(Schweizer Monat – Editorial – Ausgabe 928 – Oktober 2003)
«Keine Experimente!» Mit diesem strukturkonservativen Motto führte Konrad Adenauer 1957 einen erfolgreichen Wahlkampf. Tatsächlich sind der Politik beim Ausprobieren verschiedener Lösungsmuster enge Grenzen gesetzt. In einer pluralistischen Demokratie kann keine Regierung einfach ein Modell nach dem anderen durchspielen, abwarten, beobachten und dann auswerten, was geschieht. Das subtile Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft wird nicht nur über die wirtschaftspolitischen Konzepte, sondern über das real existierende Steuer- und Rentensystem determiniert, und die Frage, welche Veränderungen in diesem Bereich kurz-, mittel- und langfristig welche Auswirkungen haben, wird auch unter Fachleuten sehr unterschiedlich beantwortet.
Die Warnung vor Experimenten aller Art ist gleichzeitig berechtigt und gefährlich. Sie übersieht, dass auch das, was sich in Politik und Wirtschaft gegenwärtig 1 : 1 abspielt, als offenes Experiment gedeutet werden kann, als ein Vorgang, der nur zum Teil bewusst veranstaltet wird und auf einem Gemisch von beabsichtigten Wirkungen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen, von Plänen, Zufällen und Irrtümern beruht. Experimente haben gegenüber allen Modellen den Vorteil, dass sie tatsächlich stattfinden und dass man durch sorgfältiges Beobachten, Messen, Vergleichen und Bewerten aus Fehlentwicklungen lernen kann. Modelle seien, wie Ernst Baltensberger in der Diskussion über «Ordnungspolitische Konzepte» in Zermatt bemerkte, immer auf Optimalbedingungen angewiesen und eigneten sich darum nicht zur Lösung konkreter Probleme.
Die Technik lässt sich definieren als «Experiment, das die Natur mit dem Menschen anstellt». Der «Homo sapiens» ist aus dieser satirischen Sicht nicht der Experimentator, sondern ein Bestandteil des Experiments. Analog dazu könnte man die Wirtschaftspolitik als das Experiment bezeichnen, das die Wirtschaft mit der Politik anstellt. Oder doch eher umgekehrt? Wer lässt denn wem welchen Spielraum? Eine definitive Aufschlüsselung aller wechselseitigen Einwirkungen gelingt wohl weder den Ökonomen noch den Politikwissenschaftern und Juristen, noch den zahlreichen Fachleuten, welche im Grenzbereich von Wirtschaft und Politik die täglich anfallenden Probleme bewältigen müssen. Es wäre auch verfehlt, die Abgrenzungen aufgrund mehr oder weniger berechtigter Vorwürfe des Versagens – nach dem Motto «Staatsversagen versus Marktversagen» – vorzunehmen. Sehr viel sogenanntes Marktversagen entpuppt sich bei genauerer Analyse als eine Altlast des Staatsversagens oder als die Folge einer unzweckmässigen oder unvollständigen Privatisierung. Die Suche nach Schuldigen und das Austeilen irgendwelcher Schelte führt bei der Lösung komplexer Probleme nicht weiter. Wer zu innovativen Lösungen kommen will, muss bereit sein, real ablaufende Experimente sorgfältig zu analysieren, zu vergleichen und daraus möglichst viel zu lernen.
Robert Nef
ist Publizist und Autor, Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft. Nef war von 1991 bis 2008 Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte». Er lebt als freier Publizist in St. Gallen.
Quelle: https://schweizermonat.ch/von-modellen-zu-experimenten/