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Ein Lebensunternehmer in den USA

Lesedauer: 8 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 6, 2001 – Seite 37-40)

DOSSIER

Robert Nef

Kaffeebar als Gemeinschafts- und Kulturzentrum

Das hier beschriebene Beispiel zeigt, dass auch ein Kleinunternehmer, der in erster Linie Gewinn anstrebt, oft auch sozialen und kulturellen Werten zum Durchbruch verhilft, und zwar nicht trotz des Gewinnstrebens, sondern als Bestandteil des Gewinnstrebens. In einer Dienstleistungsgesellschaft ist ein Ende der Arbeitsmöglichkeiten im Kreislaufsich wandelnder arbeitsteiliger Bedürfnisse nicht absehbar.

Wer diese amerikanischen Vorstädte, diese riesigen, amorphen Agglomerationen von Einfamilienhäusern kennt, in denen die Lower Middleclass in den USA lebt, weiss, dass sich dort, ausser den üblichen Shopping-Centers, Tankstellen, Schulen und eventuell noch Sportanlagen, kaum irgendwelche Infrastrukturen befinden, die sozialen oder kulturellen Zwecken dienen. Auch die gemütliche Kneipe sucht man vergebens, und um in irgendein Steakhouse zu gelangen oder in ein French Restaurant, muss man zunächst gegen eine Stunde Auto fahren. Eine soziale und kulturelle Wüste, über die jeder wohlfahrts- und kulturstaatlich verwöhnte Europäer die Nase rümpft und bei der jeder sozial- und kulturpolitische Aktivist aus Europa einen ungeheuren Nachholbedarf an staatlichen Aktivitäten wittern würde. Der erste Blick trügt — wie so oft. «Die Wüste lebt».

Mein Gastgeber und Gesprächspartner, nennen wir ihn Mike, ist ein Durchschnittsamerikaner ohne College-Ausbiidung, er konsumiert TV und Fastfood in landesüblich hohen Dosen und interessiert sich in der Zeitung fast nur für den Sportteil. Zusammen mit seiner Frau und einem Kind lebt er in einem bescheidenen Einfamilienhaus. Als unkomplizierte Gastgeber hat mich die Familie Mikes nicht nur beherbergt, sondern in ihren Alltag integriert und daran als Beobachter teilnehmen lassen. Ich erhielt dadurch den Einblick in einen Kleinbetrieb im Sektor «einfache Dienstleistungen», über den wir in Europa zu Unrecht die Nase rümpfen. Gerade hier stecken m. E. noch sehr viele ungenutzte, durchaus auch menschlich attraktive Arbeitsmöglichkeiten, die trotz und auch wegen der «elektronischen Revolution» eine Verknüpfung von ökonomi¬ schen, sozialen und kulturellen Funktionen durch flexible Formen der Arbeitsteilung ermöglichen.

Mikes Kaffeebar soll hier keineswegs als Zukunftsmodell dienen, es ist auch nicht als generell praktizierbare Alternative für die Arbeits- und Lebensorganisation aller Menschen zu gebrauchen. Es soll aber einen kleinen Ausschnitt zeigen aus der grossen Bandbreite von Möglichkeiten, die sich in einer Gesellschaft ergeben, in welcher der klassische Fabrikarbeiter des Industriezeitalters durch die Technologie überholt worden ist und die Dienstleistungsgesellschaft neue Chancen eröffnet und Probleme verursacht. Das Beispiel soll ein Anreiz sein, diese Bandbreite auch in der Schweiz u. a. auch durch Flexibilisierung des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts zu erweitern. Die wohlfahrtsstaatlich imprägnierte Sichtweise eines Europäers wird hier durch eine Fülle von neuen Eindrücken herausgefordert.

Keine «Traumkarriere»

Das Beispiel handelt nicht vom strapazierten Klischee der amerikanischen «Traumkarriere», in welcher sich ein tüchtiges Individuum gegen alle Widerstände schliesslich am Markt durchsetzt und als «Schmied seines eigenen Glücks» Erfolg hat. Es handelt von einem eher unterdurchschnittlich begabten typischen Vertreter der unteren Mittelklasse, der sich im Bereich von kleinen Dienstleistungen durchwurstelt, weil er sinnvoll und flexibel mit andern kooperiert, die ihrerseits nicht zu den «Erfolgreichen» gehören, sondern zu jenem Drittel der Bevölkerung, die angeblich in einer hochtechnisietten Arbeitswelt nicht mehr «beschäftigungsfähig» sind. Wie das Beispiel zeigt, wäre es verfehlt, solche Arbeitskräfte, die in einem durchaus florierenden Kleinbetrieb kooperieren, in den entwürdigenden Status von lebenslänglichen Empfängern einer Staatsrente zu versetzen, die ihrerseits von Staates wegen in Sozialdiensten gemeinnützig beschäftigt werden.

Lebensunternehmertum ist nicht nur eine Herausforderung für «Gewinnertypen» und superintelligente Eliten, die sich in einem unerbittlichen Wettbewerb messen, in dem es schliesslich nur noch Sieger (als Spitzenverdiener) und Besiegte (als «Ausgesteuerte») gibt, sondern eine Lebensform für alle. Lebensunternehmertum setzt eine soziale Kooperations- und Improvisationsbereitschaft in kleinen, flexiblen Face-to-face-Gemeinschaften voraus, und durch diese Herausforderung werden solche Kompetenzen auch gefordert und gefördert.

Die wohlfahrtsstaatlich imprägnierte Sichtweise eines Europäers wird hier durch eine Fülle von neuen Eindrücken herausgefordert.

Es wäre ein reizvolles Unterfangen, anhand des hier skizzierten Beispiels aufzuzeigen, was davon in Europa bzw. in der Schweiz alles unmöglich wäre, weil dem u. a. gewerbepolizeiliche, bau-, arbeitsund sozialversicherungsrechtliche Vorschriften und Bewilligungspflichten entgegenstehen. Inwiefern solche auch im kalifornischen Beispiel ignoriert worden sind, bleibt das Geschäftsgeheimnis und vielleicht auch das Erfolgsgeheimnis meines Gastgebers.

Mike galt in seiner Familie eher als Versager. Er hat nach der Highschool an verschiedenen Stellen mit wenig Erfolg gearbeitet und keine klassische Karriere gemacht. Zusammen mit seiner initiativen und intelligenten Ehefrau philippinischer Abkunft hat er einen kleinen Dienstleistungsbetrieb aufgebaut, der in verschiedenster Hinsicht exemplarisch ist. Vor drei Jahren hat Mike am Rande seines Wohnquartiers eine Kaffeebar, einen so genannten Coffee-Shop eröffnet. (Der in den USA gebräuchliche Begriff Coffee-Shop bezeichnet «das kleine Café an der Ecke», eine Verpflegungsstätte, in welcher neben Kaffee auch andere Getränke, Softdrinks und kleine warme und kalte Mahlzeiten konsumiert werden können und hat nichts mit den holländischen Coffee-Shops zu tun, wo auch weiche Diogen zu haben sind). Mike hat für seine Kaffeebar ein baufälliges Eckhaus gemietet und mit Freunden – improvisiert, aber gegen Entgelt —, umgebaut. Um Bau- und Umbaubewilligungen, Installationsvorschriften usw. hat er sich nicht gekümmert, er weiss nicht, ob das, was er gemacht hat, «legal» ist oder nicht. «Nobody cares».

Die Idee, verschiedene Kaffees und süsse, kaffeeähnliche Trendgetränke zu vermarkten, genügt nun allerdings nicht für einen nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg in dieser Branche. Auf diese Idee kommen auch noch ein paar andere, die versuchen, aus einfachsten Nachfragen und Unterversorgungen (und der Unterentwicklung einer eigentlichen innerfamiliären Koch- und Esskultur) ein Geschäft zu machen. Mike hat – dank seiner cleveren Ehepartnerin und einem kleinen verschworenen Kreis von Kumpeln, die alle auf flexible zusätzliche Kleinjobs angewiesen sind -, seinen Kleinbetrieb aufgezogen, der neben und wegen seiner ökonomischen Ziele im Mikrobereich eminent wichtige soziale und kulturelle Aufgaben wahrnimmt.

«Patchwork»-Belegschaft

Zunächst einmal ist sein Coffee-Shop eine ökonomisch fundierte Selbstorganisation für Randständige. Seine Crew ist bunt zusammengewürfelt und besteht keineswegs aus erfolgsverwöhnten «Spitzenkräften». Mike ist der Boss, aber er muss seine Kumpel mit grösster Flexibilität und Rücksichtnahme behandeln, wenn er Erfolg haben will. In Fällen von Krankheit, Schwangerschaft, sozialen Problemen basieren die Lösungen auf wechselseitiger Loyalität, durchaus nach der egoistischen Kriegerethik: «Überleben und die Kameraden nicht im Stich lassen». Das ist der kleinste Nenner des aufgeklärten Selbstinteresses. Die Rollen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer verlieren sich in einem unendlich komplexen Netz von mehr oder weniger flexiblen Abhängigkeiten, in welchem, — dies sei zugestanden — auch die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen Kaliforniens und der USA eine Rolle spielen mögen. Sie werden gleichzeitig unterlaufen und à la carte genutzt, und das Fallbeispiel kann daher nicht als Modellbeispiel dienen. Es würde zu weit führen, hier das ganze Soziogramm der Belegschaft von 5 bis 10 teilzeitlich Beschäftigten und das patchwork ihrer unterschiedlichen Einnahmequellen darzustellen.

Ende starrer Arbeitsverträge

Bei den minimalen Investitionen vor der Eröffnung hat die Ehefrau von Mike mitgeholfen. Sie konnte dank ihrem 80- Prozent-Job in der Telekommunikationsbranche und ihrem familiären Netzwerk kleine Kredite locker machen. Sie spielt mit Erfolg den Finanzminister des Kleinbetriebs und der Kleinfamilie, eine Lösung, die — entgegen diesbezüglichen Vorurteilen, welche im Finanzbereich eine männliche Vorherrschaft vermuten, in vielen Partnerschaften in der Unter- und Mittelklasse die Regel und nicht die Ausnahme bildet.

Eine klare Trennung von Arbeitszeit, Freizeit und Familienzeit gibt es nicht.

Eine klare Trennung von Arbeitszeit, Freizeit und Familienzeit gibt es nicht. Mikes Ehefrau kommt nach ihrer Arbeit im Büro in den Coffee-Shop und hilft mit. Tom, der 5-jährige Sohn, ist teils in einer (privaten) Spielgruppe, teils «integriert» im Coffee-Shop, teils zu Hause, wo er jeweils von jenem Elternteil betreut wird, der nicht an der Arbeit ist.

Mikes «Erfindungen»

Mikes Coffee-Shop dient auch als «Quartierküche» und als «Mahlzeitendienst». Vor allem in den unteren Schichten fehlen in den USA häufig offensichtlich Zeit und Lust (und gelegentlich auch die Minimalkenntnisse) für die Zubereitung von Familienmahlzeiten. Man holt sich das, was man will aus dem Kühlschrank zu Hause oder eben unterwegs an der Theke des Coffee-Shops oder des «Schnell-Imbisses» und spart damit etwelche Mühen im Haushalt. Möglicherweise ist auch bei vielen Speisen eine kollektive Vor- und Zube¬ reitung wirklich zweckmässiger, hygienischer und – alles in allem — billiger. Dass man einfache Mahlzeiten per Kurier nach Hause bestellen kann (durch kommerzielle, in der Regel nicht gemeinnützige Verteildienste), ist in Kalifornien eine Selbstverständlichkeit, welche vor allem alten Leuten das Verbleiben im eigenen Haus erleichtert. Für den motorisierten «Ausläuferdienst» werden oft Jugendliche eingesetzt (Kinderarbeit?), und vielerorts entstehen dadurch (meist auf «Trinkgeldbasis») kleine Dienstleistungsnetze zwischen jungen und alten Menschen ausserhalb der Kernfamilie. Wenn man etwas Gleichwertiges «gemeinnützig» oder «sozialamtlich» organisieren müsste, würden früher oder später der organisatorische Aufwand und die Kosten explodieren und die zahlreichen, individuell vereinbarten «Extras», die bei persönlichen Dienstleistungen ausschlaggebend sind, würden wegfallen, nach dem Motto «das geht nicht, sonst könnte ja jeder kommen».

In einer Nische des Coffee-Shops befindet sich «die sich selbst ergänzende Quartierbibliothek», funktionierend nach dem Nimm-und-Bring-Prinzip. Sie umfasst bisher etwa 200 Paperbacks (Bestseller, Kinderbücher und Lebensberatungsliteratur). Man entsorgt hier seine Bücher und versorgt sich mit neuen, und der Bestand nimmt kontinuierlich zu. Man kann auch in den Coffee-Shop kommen, um zu lesen, ohne dass etwas konsumiert werden muss. Zunächst wollte Mike eine Art Konsumpflicht durchsetzen, hat dann aber – aus ökonomischen Überlegungen – davon abgesehen. Eine gewisse Grosszügigkeit lohnt sich – vor allem gegenüber jugendlichen Besucherinnen und Besuchern, — so seine Erfahrung.

Der Coffee-Shop wird so zur Präsenz-«Ludothek», wo man andere Spielfreudige trifft.

Um Eltern mit Kindern als Kunden anzulocken, hat Mike einige Spiele angeschafft. Die TV- und elektronikmüden Kids haben zum Teil die klassischen Gesellschaftsspiele (Würfelspiele, aber auch «Schach» und «Mühle») wiederentdeckt. Der Coffee-Shop wird so zur Präsenz-«Ludothek», wo man andere Spielfreudige ttifft und den Eltern – während die Kinder spielen — einen halbwegs ungestörten Schwatz (samt Getränkekonsum) ermöglicht. Gelegentlich spielen auch Erwachsene (im Grosselternalter) mit, und es entsteht eine «intergenerationelle Begegnungsstätte». Ich bin im Coffee-Shop von einer kecken 10-Jährigen angesprochen worden, und ich konnte der Frage «Do you play with me?» nicht widerstehen.

Mehr oder weniger zufällig hat Mike einen kleinen Quartier-Konzertbetrieb aufgezogen, an dem abwechslungsweise Popmusik und Klassik zu hören sind. Ein klassisch geschulter (übrigens hervorragender) Gitarrist, gleichzeitig Musiktherapeut, war auf der Suche nach neuer Kundschaft (Schüler und Patienten) an ihn gelangt. Er hat zunächst unentgeltlich gespielt und die Wirkung seiner Musik am Publikum getestet. Heute veranstaltet er auch Tellersammlungen, bei welchen zwischen 10 und 50 US-Dollar herausschauen. Eine Konsumationspflicht während solchen Konzerten, die bis zu 30 Personen (Grenze des Fassungsvermögens im Lokal) anlocken, gibt es nicht. Erfahrungsgemäss kommt Mike aber auch auf die Rechnung. Bei einer Art «Wunschkonzert» dürfen die Besucherinnen und Besucher ihre Lieblingsmelodien wählen. Dazwischen erklingt auch Klassisches. Eine grosse Zahl von Besuchern wird so erstmals mit Klassikern wie Bach und Vivaldi konfrontiert. Sie finden es fun und wollen oft mehr davon. Mit andern Worten: Es ereignet sich im «Coffee-Shop» auf durchaus kommerzieller Basis auch ein «Kleinprojekt der Musikerziehung». Das Beispiel des Gitarristen hat ansteckend gewirkt, auch ein Saxophonist wirbt für seine musikalischen Dienstleistungen.

Seit einem Jahr ist Mikes Coffee-Shop auch eine kleine Quartiergalerie zur Förderung von jungen Künstlern. Die Benutzung der Wände ist unentgeltlich. Es finden etwa 5 Ausstellungen pro Jahr statt. Bei Verkäufen erhält Mike 25 Prozent des Verkaufspreises. Die Originale kosten zwischen 10 und 500 US-Dollar; ob sich künftige Picassos darunter befinden, bleibt eine offene Frage, die Künstlerinnen und Künstler haben aber Gelegenheit, die (meist gar nicht zimperliche) Publikumskritik unvermittelt mitzuerleben, ein eigentliches «interaktives Kunsthappening».

Alle diese Netze von kleinen sozialen und kulturellen Dienstleistungen hat Mike nicht etwa aus besonderer Menschenfreundlichkeit geknüpft, sondern um mehr Kunden zu haben und seinen Gewinn zu steigern (Profitmaximierung). Seine Gewinne (und die Einkünfte seiner verschiedenartigen «Partner») sind nicht besonders gross. Er wird noch mehr gute und originelle Ideen haben müssen (und sollte noch besser auf die Ratschläge seiner unternehmerisch begabten Frau hören!), bis er dann seinen zweiten Coffee-Shop eröffnen kann, der nach demselben Muster gestrickt sein soll, aber natürlich ein bisschen anders.

Ich glaube nicht, dass Mike zum «Californian King of Coffee-Shops» avancieren wird, dazu ist er zu wenig clever und letztlich doch zu bequem. Aber zum Überleben seiner kleinen Unternehmung, die rein wirtschaftliche Motive hat, aber gerade deswegen auch nachhaltige positive, soziale und kulturelle Folgen zeitigt, wird es vermutlich reichen. Ich hoffe es wenigstens.

Es geht in diesem Beispiel nicht um die arg strapazierte und relativ unwahrscheinliche Karriere vom Tellerwäscher zum Milliardär, und auch nicht um den Schritt vom einfachen Garagelabor zum Elektronikkonzern. Lebensunternehmertum kann sich auch ohne New Economy in den vielfältigen Nischen der «kleinen Dienstleistung» alltäglicher, sozialer und kultureller Bedürfnisbefriedigung durchaus selbstorganisiert und selbsttragend entwickeln und entfalten kann, wenn die vorhandenen Möglichkeiten nicht durch Interventionen und Verbote aller Art eingeschränkt sind und die entsprechende Mentalität der Selbstverantwortung nicht durch gut gemeinte, aber entmündigende und decouragierende staatliche Regulierungen und Förderungsprogramme erstickt wird.

Schweizer Monatshefte – Heft 6, 2001 – Seite 37-40

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