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Keine Angst vor Experimenten

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 6, 2002 – Seite 1)

EDITORIAL

In einem wenig bekannten philosophischen Wörterbuch findet sich zum Begriff «Technik» folgender Eintrag: «Überführung der Natur in Kulturprodukte und der Kultur in Zivilisation. Aus einer segensreichen Beherrschung der Naturkräfte wird die Technik zu einer Veräusserlichung, Vermassung und Mechanisierung des Menschen. Die Technisierung der Welt räumt der Maschine einen Ehrenplatz ein, wodurch neue Lebensprobleme entstehen.» (Morris Stockmann, Essen 1980).

Die Technik, so wird suggeriert, sei eine Errungenschaft, die mehr Lebensprobleme schaffe als löse. In dieser kurzen Umschreibung findet man all jene Vorurteile, welche an der Wurzel der bildungsbürgerlichen Technik-Verachtung liegen, die in den letzten dreissig Jahren fast nahtlos in eine populistisch aufgeheizte Technikphobie übergegangen ist.

Niemand behauptet, die Technik habe ausschliesslich Positives bewirkt. Aber kaum einer der radikalen Skeptiker, Kritiker und Warner kann ermessen, was es auch für ihn bedeuten würde, wenn man auf diese «Überführung der Natur in Kulturprodukte» verzichtet hätte.

Wer verächtlich von der technischen Zivilisation spricht, zu der via Technik die gute alte hohe Kultur degeneriert sei, sollte sich gut überlegen, auf was man denn alles daran wirklich verzichten könnte. Wer die Vermassung bedauert, sollte sich überlegen, was denn besser wäre, wenn Kultur und Zivilisation nur das Vorrecht einer kleinen Oberschicht bleiben würden.

Die heutige Zivilgesellschaft beruht in viel stärkerem Ausmass auf der Nutzung technischer Errungenschaften, als wir es gerne zugeben. Da liegen möglicherweise auch die wahren Gründe, warum sich elitäre Kulturwissenschaftler als Untergangspropheten profilieren: Das Dogmengebäude letzter Gewissheiten ist eingestürzt, und man hat Mühe, sich in einer Welt zurecht zu finden, in der alles zum Experiment wird, und eine neue Art von Demut gefragt ist, die immer wieder zum Lernen einlädt, zur dauernden Anpassung an veränderte Verhältnisse.

Der kreative Umgang mit Freiheit und Offenheit braucht Mut und Experimentierfreude. Wer heute mit dem Anspruch einer totalen Beherrschung an die Natur und an die Kultur herantritt, wird zum Untergangspropheten. Das Leben muss vermehrt als Experiment der Natur mit dem Menschen und des Menschen mit dem Menschen gedeutet werden, bei dem die Technik die gelingende Interaktion erleichtert und ermöglicht, wenn auch nie definitiv garantiert.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 6, 2002 – Seite 1

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