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Zeitzeichen eines Meisterzeichners

Lesedauer: 3 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 2002/2003 – Seite 4)

POSITIONEN

In memoriam Herbert Lüthy

Eigentlich wollte ich Zeichner werden.» So lautete die Überschrift, die wir als authentisches Zitat über ein Interview in den «Schweizer Monatsheften» setzen wollten, das wir mit Herbert Lüthy anlässlich seines 80. Geburtstags führten. Auf seine Anweisung hin verzichteten wir dann allerdings darauf. Offensichtlich wollte er im hohen Alter nicht ausgerechnet mit einem Berufswunsch aus seiner frühesten Jugend charakterisiert werden. Gegen eine Publikation der Karikaturen, die er als Gymnasiast für eine von ihm unter einem Pseudonym verfasste «Bilderhandschrift von Ennenda» gezeichnet hatte, protestierte Lüthy nicht. Das ist typisch für ihn. Seine Person und seine eigene Geschichte sollten nicht im Zentrum stehen, aber der Schalk aus seiner Jugendzeit durfte durchaus aufblitzen. Lüthy ist in einem übertragenen Sinn doch Zeichner geworden, ein Auf-zeichner und Deuter des Zeitgeschehens. Seine Zeitungskommentare und seine Essays sind tatsächlich virtuose Zeichnungen, aus dem Moment heraus entstanden, aber mit so viel Kenntnis und Einsichten gestaltet, dass sie noch heute zu fesseln vermögen.

Herbert Lüthy ist am 16. November im 85. Altersjahr in Basel verstorben. Er ist einer der wenigen Schweizer Historiker, welche in Fachkreisen weltweit Anerkennung gefunden haben. Trotzdem ist er bei jüngeren Historikern kaum mehr bekannt, da seine interdisziplinär ausgerichtete, deutende und kommentierende Geschichtsauffassung von den heutigen Superspezialisten kaum mehr geschätzt wird. Wer, wie viele Exponenten der heutigen Historikergeneration, primär als Ankläger auftreten will, hat für subtile Deutungen und Abwägungen wenig Verständnis. Erfreulicherweise hat der Verlag der «Neuen Zürcher Zeitung» trotzdem eine Werkausgabe in Angriff genommen. Von der geplanten Neuausgabe in 7 Bänden sind die zwei ersten kürzlich noch zu Lebzeiten des Autors erschienen. Die Bände III – V der geplanten Werkedition tragen den Titel «Essays». Dem Montaigne-Übersetzer Lüthy war diese Literaturgattung zwischen Tagebucheintrag, Kommentar und literarisch-philosophischem Text wohl vertraut: Aus aktuellem Anlass geschrieben, aber mit Hinblick auf das Überdauernde formuliert. Die Übersetzung von «Essay» mit «Versuch» ist unbeholfen, es geht dem Essayisten nämlich um das Wägen und das Abwägen (lateinisch: exagium), das oft in eine dezidierte Meinungsäusserung mündet. Herbert Lüthy hat nicht nur abgewogen, er hat auch engagiert Stellung bezogen, etwa als Gutachter zur Jurafrage und im «Fall Ziegler» an der Universität Genf.

Eines seiner Werke ist allerdings keine Essaysammlung, sondern ein Zeitgemälde: «La Banque Protestante en France». Ein Nachdruck ist als Band VI und VII der Werkausgabe geplant.

Mit Herbert Lüthy ist einer der letzten Historiker verstorben, welche den Zweiten Weltkrieg als Zeitzeugen erlebt und beobachtet und im «St. Galler Tagblatt» wöchentlich kommentiert haben. Herbert Lüthy lebte nach dem Zweiten Weltkrieg von 1946 bis 1958 als Historiker und Publizist in Paris und verfasste dort «Au son du Clocher», «Frankreichs Uhren gehen anders» (Bd. II der Werksausgabe, 2002). Er gehört zu den ersten, welche die These des deutschen Soziologen Max Weber, dass der Calvinismus die historische Basis des Kapitalismus bilde, widerlegt haben. Herbert Lüthy hat die mehrsprachige Schweiz nicht nur analysiert und kommentiert, er hat zum gegenseitigen Verständnis der Kulturen einen aktiven Beitrag geleistet. Erinnert sei hier an sein Referat, das die Renaissance des Föderalismus einleitete und an sein Engagement bei der Neugründung des Kantons Jura – eine der ganz wenigen demokratisch abgewickelten Sezessionen der Weltgeschichte!

Bei den «Schweizer Monatsheften» war Herbert Lüthy nicht nur langjähriges Vorstandsmitglied, sondern auch ein herausragender Autor. Seine dort veröffentlichten Vorträge und Aufsätze wie etwa «Vom Geist und Ungeist des Föderalismus» (Bd. 44, 1964, Si 773) und «Die Mathematisierung der Sozialwissenschaften» (Bd. 48, 1968, S. 972) und «Hugenotten und Jakobiten» (Bd. 67, Jg. 1967, S. 377) sind Perlen der sozialwissenschaftlichen Essayistik. Die Herausgeber der «Schweizer Monatshefte» bleiben Herbert Lüthy über seinen Tod hinaus dankbar verbunden. Eine ausführliche Würdigung der beiden ersten Bände der Werkausgabe folgt im nächsten Heft.

Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 2002/2003 – Seite 4

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