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Verletzlichkeit und Resistenz der Freiheit

Lesedauer: 4 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 10, 2001 – Seite 4-5)

POSITIONEN

1755 hat das Erdbeben von Lissabon die damaligen Menschen aus dem aufklärerischen Traum von der besten aller möglichen Welten gerissen, 1912 hat der Untergang der «Titanic» den Glauben an die technische Beherrschung der Naturgewalten erschüttert, und die Terroranschläge vom 11. September 2001 stellen den Glauben an eine dauerhafte Gewährleistung von Sicherheit in einer hochtechnisierten Zivilgesellschaft radikal in Frage. Wir stehen wieder einmal vor der Frage, ob wir einem optimistischen oder einem pessimistischen Welt- und Menschenbild den Vorzug geben sollen.

Vor einigen Jahren habe ich einmal den vermessenen Versuch unternommen, die Freiheit zu definieren und bin zu folgender paradoxen Formulierung gelangt, die eigentlich mehr ein Denkanstoss ist als eine logisch korrekte Umschreibung: Freiheit ist jene Idee, die immer gleichzeitig unendlich verletzlich und unendlich resistent ist. Freiheit bedeutet also aus dieser Sicht eine letztlich unauflösbare Kombination von Chancen und Risiken. Letztere sind uns im vergangenen Monat in brutalster Weise demonstriert worden.

Der internationale Terrorismus hat mit hoher Präzision die Verletzlichkeit einer freien Gesellschaft ausgenützt und einen immensen Schaden angerichtet, dessen Folgen noch nicht abschätzbar sind. Der materielle Schaden ist vermutlich reparierbarer als der psychologische Schaden des Vertrauensverlustes. Unter den Trümmern menschlichen Leids schwelen die Zukunftsängste, und weil Wirtschaft viel mit Psychologie zu tun hat, darf die sich abzeichnende Rückkehr zum courant normal (der immer voller offener und verdeckter Konflikte war), nicht überschätzt werden.

Ist nun die freie Welt bis ins Mark getroffen und bekommen jene Recht, welche schon immer behauptet haben, eine technisch hochkomplexe Welt sei nur durch umfassende technische und menschliche Kontrollsysteme und durch ein hochmobiles militärisches Interventionspotenzial (im Sinne einer Weltpolizei) vor der Selbstzerstörung und vor dem zunehmenden Missbrauch der Freiheit zu retten? Stehen wir vor der Wiedergeburt des zentralisierten Kontroll-, Machtund Bevormundungsstaates – auf nationaler, kontinentaler oder gar globaler Ebene? Gilt bald generell das Motto «Sicherheit vor Freiheit»? Der Versuch, zwei Zentren einer Weltmacht (geplant waren wohl drei) zu treffen, ist prima vista – wenigstens teilweise — gelungen, die unendliche Verletzlichkeit ist bewiesen. Aber die andere Seite, die Resistenz der Freiheit, ist trotzdem nicht zusammengebrochen. Es mehren sich die Anzeichen, dass diese Resistenz in einem dialektischen Prozess mittel- und langfristig sogar gestärkt wird. Dies hat mehrere Gründe. Einmal ist der Glaube der totalitär und zentralistisch denkenden Terroristen aller Couleurs, man könne einen hochkomplexen Organismus wie den global vernetzten Kapitalismus umstürzen, indem man zwei Gebäude mit dem anmassenden Namen «World Trade Center» zerstört, glücklicherweise unrealistisch. Es gab und gibt kein solches Ding wie ein «Zentrum des Welthandels», das haben diese Terroranschläge klar gezeigt. Der Strom des Welthandels wurde — trotz zeitweise geschlossener Börsen – nicht einmal für Minuten unterbrochen.

Die Resistenz weltweiter offener Märkte beruht auf dem allzu oft unterschätzten Prinzip des Non-Zentralismus, hinter welchem möglicherweise das Geheimnis der Immunität der Freiheit verborgen ist. Man kann durch perfide Anschläge innert Minuten und Stunden Tausende von Menschen töten und wichtige Gebäude einstürzen lassen. Ein Beziehungsnetz, das auf einer sehr grossen Zahl von grenzüberschreitenden, friedlichen Tauschbeziehungen und Verbindlichkeiten beruht, hat aber Substitutionsund Heilungspotenziale, welche hierarchisch aufgebaute Systeme nicht kennen. Solche Einsichten sind den hierarchisch geführten Terroristenzellen, die von einer Zentrale aus gesteuert werden, fremd, und das verleitet diese zum Glauben an die Möglichkeit eines finalen Dolchstosses gegen die ihnen verhasste Freiheit des Denkens, Glaubens und Handeltreibens.

Wie aber steht es mit den Einrichtungen der politischen und der militärischen Führung, die tatsächlich auf Zentralen angewiesen sind? Dieses Problem ist den Sicherheitspolitikern und Strategen schon längst bekannt, und die Meinung, man könne die US-Streitkräfte oder gar die Nato-Verteidigung lahmlegen, indem man das Gebäude der Militärbürokratie in Brand steckt, ist glücklicherweise naiv. Auch die militärische Kommunikationstechnologie basiert nicht mehr auf Zentralen, welche bestimmte isolierte Punkte an der Peripherie erreichen, sondern auf polyvalenten Netzen, bei denen jeder Punkt für jeden andern Punkt gleichzeitig erreichbar ist, was die Verletzlichkeit drastisch reduziert und die Resistenz massiv erhöht. Die vielbeklagte relative Verletzlichkeit dieser Netze ist zwar immer noch eine Realität, aber die Technologie vielfältig überlappender und konkurrierender Netze ist in voller Entwicklung und gibt berechtigten Anlass zu Optimismus. Die Verstärkung der Immunität einer stark zentralisierten politischen Führung ist ein Traktandum, das unter dem Eindruck der Ereignisse gegenüber allen populären Rachegedanken Vorrang haben sollte. Die Freiheit bedarf robuster Verteidigungsstrukturen, welche die Rückkehr zur Normalität – unabhängig von den direkt involvierten Personen — so schnell und so vollständig wie möglich sicherstellen. Die Friedensidee und die Terrorismusprävention muss vor der Vergeltungsgerechtigkeit Vorrang haben, was nicht heisst, dass Verbrechen ungestraft bleiben sollen.

Das Prinzip robuster, überlappender, vielfältiger Kommunikationsnetze gilt nicht nur im technischen, sondern auch im psychologischen Bereich des Zusammenlebens und Tauschens. Friedlich konkurrierende Vielfalt schwächt nicht, sondern erhöht die Immunität gegen Gefährdungen aller Art. Markiert nun das Datum des 11. September einen weiteren Bruch in der Geschichte der Freiheitsidee und setzt dieses Ereignis alle ins Unrecht, welche bisher an deren Resistenz glaubten? Bleibt von der eingangs erwähnten Freiheitsdefinition nur noch die unendliche Verletzlichkeit?

Der Prozess der Globalisierung, der Prozess, welcher — weltweit vernetzt —, auf dem friedlichen Tausch von Ideen, Gütern und Dienstleistungen beruht, ist in vollem Gange. Er verläuft nicht ohne jene schmerzlichen Rückschläge, welche mit der unendlichen Verletzlichkeit der Freiheit zu tun haben. Die Tatsache, dass Verletzungen in der Vergangenheit immer auch Heilkräfte freisetzten, welche letztlich die Resistenz gestärkt haben, verleiht auch in schwierigen Situationen die Kraft, trotz allem das Risiko der Freiheit auch weiterhin zu wagen.

Schweizer Monatshefte – Heft 10, 2001 – Seite 4-5

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