(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 2001 – Seite 1)
EDITORIAL
In persönlichen Beziehungen kann man immer wieder erleben, dass zunehmende Nähe nicht automatisch zu mehr Vertrautheit führt. Gelegentlich wird auch bewusst, wie viel Trennendes gerade bei intensiver werdender Vernetzung vorhanden ist. Gilt dies auch beim globalen Zusammenrücken von Kontinenten und Kulturen?
Ostasien rückt näher an Europa, und im zunehmend wichtiger werdenden pazifischen Raumbezug auch näher an Amerika. Unser Alltag ist ohne aus Ostasien importierte Elektronik kaum mehr denkbar, China tritt der WTO bei und Peking wird als Olympiastadt zum Mittelpunkt des medialen Weltinteresses. Es ist heute an der Zeit, sich von den zahlreichen Vorurteilen und Klischees zu verabschieden, welche im Verhältnis der «Europäer» und der «Asiaten» als bequeme, aber auch gefährliche Projektionsflächen herhalten mussten.
Seit den Mongolenstürmen gibt es die Angst vor der Bedrohung des «europäischen Individualismus und Rationalismus» (gibt es einen solchen?) durch die kollektivistischen asiatischen «Hordenmenschen». Daneben blüht aber in Europa und in den USA auch die Sehnsucht nach einer Erlösung durch «östliche Spiritualität» und durch die «tiefe Naturverbundenheit», die angeblich die «östlichen Kulturen» (gibt es das?) prägen sollen.
Wie Gregor Paul in seinem kürzlich erschienenen Buch über Konfuzius treffend schreibt, folgen Erkenntnis und Problemlösungsversuche in «West» und «Ost» «in entscheidender Hinsicht denselben formallogischen und empirischen Gesetzmässigkeiten». Dies soll wiederum nicht über die grosse Zahl tiefgreifender Mentalitätsunterschiede hinwegtäuschen, die gerade jene Europäer feststellen, welche sich über längere Zeit in Ostasien aufhalten.
Wer diese unterschätzt oder missachtet, wird vor allem in wirtschaftlichen und kulturellen Tauschbeziehungen immer wieder Enttäuschungen erleben. Auch Ostasien ist durch eine grosse historische, geographische, ethnische, religiöse, sprachliche und sozio-kulturelle Vielfalt gekennzeichnet, die der europäischen keineswegs nachsteht.
Eine «ostasiatische kulturelle Identität», an der unsere «westliche Mentalität» notwendigerweise scheitern müsste, gibt es nicht. Das macht die Kontakte zwar komplizierter, erhöht aber die Chancen, die Kluft zwischen Nähe und Fremdheit durch Kommunikation zu überwinden und die Zunahme des Welthandels als Schritt zu einer friedlicheren Welt zu sehen.
ROBERT NEF