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Der Ausstieg aus dem Wohlfahrtsstaat als Entwöhnungskur

Lesedauer: 6 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 4, 2003 – Seite 12-14)

IM BLICKFELD

Im Zentrum einer freien Gesellschaft steht nicht das isolierte Individuum, sondern der mündige, gesellige Mensch, der in vielfältigen, mitmenschlichen, familiären und beruflichen Beziehungen lebt. Im «aufgeklärten Selbstinteresse» macht er freiwillig das Wohlergehen anderer zu seinem Hauptanliegen.

Der Wohlfahrtsstaat, so lautet die gängige historische Erklärung, sei gegen echte oder vermeintliche Defizite der Industriegesellschaft geschaffen worden, als «soziale Abfederung» gegen die Härten eines «ungezähmten Kapitalismus». Seinen Ursprung hat er allerdings nicht in jenen sozialen Motiven, die ihm heute im Allgemeinen zugeschrieben werden. Er ist auch lange vor der Industrialisierung entstanden. Eine entscheidende Wurzel ist, wie Gerd Habermann in seinem Buch «Der Wohlfahrtsstaat, Geschichte eines Irrwegs» (Frankfurt/M., 1997) aufzeigt, die Lust des obrigkeitsstaatlichen und feudalistischen Herrschens über gehorsame und gefügige Untertanen, die durch «Brot und Spiele» bei guter Laune gehalten werden. Im Bestreben des «Gefügigmachens» treffen sich dann im 19. Jahrhundert die Interessen der politisch Mächtigen und der industriellen Arbeitgeber, big government und big business, in einträchtiger Interessengemeinschaft. Sie brauchen den abhängigen Staatsklienten und den unselbstständigen Arbeitnehmer, welcher auf die kontinuierlichen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen derart angewiesen ist, dass man ohne Übertreibung von einer Sucht reden kann. Süchte sind durch das gesundheitsschädliche Verlangen nach «immer mehr» gekennzeichnet, durch Wahrnehmungsstörungen und durch Entzugserscheinungen nach dem Absetzen der Droge.

Der Wohlfahrtsstaat geht aber auch von der höchst fragwürdigen Annahme aus, die meisten Menschen brauchten – mindestens temporär — Schutz und Führung durch den Staat, und man müsse sie schrittweise — durch positive Massnahmen, Hilfeleistungen und Unterstützungen — von Staates wegen in einen Zustand grösserer Freiheit führen. Diese wohlmeinende, «emanzipatorische» Spielart des Wohlfahrtsstaates ist so populär, weil sie im Gewände der Frei¬ heitsfreundlichkeit daherkommt. Theoretisch müsste sie auf eine schrittweise Selbstaufhebung und auf eine dauernde Verkleinerung des Hilfs- und Förderungs-Apparats tendieren. Praktisch passiert aber das Gegenteil. Die eklatanten Misserfolge dieser «sanften Gängelung» in Richtung Freiheit werden dadurch erklärt, es sei noch zu wenig des Guten getan, um die tatsächliche Wende hin zum wirklich sozialen und freien Menschen zu bewirken. Diese Taktik des dauernden Vertröstens und Hinausschiebens der Stunde der Befreiung in der «klassenlosen Gesellschaft» führte letztlich zu jenem totalen Vertrauensverlust, welcher das Scheitern sozialistischer Experimente besiegelte. Der wohlfahrtsstaatliche Etatismus der Sozialdemokraten hat es diesbezüglich besser als der Sozialismus im Einparteienstaat. Er kann das Ausbleiben von Erfolgen oder das Unbezahlbar-Werden seiner Rezepte — wenigstens zum Teil — dem politischen Gegner anlasten, der den angeblich realisierbaren wohlfahrtsstaatlichen Endausbau vereitelt oder verzögert.

Ein weiteres Motiv wohlfahrtsstaatlicher Intervention ist die Theorie des Marktversagens im Bereich der Arbeit. Auch sie wird als «sozial», als «im Interesse der Arbeitnehmer» verkauft, dient aber bei genauerem Hinsehen auch den organisierten Arbeitgebern. Der Wohlfahrtsstaat ist so etwas wie ein politisch abgesegnetes Lohn-, Steuer- und Rentenkartell, das angeblich den Arbeitsmarkt zugunsten der Schwächeren zähmt, tatsächlich aber auch jene Vorteile offener Arbeitsmärkte beseitigt, welche sich zugunsten der schwächeren Arbeitnehmer auswirken würden. Das Phänomen der Arbeitslosigkeit hängt direkt mit dem Phänomen des kollektiven Arbeitsrechts und der gewerkschaftlichen Organisation zusammen, und die staatliche Versicherung der Arbeitslosigkeit entlastet und enthaftet vor allem auch die Arbeitgeber und die Aktionäre, indem sie die Sozialisierung von Verlusten ermöglicht. Für die Arbeitgeber sind kollektive, gewerkschaftlich organisierte und disziplinierte Vertragspartner in vielen Fällen bequemer als eigenständige, selbstbewusste Anbieter von individuell definierter Arbeitskraft.

Von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft

Je mehr sich die Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft wandelt, desto mehr gewinnt das individuelle Angebot, das Einfühlungsvermögen in die Kundschaft, an Bedeutung. Die Eigenständigkeit und Selbstständigkeit des spezialisierten Dienstleisters löst die Diszipliniertheit des «konfektionierten» Arbeiters als Motor des Wirtschaftswachstums ab. Im selben Ausmass werden auch die im Rahmen der Industriegesellschaft geschaffenen politischen Strukturen obsolet. Die von der Wiege bis zur Bahre wohlfahrtsstaatlich versorgten und gegängelten Staatsrentner müssen zu eigenständigen Lebensunternehmern werden, und da braucht es die Fähigkeit, das eigene Angebot an Arbeitskraft, Leistungsbereitschaft, Kenntnissen und Fähigkeiten auf die Nachfrage anderer abzustimmen. Der Schlüssel zum ökonomischen Erfolg liegt nicht mehr in der Disziplinierbarkeit wiederholter gleichbleibender Handlungen, sondern in der Fähigkeit, immer wieder neue ökonomische Nischen zu erkennen und Sympathie im weitesten und besten Sinn zu entwickeln. Mehr Markt (auch mehr Arbeitsmarkt!) bedeutet in diesem neu entstehenden Umfeld mehr wirtschaftlichen Erfolg durch mehr menschliches Einfühlungsvermögen. Der Markt hat eine humanisierende Tendenz, und man kann darin ein eigentliches Gegenmodell zur Ausbeutungs- und Verelendungstheorie sehen.

Der Wohlfahrtsstaat wird zur Maschinerie, welche den Egoismus in der Single-Gesellschaft vorantreibt.

Der Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts hat eine Gesellschaft von Bauern, Tagelöhnern, Handwerkern und Gewerbetreibenden in eine Gesellschaft von Fabrikarbeitern und Angestellten im Infrastrukturbereich verwandelt, in eine disziplinierte Masse, die sich im nationalistischen und kollektivistischen Wahn des 20. Jahrhunderts auf den Schlachtfeldern der zwei Weltkriege gegenseitig dezimierte. Von den Folgen dieser katastrophalen Kollektivierung und Entmündigung haben wir uns in Europa noch nicht erholt. Der Wohlfahrtsstaat sollte die Not der durch den Krieg enteigneten und entmündigten Menschen lindern, aber er bremste und blockierte auch eine zivilisatorische Entwicklung von den national ausgerichteten Industriegesellschaften zur offenen, international vernetzten Dienstleistungsgesellschaft. Das ist der Grund der «europäischen Krankheit», die Diagnose des «kranken Manns» im Abendland: die Unfähigkeit, sich vom Industriezeitalter, von seinen gewerkschaftlich kollektivierten und disziplinierten Arbeitern, Rentnern, Staatsklienten und Konsumenten einer staatlich gestützten und geförderten Massenkultur zu verabschieden.

Der Wohlfahrtsstaat ist nicht nachhaltig

Die empfindlichste Schwäche des Wohlfahrtsstaats ist seine fehlende Nachhaltigkeit. Er zerstört die ökonomische und — was noch tragischer ist — die sozialpsychologische Basis seines Funktionierens. Weil seine Angebote so populär und so mehrheitsfähig sind, kann es sich in einer pluralistischen Demokratie keine regierungsverantwortliche Partei leisten, einen Abbau zu befürworten. Damit ist aus polit-ökonomischen Gründen ein permanenter schleichender Ausbau programmiert, vor allem wenn das Konzept mit dem targeting, d.h. mit einer gezielten Unterstützung von echten oder vermeintlichen Problemgruppen (mit potenziellen Wählerinnen und Wählern!) verknüpft ist. Es ist politisch immer attraktiv, eine förderungswürdige Gruppe zu finden, die noch nicht, oder noch nicht genug an der Umverteilung im Wohlfahrtsstaat angeschlossen ist, und es gibt auch für bürgerliche, staatsskeptische Politiker immer gute Ausreden, um eine Ausnahme zu begründen, da ja in der Politik Flexibilität und Kompromissbereitschaft mehr honoriert werden als die konsequente Durchsetzung von Grundsätzen.

Der aus den erwähnten Gründen schwer bremsbare, schleichende Ausbau des Wohlfahrtsstaates bedingt auch eine permanente schrittweise Erhöhung der Staats- und Steuerquote. Die langfristigen wirtschaftlichen Folgen steigender Staats- und Steuerquoten in einer sich globalisierenden Welt sind bekannt: Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit, sinkendes Auftragsvolumen, steigende Arbeitslosigkeit und zunehmender Bedarf an sozialpolitischer Intervention – ein Teufelskreis. Gravierender sind aber die Schäden, welche der Wohlfahrtsstaat am staatsbürgerlichen Bewusstsein und an der sozialen Hilfsbereitschaft anrichtet. Der Bürger wird im Wohlfahrtsstaat zum permanent unterstützungsbedürftigen Klienten. Er verliert immer mehr die Vorstellung von gemeinsamen «öffentlichen Interessen», und er betrachtet Politik nur noch als Vehikel, seine Position als Klient des Umverteilungsapparates schrittweise zu verbessern. Politik wird zum Selbstbedienungsladen, in welchem man andere, z.B. «die Privilegierten», «die Bosse» oder «die Wirtschaft» für sich bezahlen lässt. Das zerstört mittel- und langfristig die Basis der staatsbürgerlichen Mentalität einer zwar limitierten, aber grundsätzlich befürworteten Bereitschaft um, nach Hartmut von Hentigs Politikdefinition «gemeinsame Probleme gemeinsam beweglich zu lösen».

Der Wohlfahrtsstaat fördert den Egoismus

Wenn im sozialen Bereich die Zuständigkeit für mitmenschliche Hilfe und Unterstützung materieller, aber auch immaterieller Art immer mehr an staatliche Funktionäre delegiert werden kann, so schwindet das soziale Sensorium, das in Face-to-face-Gruppen den überlebenswichtigen sozialen Kitt bildet. Wenn der Staat die Aufgabe übernimmt, «sozial» zu sein, enthebt er diesbezüglich die Menschen von ihrer persönlichen Verantwortung. Sie sind dann nicht mehr verpflichtet — und auch nicht mehr motiviert — jemandem persönlich zu helfen und sich aus eigenem Antrieb sozial zu verhalten. So fördert der vermeintlich soziale Wohlfahrtsstaat den zunehmenden Egoismus in der Gesellschaft, deren Lieblingsmotto wie folgt lautet: «Das ist nicht mein Problem.» Der Wohlfahrtsstaat wird zur Maschinerie, welche – ohne es ausdrücklich zu wollen und auch ohne es zu merken – den Egoismus in der Single-Gesellschaft vorantreibt, indem er einerseits immer mehr «Rechte auf Teilhabe» verspricht und verteilt und andererseits ein System von Verboten, Kontrollen und Abgaben aufbaut, welches unweigerlich in eine Vollzugskrise mündet und gesetzeswidriges Verhalten geradezu provoziert.

Der Wohlfahrtsstaat wird zur Maschinerie, welche den Egoismus in der Single- Gesellschaft vorantreibt.

Die Privatisierung und Deregulierung des sozialen Bereichs hat daher als politisches Postulat eine hohe Priorität. Das haben selbst sensible linke Politiker wie Tony Blair erkannt. Aber nichts ist in einer bereits hochgradig sozialstaatlich verwöhnten und sozial entwöhnten Gesellschaft schwieriger als das. Die Rettung und der Wiederaufbau von sozialen, zwischenmenschlichen Strukturen wird meistens kurzerhand als «Sozialabbau» tituliert. Ganz falsch ist das nicht, weil nämlich niemand garantieren kann, dass die private und spontane Hilfsbereitschaft wie ein Phönix aus der Asche wohlfahrtsstaatlicher Strukturen aufersteht. Das gehört ja gerade zum Fluch sozialer Enthaftung: Sie ist nur schwer reversibel. Soziales Verantwortungsbewusstsein ist die Frucht generationenlanger Sozialisation und Zivilisation. Gesellschaftliche Lernprozesse sind langsamer als die staatliche Kollektivierung, die ein politischer Akt ist, dessen Vorzüge bei der begünstigten Wählerschaft unmittelbar erlebt werden, dessen soziale Schattenseiten allerdings erst viel später in Erscheinung treten.

Der Wohlfahrtsstaat ist so etwas wie ein politisch abgesegnetes Lohn-, Steuerund Rentenkartell.

«Vorwärts in eine andere Richtung»

Die Parteipolitik ist in einer Demokratie auf Wahlperioden ausgerichtet. Es geht um möglichst viele kurzfristige Vorteile. Was daraus später entsteht, interessiert bei der Wahl wenig. Jede Gesellschaft zehrt noch vom Human- und Sozialkapital, das vorangegangene Generationen geschaffen haben, wobei darin natürlich auch allerhand Altlasten verborgen sind. Der aggressive Egoismus, der beim Übergang von ehemals sozialistischen Systemen zur Marktwirtschaft ausbricht, ist nicht die Begleiterscheinung der neuen Ordnung, sondern das Sichtbarwerden der katastrophalen Folgen eines Fehlsystems. Subsidiarität kann als Bremse im Hinblick auf das Staatliche, im grossen Rahmen Organisierte wirken, für das Setzen der wirksamen Impulse hin zum Kleineren, Privaten gibt es noch wenig Erfahrungen und auch keine attraktive Terminologie. «Privatisierung» und «Deregulierung» sind inzwischen bereits ziemlich diskreditiert und verbraucht. Es geht auch nicht um ein «Zurück», sondern um ein «Vorwärts in eine andere Richtung».

Letztlich besteht die Hauptschwäche des Wohlfahrtsstaats nicht darin, dass er immer unbezahlbarer wird, sondern dass er den sozialen Ast absägt, auf welchem er sitzt. Eine Gesellschaft, in welcher die Menschen verlernen, einander spontan und von sich aus motiviert beizustehen und zu helfen, ist dem Untergang geweiht, selbst wenn ihre ökonomische Produktivität noch ausreicht, um ihre Fehlstrukturen aufrecht zu erhalten oder gar auszubauen.

Schweizer Monatshefte – Heft 4, 2003 – Seite 12-14

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