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Risiken, beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen

Lesedauer: 4 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 2001/2002 – Seite 17-18)

DOSSIER

Bericht über eine Panel- und Plenardiskussion

«History is the result ofhuman action, not ofhuman design» (Ferguson).
«Gesellschaft schafft ihre eigenen Risiken» (Niklas Luhmann).
«Der Verlust der Angst vor der Hölle ist mit dem Verlust des Paradieses nicht zu
teuer bezahlt.» (Hannah Arendt).

Das Panel wurde von der Gesprächsleiterin Helga Novotny mit zwei Fragen eröffnet. «Was gibt uns heute noch Sicherheit?» und «Wie können wir mit den unbeabsichtigten Folgen unseres Handelns als der Wurzel unserer Verunsicherung umgehen?». Für Georg Kohler gehört das Spannungsfeld von Sicherheit und Unsicherheit zur spezifisch menschlichen Konstellation. Der Mensch, als «das nicht angepasste Tier» (Nietzsche), reagiert auf Unsicherheit nicht ausschliesslich mit Angst, Wut oder Angriff, sondern auch mit der Möglichkeit einer rational bestimmten Wahl, einer Entscheidung, die Unsicherheit immer auch als Chance sieht. Für Bruno Gehrig ist dieser rationale Umgang mit Risiken nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern ganz generell im Leben zentral. Zum rationalen Umgang gehört die Auswertung des vorhandenen Datenmaterials, die Bereitschaft zum Lernen und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Voraussetzung für jene Flexibilität, welche vor Überraschungen schützt. Franz Blankart hält Überraschungen für ein normales Lebensphänomen des Menschen, der — nach Sartre«zur Freiheit verurteilt» ist. Zukunft kann immer nur bedingt vorausgesagt werden. Darin liegt aber auch eine Chance, denn «Sicherheit schläfert ein». Ungewissheit (incertitude) kann auch positiv und kreativ gesehen werden, aber die Unsicherheit (insécurité) aufgrund der Abwesenheit von Regeln wird nach der Meinung von Anne Petitpierre von der grossen Mehrheit zunächst als bedrohlich empfunden. Rechtsregeln und soziale Normen machen das Verhalten wenigstens zum Teil berechenbar. Diese Regeln müssen adaptierbar sein, aber nicht grenzenlos beliebig. Über¬ lebenswichtige Limiten dürfen nicht überschritten werden. Im Verhältnis Wissenschaft/Gesellschaft verändert sich heute vieles sehr rasant, darum steht für Thomas Held der gemeinsame, etwas gelassenere Umgang mit Grossrisiken im Zentrum des Interesses. Die Komplexität der modernen Gesellschaft muss hier vermehrt auch als ein Schutz und nicht ausschliesslich als eine zusätzliche Bedrohung gesehen werden. Ein hochkomplexes System wie der Strassenverkehr wird nicht immer gefährlicher. Ein System von Regeln hat – statistisch nachweisbar – zu einer höheren Sicherheit geführt. Diese optimistische Sicht wird allerdings nicht von allen Panelisten geteilt.

In einer zweiten Runde thematisiert Georg Kohler die verschiedenen Kombinationen von Freiheit und Sicherheit. Die Formel «Freiheit versus Sicherheit» geht davon aus, dass man mehr Sicherheit auf Kosten von Freiheit produzieren kann. Bei Liberalen unbeliebt ist — so Kohler — die Formel «Freiheit durch Sicherheit». Aus dieser Sicht ist eine soziale Mindestabsicherung durch entsprechende Ansprüche an die Gesellschaft eine Voraussetzung zur Ausübung der Freiheit. Die dritte Formel ist «Freiheit und Sicherheit». Sie setzt auf eine Ordnungsmacht, welche law and order garantiert und negative insécurité in positive incertitude verwandelt. Anne Petitpierre sieht einen wesentlichen Unterschied in den Strategien, mit welchen die Menschen der Unsicherheit und der Ungewissheit begegnen. Die Regeln, mit denen wir die Unsicherheit eindämmen, können mehr oder weniger überzeugend sein, wenn sie erzwingbar sind, nennen wir sie «Recht». Gegenüber der Ungewissheit gibt es nur das Verfahren der kontrollierten Improvisation, eine dialektische Mischung von Freiheit und Intervention. Das «richtige Verhalten» ergibt sich hier in einem Dialog.

Es gilt zu erkennen, dass es nicht nur eine Rationalität gibt.

Ferdinand Hodler, Aufstieg und Absturz, 1894 (Detail)

In der Plenardiskussion konfrontiert Guido von Castelberg das Auditorium mit vier Thesen: a) Es gibt Gott, b) es gibt den Tod, c) es gibt das Leiden, und d) es gibt Leute, die noch an das glauben. Letztere geben, wie Helga Novotny in Erinnerung ruft, in den USA sogar weitgehend den Ton an, wie in der Zeit nach dem 11. September sichtbar und spürbar geworden ist. Die Auseinandersetzung mit dem Entscheid zur Glaubensgewissheit als Alternative zur Unsicherheit war Gegenstand der Schlussrunde im Panel. Für Georg Kohler führen Glaubensfragen zum polarisierenden Entweder/Oder; bzw. Gläubig/ Ungläubig. Die Erfahrung, die Europa nach den Glaubenskriegen, dem «Krieg aller gegen alle», gemacht hat, nämlich die Etablierung des konfessionell neutralen Staates, sollte heute weltweit als Vorstufe einer Art «Weltinnenpolitik» umgesetzt werden. Anne Petitpierre zweifelt daran, ob die politischen Reaktionen der USA nach dem 11. September wirklich rational gewesen seien. Die Rationalität wurde im nachhinein konstruiert. Nach Helga Novotny gilt es zu erkennen, dass es nicht nur eine Rationalität gibt. In islamischen Ländern folgen die Reaktionen einer andern Rationalität als in den USA und in Europa. Für Franz Blankart ist es entscheidend, dass wir uns unter dem Eindruck von Terrorakten nicht zu Reaktionen hinreissen lassen, bei denen Grundwerte wie privacy preisgegeben werden. Eine Schlüsselrolle hat hier die Schule, denn «die Schule ist die Schule der Nation». Bruno Gehrig weist darauf hin, dass es in allen Religionen – auch im Islam — eine Mehr¬ heit von vernünftigen Menschen gibt, welche sich von Fanatikern abgrenzen, es wäre allerdings zu wünschen, dass sich die islamische Intelligenz hier noch eindeutiger äussert. Die ernsthafte Reflexion, welche nach den Terrorakten — auch über religiöse Fragen — einsetzt, hilft uns die «Spassgesellschaft» zu überwinden. Thomas Held unterstreicht die Bedeutung des Globalisierungsprozesses, der einen Schritt zur offenen Weltgesellschaft bedeutet. Keinesfalls dürfen uns die Terrorakte einen Rückfall in den Protektionismus bescheren. Der Stellenwert der Religion darf nicht unterschätzt werden. Immerhin waren bisher alle Versuche, die moderne, selbstreflektierende Zivilisation wirksam und dauerhaft zu bekämpfen, trotz schrecklicher Kosten, nicht erfolgreich. Für Iso Camartin ist das Spannende an der Risikogesellschaft die Frage, ob sie letztlich ohne Kontrolle in «zweiter Instanz» (symbolisiert durch die Computertaste «Control») auskommt. Diese zweite Instanz kann durch eine «Totaldelegation» an Gott erfolgen, sie kann aber auch in einer rationalen Diskurspraxis gesucht werden, in einer Art Mitversicherung des Eigenen bei einer zweiten Instanz. Es gibt Bereiche, in denen die Individuen auf diese zweite Instanz verzichten wollen und vielleicht auch verzichten müssen, und dafür das volle Risiko für beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen übernehmen.

Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 2001/2002 – Seite 17-18

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