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«Wir wüssten, was zu tun wäre»

Lesedauer: 3 Minuten

(NZZ – WIRTSCHAFT – Montag, 1. September 2003, Nr. 201, Seite 16)

Von Killerargumenten und anderen Reformblockaden

Von Robert Nef*

Ein alle zwei Jahre in Zermatt durchgeführtes Symposium hat Gelegenheit für ordnungspolitische Debatten geboten. Sie zeigten, dass es in der Schweiz, in Deutschland und in der EU am politischen Willen fehlt, etwas als richtig Erkanntes umzusetzen.

Seit 20 Jahren veranstaltet das Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig alle zwei Jahre in Zermatt ein Symposium, an dem Wissenschafter und Praktiker aus der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz einen interdisziplinären Austausch pflegen. Dass die Gespräche jeden Tag in einem andern Bergrestaurant stattfinden, verleiht dem Treffen einen besonderen Charakter. Das diesjährige, gemeinsam mit Avenir Suisse durchgeführte Symposium widmete sich unter der Leitung von Rolf Hasse (Leipzig) dem Thema «Ordnungspolitische Konzepte im Vergleich». Neben Deutschland und der Schweiz wurde dabei auch die EU ins Visier gerückt.

Absage an die Harmonisierungswut

Alexander Schaub, EU-Generaldirektor für den Binnenmarkt, machte in seinem Referat auf das Phänomen aufmerksam, dass Marktwirtschaft und Wettbewerb europaweit und weltweit noch nie so weitgehend akzeptiert gewesen seien, dass ihre Durchsetzung dennoch auf hartnäckigen Widerstand stosse. In einem aus zivilisatorisch-technologischen Gründen zunehmend vernetzten Europa gebe es bei unterschiedlichen Regeln ein Konfliktpotenzial, das allein mit Harmonisierung nicht zu bewältigen sei. Harmonisierungswut sei daher durch einen Regulierungsdialog zu ersetzen, der Konflikte durch eine Annäherung der Regeln vermeidbar mache. Die Zauberformel heisst «Äquivalenz statt Gleichheit, Konvergenz statt Harmonie».

Aymo Brunetti (Seco) analysierte die Wachstumsschwäche der «Hochpreisinsel Schweiz». Eine alternde Bevölkerung brauche dringend – auch bei der Arbeit – ein Produktivitätswachstum, und die Forderung nach mehr Wettbewerb werde daher zur Existenzfrage. Während sich der mangelnde Wettbewerb in der Schweiz vor allem auf dem Produktemarkt manifestiere, leide Deutschland an einem überregulierten Arbeitsmarkt. Dieser Kernbereich kann allerdings von den EU-Wettbewerbsbehörden aufgrund der geltenden Verträge nicht thematisiert werden.

Der Föderalismus manifestiert sich in Deutschland, der Schweiz und der EU in verschiedenen Spielarten und mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen. Joachim Starbatty (Tübingen) kritisierte den Verfassungsentwurf des Konvents wegen seiner Föderalismus-Defizite und bezeichnete das Subsidiaritätsprinzip als «Leerformel». Der Befund blieb in der Diskussion ebenso heftig umstritten wie seine Forderung, der Entwurf sollte mindestens in Teilen in den nationalen Parlamenten «aufgeschnürt» werden können. Zumal wenn man die EU künftig als Bundesstaat deutet und nicht als Staatenbund, dürfte tatsächlich nur die Alternative pauschale Zustimmung oder Ablehnung übrig bleiben. Auf die theoretische Ebene ordnungspolitischer Konzepte entführte Wolf Schäfer (Universität der Bundeswehr, Hamburg). Er postulierte ein neues, auf einem Austauschverhältnis zwischen Bürgern und Behörden beruhendes Staatsverständnis sowie einen Übergang vom Steuerstaat zum Gebührenstaat.

Hoher Preis für Schengen

Eine bis ins – entscheidende – Detailgehende Analyse des Standes der Verhandlungen über die Zinsbesteuerungsabkommen zwischen der EU und den europäischen Nichtmitgliedern durch Ulrich Trautmann (für die EU) und Alois Ochsner (für die Schweiz) zeigte, dass der Beitritt der Schweiz zu «Schengen» nur um den Preis zu haben wäre, dass die Schweiz ihre für das Bankgeheimnis wichtige Unterscheidung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung fallen liesse bzw. sich einem diesbezüglichen Informationsaustausch nicht widersetzte.

Bernd Raffelhüschen (Freiburg i. Br.) informierte über die Vorschläge der Rürup-Kommission zur Reform des deutschen Sozialstaats. Er zeigte, wie dramatisch der Reformdruck von Fachleuten gesehen wird, welche die nächste Generation davor bewahren wollen, mehr als 60% ihres Einkommens in die sozialstaatlichen Institutionen zwangsinvestieren zu müssen. Die Frage «Warum tun wir so wenig, obwohl wir wissen, was richtig wäre?» beantwortete Thomas Straubhaar (Hamburg) mit einem kommentierten Katalog von Mitteln gegen die Reformblockade, der demnächst bei Avenir Suisse erscheinen wird.

In vielen Beiträgen zeigte sich, dass der Prozess der Deregulierung in einem Rechtsstaat selbst regulierungsbedürftig ist und dass ein unreflektiertes Vorgehen zu Pannen führen kann, welche die Akzeptanz der Privatisierung als Ganzes gefährden. Das vielbenutzte Schlagwort «Service public» (in Deutschland: «Daseinsvorsorge») hat gemäss Wernhard Möschel (Tübingen) dort seine Berechtigung, wo ein Marktversagen subsidiäre Massnahmen der Politik nötig macht. Dies sei allerdings viel seltener der Fall, als von Strukturkonservativen in allen bestehenden Institutionen gerne – als Killerargument – behauptet werde.


* Der Autor ist Herausgeber und Redaktor der «Schweizer Monatshefte» und Leiter des Liberalen Instituts in Zürich.

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