie vorzugehen ist, wenn der Zusammenbruch einmal Tatsache wird.
Geordneter Rückzug aus der Sackgasse
Ein geordneter Rückzug aus der «Sackgasse Wohlfahrtsstaat» ist wahrscheinlich – zumindest in der Schweiz – noch möglich. Allerdings: Ein eigentliches «Zurück» gibt es in der gesellschaftlichen Entwicklung nicht. Der Vergleich mit einer Sackgasse ist zutreffend. Wir befinden uns tatsächlich in einer Sackgasse, und nicht einfach in einem Engpass. Es genügt nicht, mit etwas mehr «Power» den Engpass zu überwinden. Nötig ist eine eigentliche Umkehr, bzw. ein Aufbruch in eine andere Richtung. Zunächst sollte mit Zahlen und Fakten das Bewusstsein vermittelt werden, dass unsere Sozialversicherungen tatsächlich nicht nachhaltig finanzierbar sind. Die Einsicht muss sich durchsetzen, dass wir der Entwicklung nicht einfach freien Lauf lassen dürfen. Es braucht subtil erarbeitete, auch die Einzelheiten berücksichtigende Rezepte, wie der Weg aus der Sackgasse zu finden sei. Die Sozialversicherung kann nicht von oben nach unten saniert werden.
Mit dem Schlagwort, zunächst sei den Millionären keine Rente mehr auszurichten, um bei den Ausgaben zu sparen, beschreiten wir keine neuen Wege. Sobald sich diese Massnahme als ungenügend erweist, müsste man nämlich das ganze System gewissermassen von oben nach unten schrittweise aushöhlen und dabei eine zunehmend grössere Zahl von Leuten zurücklassen, die das ganze System gar nicht mehr mitzutragen bereit sind, denn jeder Ausgeschlossene würde versuchen, sich vom Mittragen zu befreien. Richtiger wäre es, einen neuen Konsens zu suchen bei der Beantwortung der Frage: Was soll beibehalten werden, weil es unverzichtbar ist? Argumentiert man von unten her, vom Not-wendigen im ursprünglichen Wortsinn, konzentriert man sich auf jene Gesichtspunkte, bei denen die Not von Menschen wirklich zum Ausdruck kommt, dann führt uns diese Anschauungsweise automatisch zum Konzept der Ergänzungsleistungen – selbst wenn dafür ein anderer Begriff verwendet wird.
Die Zahlen, die belegen, dass es im Bereich der Altersvorsorge im gleichen Stil nicht weitergeht, müssen ernst genommen werden. Mit Flickwerk und isolierten Einzelmassnahmen wird jede Reformpolitik Schiffbruch erleiden.
Eine Randbedingung ist dabei unbedingt zu beachten. Der Staat ist nicht nur unfähig, wirtschaftliche Aufgaben selbst zu lösen, er ist auch nicht in der Lage, soziale Probleme nachhaltig zu lösen. Der Staat kann weder ethische Werthaltungen und Verhaltensweisen garantieren, noch kann er religiöse Bekenntnisse und Lebenssinn vermitteln. Ohne ethisches Fundament bei jedem Einzelnen und ohne von der Wirtschaft erbrachte Voraussetzungen zur Unterstützung Notleidender sind soziale Probleme nicht lösbar. Der Staat kann nicht via Gesetzgebung von allen Menschen soziales Verhalten erzwingen. Die Ethik des gegenseitigen Helfens beruht immer auf Freiwilligkeit. Soziales Verhalten wird dort gefördert, wo eine freie Gesellschaft und eine freie Wirtschaft garantiert sind, welche freiwillige Verpflichtungen zur Linderung eingetretener Not und zur Vermeidung asozialer Entwicklungen übernehmen.