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Igel oder Nomade?

Lesedauer: 5 Minuten

(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung – Ansichten – 8. Juni 2003 – Seite 11)

Der Mythos vom freien Hauseigentümer verblaßt: Mieten ist moderner und paßt besser zur liberalen Vertrags- und Vertrauensgesellschaft

VON ROBERT NEF

Vor einiger Zeit strahlten deutsche Fernsehsender einen höchst eindrucksvollen Werbespot einer Bausparkasse aus. Der kleine Film zeigte eine winterliche Szene: In karger Landschaft stapft ein Mann einsam durch den Schnee – auf ein Haus zu, aus dessen Fenster ein heimelig-warmes Licht strahlt. Der Mann nimmt die Holzstufen und tritt – vermutlich als der Pater familias ein willkommener Gast – in das Innere des kleinen Hauses. Dazu ist, in ehernem Ton vorgetragen, der Satz zu hören:„Ein Haus zu bauen liegt in der Natur des Menschen. Miete zahlen nicht.“ Die Botschaft leuchtet unmittelbar ein, so glasklar, daß es dem mietegewohnten Menschen wie Schuppen von den Augen fallen muß:W ie konnte man nur so dumm sein, derart aus der Art zu schlagen und das anthropologische Gesetz zu verletzen, das den Menschen als haus- und heimbauendes Wesen bestimmt? Ich glaube indes, daß diese Evidenz scheinhaft ist und der Mieter keine Verfallsform der Spezies darstellt – im Gegenteil.

Es stimmt, Eigentum macht frei. Doch es macht auch abhängig von all jenen Institutionen, die für dessen kollektiven und individuellen Schutz eine hierarchische und zentralisierte Organisation schaffen und Steuern einziehen. Die Vorstellung, daß die Idee der persönlichen Freiheit aus dem Geist des Grundeigentums geboren worden sei, hat kulturhistorisch gewiß vieles für sich – wenn auch der Übergang vom Nomadentum zur Seßhaftigkeit häufiger mit einem Verlust an persönlicher Freiheit verbunden war als mit einem Gewinn.

Die Schweizer lieben die Freiheit und das Eigentum – und sind doch ein Volk von Mietern.

„Property“ im umfassenden Sinn des Eigentums an der eigenen Person (das übrigens auch Nomaden kannten) ist keineswegs zwingend mit dem Besitz eines Eigenheims verknüpft. Die Seßhaftigkeit kostete ihren Preis:Er bestand darin, daß das bewohnte Territorium gegen Nichtseßhafte verteidigt werden mußte. Dabei stieg die Verteidigungsbedürftigkeit in gleichem Maße wie der durch Kulturleistung erarbeitete Wohlstand, denn der lockte aggressive Nichteigentümer an. Die Notwendigkeit, gemeinsam potentielle Eindringlinge abzuwehren, begünstigte die Herausbildung von politischen Machtstrukturen, die bekanntlich, bis auf den heutigen Tag, keine Quelle neuer Freiheiten sind.

Die Institution des Privateigentums ist in vielfältigster Weise mit jenen Institutionen verknüpft, die es garantieren. Das Urbild des autarken und autonomen amerikanischen Siedlers, der als freier Eigentümer sein – zumindest in seiner Sicht – rechtmäßig erworbenes Eigentum notfalls mit der eigenen Waffe selbst verteidigt, der eine Kiste Goldmünzen im Keller liegen hat, am Sonntag die Fahne hißt, der zwar die Nation liebt, doch gegenüber der Regierung, die Steuern einzieht, größtes Mißtrauen hegt, steht als verblassender Mythos mit den Realitäten einer hoch arbeitsteiligen technischen Zivilisation nicht mehr im Einklang. Haus- und Grundeigentum im Sinn der Verknüpfung mit der Scholle und mit den eigenen vier Wänden ist gegenüber der freien Verfügung über eine Vielfalt von Sach- und Personenbezügen in den Hintergrund getreten.

Mit der flexiblen Dienstleistungsgesellschaft, in der wir heute längst leben, stehen wir wieder näher am Nomadentum – und das muß keineswegs einen Verlust an Freiheitlichkeit bedeuten. Ein offener, von gutgemeinten, aber kontraproduktiven Schutzbestimmungen befreiter Boden-, Bau- und Mietmarkt ist angesichts dieser Entwicklung wichtiger als Steuererleichterungen und staatliche Subjekthilfe für Hausund Wohnungseigentümer.

Das Eigentum hat seine Rolle als Basis einer freien Gesellschaft freilich beileibe nicht ausgespielt. Doch angesichts der heutigen Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens hat die Verbindung von Freiheit und Eigenheim oder Eigentumswohnung nur noch den Charakter einer möglichen Option unter vielen. Immer häufiger ist, wie neuere Entwicklungen zeigen, das eigene Heim weder die vernünftigste noch die wirtschaftlichste Variante der „Lebensinvestition“.

Die Institution des Privateigentums ist die Basis einer auf Tausch, das heißt auf Verträgen und auf Geld als Mittel des Tauschs und der Wertaufbewahrung, beruhenden Gesellschaft, denn niemand kann einvernehmlich über Werte verfügen, die ihm nicht gehören. Aber diese Grundvoraussetzung, die man im ursprünglichen, keineswegs herabsetzenden Sinne „primitiv“ nennen kann, ist nicht mehr der Wesenskern des Wirtschaftens. Es gibt eine Vorstellung vom Eigentum als absolutem Recht, das mit legitimer Gewalt gegen alle unrechtmäßigen Angreifer und Eingreifer verteidigt wird:der Eigentümer als besitzstandswahrender Igel. Doch tatsächlich liegt der wahre Charme des Eigentums als Voraussetzung der Persönlichkeitsentfaltung nicht im Besitz, sondern in der Möglichkeit, darüber nach eigenem Gutdünken zu verfügen und dazu Verträge abzuschließen, sich an bestehenden personenoder kapitalbezogenen Vereinigungen zu beteiligen oder auch neue zu gründen.

Während die Grundeigentümergesellschaft auf der gemeinsamen kollektiven und individuellen Gewaltabwehr basierte, weht in einer kapitalbezogenen Zivilgesellschaft ein offenerer Geist:der Geist allseitiger Vertragsbereitschaft. Die Mentalität der möglichst absoluten Sachherrschaft und der Gewaltabwehr gegen alle und alles weicht in der Bürgergesellschaft zunehmend einer Mentalität des Austauschs und Handels, die auf vielfältigen Netzwerken von Vertrauen und Mißtrauen beruht. Über Verträge werden Beziehungen geschaffen, welche nicht mehr ausschließlich familienbezogen sind und auch nicht der Zufälligkeit der räumlichen Nachbarschaft (die ja bekanntlich oft alles andere als freundschaftlich war!) ausgeliefert sind.

Aus dieser Sicht ist es kein Zeichen von Rückständigkeit oder mangelndem Freiheitsbewußtsein, wenn in fortgeschrittenen Zivilgesellschaften die freiheitsstiftende Bedeutung des Grundeigentums abnimmt und sich immer mehr Menschen für den Status des Mieters entscheiden. Sie tun das, weil sie dadurch wesentliche Einkommens- und Vermögensbestandteile nicht mehr in die eigene Seßhaftigkeit investieren müssen und gleichzeitig die Risiken eines schwer durchschaubaren Grundstücksmarktes meiden können.

Die Schweizer sind – was viele überraschen wird – ein Volk von Mietern. Nur knapp 30 Prozent wohnen in den eigenen vier Wänden, und 75 Prozent der Mieter antworten in Umfragen, sie seien mit ihrem Mietvertrag durchaus zufrieden. Dies kann kaum ein Zeichen für eine besondere Eigentums- und Freiheitsfeindlichkeit sein. Vielmehr ist es das Resultat einer niemals durch das Trauma von Enteignungen und Kriegen unterbrochenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, die auf eine zivilgesellschaftliche Normalität zusteuerte. Wenn in einer Gesellschaft wesentliche Lebensbereiche wie das Wohnen auf Mietverträgen beruhen und durch sie gesichert sind, ist dies kein Alarmzeichen. Es ist vielmehr ein Indikator dafür, daß der grundsätzlich von beiden Partnern kündbare Vertrag eine besonders hohe Wertschätzung genießt und als ökonomisch sinnvolle Grundlage des Zusammenlebens allgemein anerkannt ist.

Der Erwerb eines Eigenheims oder einer Eigentumswohnung ist vor allem für junge Menschen nicht immer die ökonomisch vernünftigste Option. So gesehen, ist auch das erstaunlich unbestrittene politische Ziel der staatlichen Eigentumsförderung, das seit eh und je in keinem bürgerlichen Parteiprogramm fehlt und oft sogar Verfassungsrang genießt, zumindest revisionsbedürftig. Wer vor der Wahl steht, entweder in Grund- oder Wohnungseigentum zu investieren oder etwa in die eigene Weiterbildung oder in die Ausbildung seiner Kinder, der tut gut daran, die Vor- und Nachteile im Hinblick auf seine persönliche Freiheit sorgfältig abzuwägen.

Eine wichtige Voraussetzung einer durch Verträge – auch durch Mietverträge – geschützten und gesicherten Bürgergesellschaft ist allerdings unabdingbar. Damit ein Netzwerk von einvernehmlich und im aufgeklärten Selbstinteresse kündbaren Verträgen entstehen kann, braucht es ein ausgewogenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage, also einen funktionierenden, nicht allzu sehr durch Interventionen, Regulierungen und – meist gutgemeinten – Förderungen verfälschten Grundstücks- und Wohnungsmarkt. Dies allein genügt aber noch nicht. Auch alle anderen Interventionen im Leistungs- und Bevormundungsstaat verzerren die Entscheidungssituation des mündigen Mitglieds der Bürgergesellschaft, das unbefangen und sachlich zwischen den Vor- und Nachteilen seiner Positionierung in vielfachen Sach- und Personenbeziehungen zu entscheiden hat.

Der Weg in diese freiheitliche Gesellschaft ist noch voller Hindernisse. Aber man sollte die Kräfte, welche sich über diese Hindernisse hinwegsetzen, nicht unterschätzen. Überholte Mythen lassen sich auch in verkrusteten politischen Systemen – zu denen die europäischen Sozialstaaten gehören – auf die Dauer gegenüber harten Fakten nicht mehr halten. Die im wesentlichen auf vielfältige Vertragsbeziehungen abgestützte Entwicklung hin zur Bürgergesellschaft und der Fortschritt der arbeitsteiligen technischen Zivilisation von der Gewalt zum Vertrag: all das läßt sich durch etatistische Eingriffe und Förderungsmaßnahmen zwar verzögern, verhindern läßt es sich nicht.


Der Verfasser ist Leiter des Liberalen Instituts in Zürich und Herausgeber der „Schweizer Monatshefte“.

Abbildung: Julian Opie, Roadscape 35, 2000 © Lisson Gallery, London, und Barbara Thumm Galerie, Berlin.

FAZ – Sonntag, 8. Juni 2003 – Seite 11

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