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Soziale Sicherheit – neue Wege

Lesedauer: 5 Minuten

(Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 2001/2002 – Seite 41-42)

DOSSIER RISIKOGESELLSCHAFT – AUF DER SUCHE NACH SICHERHEIT

Thesen und Berichte aus den Arbeitsgruppen

Gruppe II: Soziale Sicherheit – neue Wege

Beat Kappeier / Robert Nef

Thesen:

Die Ausgaben für soziale Sicherheit beanspruchen in den kontinentaleuropäischen Ländern Nef Anteile am Volkseinkommen, welche nicht «nachhaltig» sind. Sie lösen entweder die Probleme nicht, oder künftige Generationen können sie nichr aufbringen, oder sie verhindern die Wertschöpfung, welche nötig wäre.

Die Probleme: Die Rentensysteme im Umlageverfahren werden teuer durch die Schere zwischen immer weniger Beitragszahlern und immer mehr Rentenbezügern und durch zusätzliche Rentenjahre dank höherer Lebenserwartung. Die «Gesamtlastquote» (Kindetkosten und Renten) der Aktiven wird durch Kinderlosigkeit nicht wesentlich geringer. Aber die Kinderlosigkeit Europas erhöht vermutlich die Immigration. Diese witft ihrerseits Fragen der Qualifikation und Ausbildung der Arbeitskräfte sowie des Zusammenlebens auf.

Die Lasten: Die Umlagesysteme Kontinentaleuropas (Ausnahme Schweiz, Niederlande, Schweden) haben hohe Beitragssätze auf den Löhnen gebracht (20 und mehr Prozent) und lassen dennoch unfinanzierte Rentenzusagen in der Höhe von etwa 150 Prozent eines Bruttosozialprodukts voraussehen (Deutschland, Frankreich, Italien). In der Schweiz wird die AHV nach 2010 Finanzierungsschwierigkeiten haben. An Lösungen vorgeschlagen sind: eingeschränkte Witwenrente, höhere Beiträge von Selbstständigen und Auslandschweizern, höheres Rentenalter, geringere Maximalrenten, höhere Mehrwertsteuer-Prozente als Beitrag, rentablere Anlage des AHV-Fonds, Einlage von Nationalbank-Gold in den Fonds.

Die Wertschöpfung wird durch die Rentensysteme verhindert, wenn die älteren Aktiven aus dem Arbeitsmatkt entfernr und verrenret werden, wenn die Lohnnebenkosren zu hoch sind, wenn Arbeitslosenversicherungen, Invalidenversicherung und Fürsorge die Aufnahme von Arbeit nicht ermutigen. Die meisten europäischen Sozialstützungen werden Punkt für Punkt zurückgenommen, wenn die Unterstützten selbst verdienen, was keinerlei Arbeitsanreiz darstellt. Ausserdem können Mitnahmeeffekte in Arbeitslosen- und Krankenversicherung auftreten. Der schwarze Arbeitsmarkt stellt ein Missttauensvotum an den Staat dar, nicht durch Finanzimperien, sondern durch Putzfrauen und Samstags-Maurer.

Gleichzeitig verändern sich die abzudeckenden Risiken: In der Arbeitswelt nehmen individualisierte, beftistete, flexibilisierre Verhältnisse zu, Arbeit im Aufttag statt im Zeitlohn vetbreitet sich, dies führr oft zu Scheinselbstständigkeit. Die anlaufende Informationsrevolution eliminiert viele hergebrachte Vermittlerfunktionen. Die globalen, engen und raschen Verbindungen, Wertschöpfungsketten, Lagerhaltungssysteme haben die Konjunkturphasen in USA, Europa, Asien parallel gemacht. Das Ende der Wertpapierhausse der Neunzigerjahre, die Finanzkrachs verschiedener Länder des Südens stellen ebenfalls konjunkturelle Globalrisiken dar.

Das individuelle Armutsrisiko in den enrwickelten Gesellschaften steigt mit der familiären Entsolidarisierung und zeigt sich nicht als «Klassenphänomen», sondern als Lebenszyklus-Problem der meisten Individuen (Ausbildung, Familiengründung, Arbeitslosigkeit, Scheidung, Alleinerziehen, Alter, Alleineleben, Immigration usw.).

In der Schweiz haben wir gegenwärtig die Chance, gleichzeitig die AHV (11. Revision), das Pensionskassengesetz (BVG), die IV, die Arbeitslosenversicherung revidieren zu können, und in einer Parlamentskommission wird eine Stützung füt «working-poor»-Familien vorbereitet.

Beat Kappeier

Bericht:

In der Gruppendiskussion zum Thema «Soziale Sicherheit – neue Wege» haben sich eine Fülle von wertvollen Analysen und neuen Gesichtspunkten ergeben, von denen hier nur eine Auswahl resümiert wird.

Ausgangspunkt waren folgende Feststellungen: Die Sozialversicherung muss dann einspringen, wenn sich die Menschen im Alter oder wegen Invalidität, Krankheit oder sonstiger Hilfebedürftigkeit nicht mehr eigenständig durchs Leben bringen können. Die Regulierungen im Arbeitsmarkt und die Arbeitslosenversicherung sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor untragbaren Risiken des wirtschaftlichen «Lebensunternehmertums» schützen. Eine grosse Zahl von Menschen ist heute den Schwierigkeiten einer dauernden flexiblen Anpassung an den raschen Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft nicht, bzw. noch nicht gewachsen. Der «mündige Mensch» bleibt in vielerlei Hinsicht immer noch eher ein Postulat als eine Tatsache.

Daraus ergaben sich folgende Gesichtspunkte: Das Leben kann heute generell in drei Abschnitte gegliedert werden: Eine Erziehungs- und Lernzeit von 0-30, eine Zeit wirtschaftlicher Produktivität von 30-60 und eine Zeit der Musse im Alter von 60-90, wobei es gute Gründe gibr, daraus nicht ein starres allgemeinverbindliches Schema zu machen, sondern individuelle Flexibilität zuzulassen und zu fördern. Lebenslanges Lernen, früheres Eintreten ins Erwerbsleben durch Mischformen des «learning by doing» und durch individuelle Weiterführung wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten im Alter können die negativen Auswirkungen des Dreiphasenmodells zwar mildern, aber nicht beseitigen. Alle drei Phasen haben ihre spezifischen Probleme, aber eine Verbesserung der Nachhaltigkeit bedingt in erster Linie einen Veränderungsbedarf im Zusammenspiel der Phasen und Funktionen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Bildungswesen, in welchem jenes Humankapital bereitgesrellt wird, das eine bessere Koordination und Kooperation ermöglicht.

Die mittlere Generarion sreht vor der Herausforderung, mit ihrer Produktivität die beiden anderen Phasen nachhaltig zu finanzieren. Da die sogenannten «aktiven Jahrgänge» zunehmend auch im demokratischen Entscheidungsprozess eine Minderheit bilden, sind zusätzliche Ungleichgewichte und soziale Spannungen zu erwarten. Eine effiziente Sozialpolitik, welche der Minderheit der Erwerbstätigen genügend Anreize für Produktivität und Wachstum bietet, verlangt möglicherweise nach neuen Formen der Meinungsbildung (z.B. gewichtetes Stimmrecht).

Die Ausgaben für soziale Sicherheit beanspruchen in den kontinentaleuropäischen Ländern Anteile am Volkseinkommen, welche nicht nachhaltig sind. Grosse Systeme wie die auf dem Umlageverfahren aufgebaute AHV und die kapitalgedeckte berufliche Vorsorge (BVG) schaffen zunächst für alle gleichzeitig kollektive Sicherheit um den Preis der Abhängigkeir von diesen Systemen und um das Risiko, dass beim Zusammenbruch dieser Systeme die grosse Mehrheit Not leidet. Das schweizerische Dreisäulenprinzip verteilt diese Risiken allerdings wiederum auf verschiedene Teilsysteme, sodass daraus in einem «Mix» eine gewisse Robustheit resultiert, die auch eine schrittweise Anpassung an neue Gegebenheiten und Trends ermöglicht. Alle Vorsorgesysteme beruhen letztlich auf verschiedenen Spielarten des Vertrauens. Wer an den Staat glaubt, vertraut auf das Umlagevetfahren, wer an die Werterhalrung bzw. Wertvermehrung in kollektiven oder individuellen Anlagen glaubt, vertraut auf kapitalgedeckte Renten oder Ersparnisse, wer an sich selbst glaubt, investiert in sein Humankapital, wer an die Familie und an die nächste Generation glaubt, investiert in die Erziehung und Ausbildung seiner Kinder. Die Robustheit solcher Mischformen von Vertrauen und Misstrauen hat allerdings auch den Nachteil, dass die Zusammenhänge in einem Netz von Solidaritäten und Absicherungen wenig transparent bleiben. Die Politik und die organisierten wirtschaftlichen Interessen nutzen diese Unübersichtlichkeit als eine Chance zur Machtausübung und Popularitätssteigerung durch attraktive Angebote an einzelne Anspruchsgruppen, deren Kosten auf Dritte, bzw. aufkommende Generationen überwälzt werden. Bei aller Sympathie für die robuste Unübersichrlichkeit «gezielter» Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wurden auch plausible Gründe für einen grundsätzlichen Systemwechsel in Richtung «negative Einkommenssteuer» und effiziente generelle übersichtliche Solidaritätssysteme ohne Bedürftigkeitsnachweis vorgebracht. In eine andete Richtung zielt der Vorschlag, alle individuellen Sozialbezüge in einem «carnet social» transparent zu dokumentieren. Eine generelle Abkoppelung der Sozialpolitik von der Wirtschafts-, Gesundheits- und Bildungspolitik könnte deren Effizienz und Transparenz steigern, ohne dass damit automatisch ein Sozialabbau verbunden wäre. Ihr Ausbau und Umbau wäre im politischen Entscheidungsprozess transparent mit den Kostenfolgen für die Finanzierung zu verbinden, was eine Alternative zum unkontrollierten Ausbau einzelner, z.T. ineffizienter Kleinsysteme bilden könnte.

Robert Nef

Teilnehmerinnen und Teilnehmer:

Präsident: Dr. h. c. Beat Kappeier, Herrenschwand; Berichterstatter: Robert Nef, Zürich

Heinz Allenspach, Fällanden; Prof. Dr. Giorgio Behr, Buchberg; Fritz Blaser, Basel; Dr. Jacqueline Burckhardt, Zürich; Gilbert Coutau, Genève; Prof. Dr. Reiner Eichenberger, Fribourg; Katja Gentinetta, Lenzburg; Dr. Peter Gross, Zürich; Dr. Max Gsell, Bern; Dr. Thomas Held, Zürich; Katharina Hoby-Peter, Zürich; Markus Hofmann, Zürich; RAin Margit Huber-Berninger, Zürich; Annemarie Lanker Hablützel, Bern; Avv. Marina Masoni, Bellinzona; Susanne Oberholzer, Felben-Wellhausen; Aw. Luigi Pedrazzini, Bellinzona; Andreas Rieger, Zürich; Martino Rossi, Bellinzona; Dr. Marcel R. Savioz, Zürich; Prof. Dr. Bernd Schips, Zürich; Prof. Dr. George Sheldon, Basel; Dr. Martin Wechsler, Blauen; Martin Wegelin, Dübendorf; Dr. Pierre Weiss, Genève; Myrtha Welti, Zürich

Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 2001/2002 – Seite 41-42

Alle Thesen und Berichte: Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 2001/2002 – Seite 39-49

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