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Soziales Dienen und Leisten – jenseits und diesseits von Angebot und Nachfrage

Lesedauer: 5 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 2001 – Seite 39-41)

DOSSIER

Das «Uno-Jahr der Freiwilligenarbeit» hat in der Schweiz, in der Hochburg des Milizprinzips, vielfältige terminologische Diskussionen ausgelöst. Beim näheren Hinsehen zeigt sich aber, dass es um mehr geht als nur um das Postulat, zu wissenschaftlich und politisch brauchbaren klaren Begriffen zu gelangen, die auch international kommunizierbar und übersetzbar sind.

Wer die Kommunikationsprobleme kennt, welche ein Referent hat, wenn ei in einem andern sprachlichen, politischen oder kulturellen Umfeld den Stellenwert und die Funktion des schweizerischen Milizprinzips im militätischen, politischen und sozialen Beieich eikläien will, neigt zunächst dazu, den Begriff als «kommunikationsuntauglich» auszumustern. Was keine klaren Vorstellungen vermittelt, eignet sich nicht füi den fruchtbaren Gedankenaustausch. Doch gibt es einen adäquaten Ersatz? Weder «Selbstorganisation» noch «Volunteering» noch «Freiwilligenarbeit» noch «Laientum» noch «Multifunktionalismus» geben das wieder, was uns als «Miliz» vertraut ist. Am ehesten trifft noch der vom österreichischen Staatsmann Karl Renner im Gegensatz zum Berufsbeamtentum geprägte Begriff des «Volksbeauftragten» einen wahren Kern (aber nicht das Ganze) der schweizerischen Miliz. Das römisch-rechtliche Mandat, das grundsätzlich unentgeltlich gegen ein vom Empfanget selbst bestimmtes «Ehrengeld = Honorar» wahrgenommen wurde, dem Beauftragten einen weiten Spielraum gewährte, im Sinne des Auftraggebers zu wirken, ihm aber auch eine qualifizierte Sorgfaltspflicht zuwies, entspricht in vielerlei Hinsicht dem Esprit de milice. Trotz der geschilderten Übermittlungsschwierigkeiten neige ich doch dazu, den Begriff im Hinblick auf seine traditionelle Verankerung, mindestens «für den internen Hausgebrauch», beizubehalten.

>Milizprinzip hat Zukunft

Zunächst sei eine generelle Umschreibung des Milizprinzips versucht, welche zwar keine abschliessende definitorische Klarheit schafft, aber in den charakterisierenden und spezifizierenden Adjektiven gleichzeitig die Probleme und Engpässe in Erinnerung ruft: Das Milizprinzip ist ein Problemlösungsverfahren, bei dem die Beteiligten teilzeitlich, nichtberuflich oder nebenberuflich (d.h. nicht professionalisiert und kommerzialisiert), ganzheitlich (d.h. problemadäquat, sowie fachlich und sachlich tauglich), ohne Lohn, bzw. gegen geringes Entgelt und — mit wichtigen Ausnahmen im Extremfall der Landesverteidigung — freiwillig persönliche Leistungen zugunsten einer Gemeinschaft einbringen. Einfacher geht’s leider nicht.

Zunächst fällt bei diesem Definitionsversuch auf, dass ausgerechnet jener Bereich, aus welchem der Begriff «Miliz» ursprünglich stammt, das Militär, als Ausnahme deklariert wird, weil bei einer auf allgemeiner Wehrpflicht beruhenden Armee das Merkmal der Freiwilligkeit wegfällt. Freiwilligkeitsprinzip und Milizprinzip haben zwar Berührungspunkte, aber ihre Tradition und ihre Begründung hat unterschiedliche Wurzeln. Als zweites fällt auf, dass nicht vom Milizsystem gesprochen wird, sondern vom Milizprinzip. Systeme sind meist logisch aufgebaut und fest strukturiert und so konstruiert, dass sie die Wirklichkeit prägen, während Prinzipien eine allgemeine Zielrichtung verfolgen, die zwar fix ist, aber unter gewandelten Umständen flexibel gehandhabt werden können.

Miliztätigkeit ist nicht zu verwechseln mit Laientum und Dilettantismus. Der Begriff ist historisch mit dem Wehrwesen veiknüpft, erscheint aber auch im Zusammenhang mit den nicht-professionalisierten Bereichen der Staatstätigkeit in Legislative, Exekutive und Judikative und des Dienstes für öffentliche Aufgaben im Sozial- und Kulturbereich in so genannten Non-Governmental Organizations (NGO) und Non-Profit-Organizations (NPO).

Die Grenzen zwischen Miliztätigkeit und unbezahlter sozialer und kultureller Freiwilligenarbeit im Rahmen der «Selbstorganisation» bzw. des «informellen Sektors» sind fliessend und weitgehend eine Frage der Terminologie. Das wichtigste Merkmal des Milizprinzips ist die Teilzeitlichkeit in Verbindung mit der Ganzheitlichkeit. Dies kommt im Bereich dei militärischen Sicheiheitsproduktion in einem Zitat von Divisionär Wetter zum Ausdruck. «Die Milizarmee ist eine Berufsarmee von der Dauer eines Monats.» Dasselbe liesse sich von Geschworenengerichten, von Milizparlamenten und Miliz-Expertenkommissionen sagen, wobei mir klar ist, dass hier von einem Modell, von einem Ideal, gesprochen wird und nicht von einer in jeder Hinsicht befriedigenden Realität.

Eine zentrale Unterscheidung, welche zum Funktionieren des Milizprinzips gehört, ist die zwischen Professionalisierung im Sinn der Verberuflichung und Verbeamtung einer Tätigkeit gegen Lohn, bzw. Salär, und die Professionalität, die auch auf Zeit, im Auftragsverhältnis, gegen Honorar (ursprünglich Ehrensold) beansprucht wird.

Volksbeauftragte auf Zeit

Milizparlamentarier sind Volksbeauftragte auf Zeit; man honoriert allenfalls ihre Leistung aufgrund des Resultats durch Wiederwahl. Berufsparlamentarier sind Angestellte des Staats, denen der Staat als Arbeitgeber — unabhängig vom Resultat — jene Lebenszeit, die sie beruflich aufgrund eines Wählermandates zur Verfügung stellen, d.h. die pflichtgemässe und arbeitsvertragliche Präsenz, durch einen Lohn entschädigt. Sie sind entlöhnte Staatsdiener, und das Vertragsmodell, das dahinter steckt, hiess richtigerweise ursprünglich auch Dienstvertrag.

Niemand wird behaupten, dass ein Auftrag, etwa an einen Anwalt oder an einen Berater weniger professionelle Resultate hat, nur weil er zeitlich beschränkt ist und nicht in einem Anstellungsverhältnis und firmenintern erfolgt. Der heutige Trend in der Wirtschaft liegt eher bei der Flexibilisierung von Leistungen, d.h. im Outsourcing, als bei einer zusätzlichen Aufblähung des Apparats mit lebenslänglich angestellten professionellen Spezialisten. Miliz und Professionalität lassen sich kombinieren wie die Arbeitsteilung durch flexible externe Auftragsverhältnisse und durch interne spezialisierte Dauerstellen.

Es gibt Spielarten des Sozialengagements, die sich dadurch auszeichnen, dass sie zu Ungunsten der sozial Schwächeren, welche die eigentliche Arbeit leisten, praktiziert werden.

Das Milizprinzip ist im Zeitalter der Flexibilisierung und der Superspezialisierung keineswegs überholt, es ist besonders aktuell, und es ist die einzige Möglichkeit, in einem Kleinstaat die persönlichen Ressourcen so effizient und so «volkswirtschaftlich» (im ursprünglichen Sinn) wie möglich einzusetzen.

Das Problem der Ineffizienz und Unwirtschaftlichkeit von Miliztätigkeit hängt nicht mit dem Prinzip zusammen, sondern mit seiner schlechten und fehlerhaften und zu wenig radikalen Umsetzung. Das Milizprinzip muss nicht relativiert werden, es muss radikaler durchdacht und konsequenter realisiert werden. Es geht nicht darum, das Milizprinzip abzuschaffen, weil es nicht mehr zu einer hypertrophen, spezialisierten bürokratischen Staatsmaschinerie passt, vielmehr sind die politischen Institutionen so zu vereinfachen und zu verwesentlichen, dass sie wieder mit dem Milizprinzip kompatibel sind.

Verwirtschaftlichung als «Dritte Säule»

Während ich aus grundsätzlichen Überlegungen, die hier nicht abzuhandeln sind, eine Entkoppelung von «Miliz» und «Allgemeiner Wehrpflicht» (einen Übergang vom Mandat der Wehrpflicht zur freiwilligen Anstellung von professionellen Armeefunktionären auf Dauer oder auf Zeit) ablehne (sie würde auch eine Verfassungsänderung voraussetzen), befürworte ich die teilweise Verwirtschaftlichung von Aktivitäten, die bisher fast monopolähnlich als soziale Dienstleistung unentgeltlich und freiwillig angeboten worden sind. Warum sollen nicht beispielsweise die mehrheitlich überhaupt nicht mehr bedürftigen Betagten grundsätzlich die Betreuungs- und Pflegeangebote als Kunden direkt oder als Versicherte indirekt selbst finanzieren? Warum sollen relativ unbemittelte Freiwillige — meist Frauen — relativ bemittelte Klienten unentgeltlich oder unterpreislich ihre Dienste zur Verfügung stellen? Zur Schonung der jeweiligen Erben? Die in der Schweiz übliche, nach dem Subsidiaritätsprinzip verknüpfte Kombination von steuerfinanziertem Service public und in der Regel subventioniertem gemeinnützigem Service social lässt dem flexiblen und auf neue Bedürfnisse besonders empfindlich reagierenden und lernfähigen benutzerfinanzierten Service privé zu wenig Entwicklungschancen. Natürlich ist es nicht verboten, auf diesem Markt Leistungen anzubieten, aber die Mentalität des «Sozialtarifs und Gratisangebots für alle» und die durch Subventionen bewirkten «ungleichen Spiesse» behindern die Weiterentwicklung solcher Dienstleistungen. Kommen die persönlichen Opfer der grossen Zahl von Freiwilligen im Sozialbereich auch wirklich den Bedürftigen zugut?

Paul Klee (1879-1940); statt Beinen Flügel, 1939, 887 (WW 7); Bleistift auf Papier mit Leimtupfen auf Karton; 29,5 x 21 cm; Paul Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Inv.-Nr. Z 1904.

Der Vorschlag einer Privatisierung und — sagen wir es im Klartext – Kommerzialisierung sozialer Dienste wird in der Regel vorschnell als «asozial» abqualifiziert und als Rückschritt bewertet. Ob es nicht noch asozialer ist, die stets knappen öffentlichen Mittel der Sozialpolitik nach dem Giesskannenprinzip auch an eine grosse Zahl von Benutzerinnen und Benutzern zu verteilen, die problemlos in der Lage wären, dafür Marktpreise zu bezahlen und den in diesen Diensten Engagierten, Erwerbs- und Teilerwerbstätigen auch marktgerechtere Entlöhnungen zu ermöglichen? Der notwendige soziale Ausgleich an die wirklich Bedürftigen könnte durch direkte Subjekthilfe besser abgegolten werden. Dies bedeutet, dass in Zukunft weniger die Institutionen (und ihre meist gut bezahlten Funktionäre, welche die unbezahlten oder schlecht bezahlten «sozial Engagierten» einsetzen) subventioniert werden, sondern die Personen, welche die Dienstleistung benötigen, aber diese nicht oder nicht voll finanzieren können. Es gibt Spielarten des Sozialengagements, die sich dadurch auszeichnen, dass sie zu Ungunsten der sozial Schwächeren, welche die eigentliche Arbeit leisten, praktiziert werden. Das nicht mehr zeit- und bedürfnisgerechte Zweisäulenprinzip der «Staatlichen» und der (meist subventionierten) «Gemeinnützigen» sollte vermehrt durch die dritte Säule der marktgerecht «Selbstfinanzierten» ergänzt werden. Deren – alles in allem — durchaus soziale Funktion sollte nicht unterschätzt werden. Was sich ökonomisch selbst trägt, ist auch nachhaltig praktizierbar. Ökonomisch transparente und personenbezogene Verhältnisse zwischen Anbietern und Nachfragern schaffen auch im Bereich der Dienstleistungen gute Voraussetzungen für die gezielte und freiwillige Rücksichtnahme auf Notlagen und Notfälle und für eine optimale Abstimmung auf die anderen zwei Säulen, deren Bedeutung hier keinesfalls bestritten werden soll.

Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 2001 – Seite 39-41

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