(Schweizer Monatshefte – Heft 3/4, 2002 – Seite 19-20)
DOSSIER JAPAN – ACHILLESFERSE DER WELTWIRTSCHAFT?
Auch in einer sich globalisierenden Welt spielen die Stärken und Schwächen einzelner Nationen eine Schlüsselrolle. Die Japaner waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Meister des Kopierens und des Rationalisierens weltweit gefürchtet. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat sich Japan als eine der lern- und modernisierungsfähigsten Nationen erwiesen und einen entscheidenden Platz unter den weltwirtschaftlich führenden Nationen erobert. Man hat schon oft versucht, das Geheimnis dieser Kombination von Anpassungsbereitschaft und Eigenständigkeit zu entschlüsseln. Im Januar 2000 analysierte Urs Schöttli in der Zeitschrift «Internationale Politik» die damalige Lage Japans und bezeichnete «die ethnische, religiöse, kulturelle und sehr weitreichende soziale Kohärenz» als Hauptstärke dieser Nation. Diese Kohärenz verleihe – so Schöttli – dem Land eine hohe Konsensbereitschaft, die eine rasche Anpassung an neue Gegebenheiten erlaube. Allerdings hat er schon damals geahnt, dass sich die hohe Konsensbereitschaft zwischen Bevölkerung, Wirtschaft und Regierung auch «zum Schlechten des Landes» auswirken könnte. Es gehört zu den heute nicht mehr genügend beachteten klassisch-liberalen Grundsätzen, dass eine institutionelle Trennung von Politik und Wirtschaft für beide Bereiche von Vorteil ist. Konzertierte Aktionen, «runde Tische», Absprachen von big business mit big government dienen kaum je den öffentlichen Interessen, die dabei vorgeschoben werden. Über längere Zeit kann ein solches wirtschaftspolitisches Durchwursteln durchaus erfolgreich sein, aber die Robustheit des Gesamtsystems nimmt rapide ab, wenn die checks and balances zwischen den einzelnen Bereichen der Gesamtgesellschaft nicht mehr spielen. Japan ist gegenwärtig das Opfer der eigenen Homogenität geworden. Was unter andern Konstellationen eine Stärke war, entpuppt sich jetzt als Schwäche.
Der «Economist» vom 16. Februar 2002 zeichnet ein pessimistisch gefärbtes Bild von der Zukunft der japanischen Wirtschaft.
Erfolg und Misserfolg auf offenen Weltmärkten beruhen auf hoch komplexen Kombinationen von Leistungen, Verhaltensweisen und Konstellationen. Darum kann es nicht darum gehen, einander jetzt Lektionen zu erteilen. Aber es wäre auch falsch, aus der heutigen Situation gemeinsam nichts lernen zu wollen. Die Vorstellung von einer Weltwirtschaft als Nullsummenspiel, bei dem die einen auf Kosten der andern prosperieren, ist verfehlt. Darum sind weder Neid noch Schadenfreude angezeigt, und es befremdet, wenn man etwa in den Japan-Artikeln des «Economist» vom 16. Februar kaum echte «sadness» über «the non-performing country» spürt. Die vertieften Analysen, wie sie etwa die Japan Reports von McKinsey leisten, sind hingegen weit über den engern Kreis der potenziellen Japan-Investoren interessant, weil sie auf grundlegende Zusammenhänge aufmerksam machen, ohne überheblich zu sein. Vereinfachend zusammengefasst leidet Japan an Innovationsschwäche in Verbindung mit mangelnder Robustheit. Wie und wo sind jene Kräfte zu finden und zu bündeln, welche zur Innovation und zur Robustheit führen? Die Frage stellt sich nicht nur in Japan. Es gilt den Wert der Vielfalt, der Offenheit, der Risikobereitschaft, der Experimentierfreude und der kreativen Dissidenz neu zu entdecken. Solche Impulse kann der Staat als Ordnungsmacht niemals vermitteln, weder in Japan noch anderswo. Sie kommen aus der Zivilgesellschaft, aus der traditionellen Kultur, aus einem vielfältigen Bildungs- und Forschungsbereich und – nicht zuletzt – auch von aussen. Die kreative Verbindung von Eigenständigkeit und Offenheit ist offensichtlich nicht nur ein schweizerisches Traktandum.
Mckinsey.com, Why the Japanese Economy ist not Growing