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Die St. Galler Presselandschaft nach dem Verschwinden der „Ostschweiz“

Lesedauer: 10 Minuten

Drei Thesen in Verbindung mit persönlichen Erinnerungen und Reflexionen

Der Verfasser dieses Beitrags, hat mit Jahrgang 1942 noch die Zeit erlebt, in der die St. Galler Presse auf den drei Säulen „Tagblatt“, „Ostschweiz“ und „Volksstimme“ ruhte. Er stützt sich im Folgenden auf Erinnerungen und persönliche Beobachtungen und Eindrücke, die sich nicht an fachmännischen lokal- und pressehistorischen Kriterien oder gar an empirisch erhärteten Untersuchungen messen lassen. Er übt seit einem Jahr beim „St. Galler Tagblatt“ die Funktion des „Merkers“ aus, d.h. er hat eine Kolumne zur Verfügung, die ihm jeden Monat eine freie Kritik der einzigen noch verbliebenen Regional-Tageszeitung erlaubt und eine intensive Lektüre in Verbindung mit Quervergleichen zu anderen Medien voraussetzt. Die Tatsache, dass das „St.Galler Tagblatt“ seit dem Einstellen der „Ostschweiz“ eine Art Monopolstellung inne hat, kann man den Tagblattjournalisten natürlich nicht zum Vorwurf machen. Was soll darum heute ein Rückblick auf eine „gute alte Zeit“ mit ihren scharf konkurrierenden Tageszeitungen? Das Rad der Geschichte kann ja ohnehin nicht zurückgedreht werden. Aber vielleicht gibt es doch einige Beobachtungen und Lehren, welche dazu beitragen, den Verlust an Vielfalt zu kompensieren, statt nur darüber zu jammern.

Eine echte Lücke

Wer den Begriff „Presselandschaft“ verwendet, hat wohl eine geschichtlich geprägte Kulturlandschaft vor Augen. Kulturlandschaften wandeln sich, und die kulturelle und soziale Entwicklung lässt sich so wenig mit Gewalt aufhalten wie die technisch- elektronische Zivilisation. Bei manchen Menschen, die sich für unentbehrlich halten, kursiert nach ihrer Pensionierung der böse Satz: „Die Lücke, die er hinterlässt, ersetzt ihn vollkommen“. Auch Einrichtungen wie Tageszeitungen müssen dem Neuen weichen, wenn sie ökonomisch nicht mehr überlebensfähig sind, selbst wenn das Neue beileibe nicht immer das Bessere ist. Die „Ostschweiz“ hat aus meiner Sicht eine echte Lücke hinterlassen, welche immer noch sichtbar und spürbar ist. Die folgenden Ausführungen sollen nicht einfach die nostalgische Rückschau eines bald Sechzigjährigen St. Gallen-Zürich-Pendlers dokumentieren. Man kann daraus durchaus auch Hinweise auf mögliche Neuentwicklungen ableiten. Die Kommunikationstechnologie ist in einer rasanten Entwicklung und der Medienbereich hat dabei eine Schlüsselfunktion. Es geht bei diesem Wandel nicht darum, Strukturen zu konservieren, im Gegenteil. Wertkonservatismus bedingt sogar eine hohe Bereitschaft, das gute Neue mit dem guten Alten zu verbinden, nach dem konservativen Motto des alten Fürsten in Giuiseppe Tommasi di Lampedusas Roman „Gattopardo“: „Wer will, dass alles bleibt, muss alles ändern“. Das erste „alles“ bezieht sich wohl auf Werte, das zweite auf Strukturen. Ein geschärfter Blick auf die Lücke, welche die „Ostschweiz“ in der St. Galler Kulturlandschaft hinterlässt, kann auch Impulse für die Zukunft geben, Hinweise auf das, was fehlt und das, was allenfalls neu zu schaffen wäre.

Meine erste These hat daher einen gegenwartskritischen Unterton:

Die St. Galler Tageszeitungen waren früher besser, weil sie nicht einfach einen unterhaltsamen Nachrichtencocktail servierten, sondern ihre meinungsbildende Funktion ins Zentrum stellten.

Es gab einen Wettbewerb um bestmögliche Lösungen, und das, was man für das Bestmögliche ansah, wurde in einem weitern Wettbewerb um den Grundstock an Wertvorstellungen getestet. Es herrschte Konkurrenz zwischen verschiedenen Überzeugungen, auf dem politischen Parkett wie auch auf dem internen Forum jedes kritischen Zeitgenossen. Der Wettbewerb bewirkt nicht in erster Linie eine Verbesserung des medialen „Gesamtpakets“, das ja ohnehin nur von einer ganz kleinen Zahl von „professionellen Medienkonsumenten“ vergleichend zur Kenntnis genommen wird. Er verbessert vielmehr die einzelnen Angebote, d.h. jede der „drei Säulen“ für sich, waren, trotz allerhand Schlagseiten und Einseitigkeiten, trotz temporären und personell bedingten Qualitätsschwankungen, insgesamt interessanter, anregender, kantiger und qualitätsbewusster als das heutige Breitspektrum-Angebot. Und, was ganz wichtig ist: Wer als Schreibender einen Beitrag bei der einen Zeitung im redaktionellen Teil nicht unterbrachte, konnte es bei der Konkurrenz probieren und wurde nicht ausschliesslich auf die Leserbriefseite (oder auf den Papierkorb) der regionalen Monopolzeitung verwiesen. Und wer als Redaktor beim Chefredaktor oder Herausgeber nicht ankam, hatte in derselben Region Alternativen, vor allem wenn die Differenzen nicht das Handwerkliche, sondern das Ideologische betrafen. Scharfe Kommentare in der einen Tageszeitung führten allenfalls zu scharfen Gegenkommentaren in der anderen, sodass eine gegenseitige journalistische Macht- und Qualitätskontrolle spielte, da man ja immer dem kritischen Urteil der Kollegen von der „anderen Zeitung“ ausgesetzt war. Dies verhinderte jene Art von „kooperativer Kommunikation“, welche heute anstelle des traditionellen Wächteramts der Presse praktiziert wird. Heute hat man gelegentlich den Eindruck, dass das Konkordanzprinzip sogar die Medien mitumfasst. Die Bereitschaft, den politisch Verantwortlichen auf die Finger zu schauen (oder gar zu klopfen) und ihre Entscheidungen und Projekte kritisch zu hinterfragen sowie die Lust an einer grundsätzlichen, sachbezogenen oder parteipolitischen Polemik treten immer mehr in den Hintergrund. Dafür pflegt man die Suche nach Schwachstellen im Privatbereich und nach Konflikten mit Mitarbeitern. Die Kommentierung von Ratsdebatten und die Berichterstattung über Medienkonferenzen ist zur ziemlich langweiligen Routine degeneriert. Was über Regierung und Verwaltung berichtet wird, ist häufig nicht recherchiert, sondern amtlich gefiltert. Die Informationsproduzenten kooperieren heute allzu häufig ziemlich kritiklos mit ihren amtlichen Informanten, die ja sehr oft auch „aus der Zunft“ stammen.

Lokalgeschichtliche Wurzeln

Die Stadt St. Gallen war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts noch eine reformierte Enklave in einem mehrheitlich katholischen Umfeld, ein politisches und soziokulturelles „Labor“ für die Fortsetzung und Überwindung des Kulturkampfes und für eine Lokalpolitik, in der die konservative Rechte, die liberale Mitte und die sozialdemokratische Linke um Macht- und Stimmenanteile kämpften, wobei die Katholisch-Konservativen, wegen der Zuwanderung aus der Region und auch dank ihres christlich-sozialen Flügels, kontinuierlich zulegten. Die Politik an der Grenze der absoluten Mehrheit der KK führte zu interessanten Ad-hoc- Koalitionen zwischen Freisinnigen und Jungliberalen mit Sozialdemokraten in der Kulturpolitik und zwischen den Christlich-Sozialen und Sozialdemokraten in der Sozialpolitik, ein hin und her wogender Flügelkampf, der das „Links-rechts-Schema“ immer wieder durchbrochen hat und damit an die gegenwärtige politische Grosswetterlage erinnert. Was damals als lokalpolitisches Geplänkel im Rahmen eines historischen „Sonderfalls“ erschien, hat also durchaus auch eine sehr grundsätzliche Komponente, die aktuell geblieben ist. Nur fehlen heute die verschiedenen Zeitungen und die Redaktoren, welche über solche Auseinandersetzungen nachdenken und berichten.

Die Leseranteile entsprachen bis weit in die Sechzigerjahre den Wähleranteilen der Parteien und „man“ wusste genau, wo man hingehörte. Natürlich gab es Umsteiger, Aussteiger, Aufsteiger und Konvertiten, aber die Fluktuation in der Leser- und Abonnentenschaft hielt sich in Grenzen. Es waren in der Stadt St. Gallen noch jene Generationen am Ruder, die von jedem Detailgeschäft wussten, ob die Inhaber katholisch oder reformiert seien. Die Preis- und Qualitätsunterschiede bzw. die Zugänglichkeit mussten schon markant besser sein, bis man – mit schlechtem Gewissen – bei „den andern“ „postete“. Wer unbefangen im Warenhaus oder bei der „Migros“ einkaufte, war bereits nonkonformistisch angehaucht. In der Schule hänselte man sich gegenseitig. „Reformiert hät d’Hose verschmiert“ wurde auf der einen Seite „nachgerufen“, „katholisch rossbolisch“ auf der andern, die einen gingen ins „Bürgli“ und in den „Talhof“ in die Sekundarschule, die andern in die „Flade“. In einer derart „gekammerten“ Gesellschaft gibt es eigentlich zwischen den traditionellen Zeitungen kaum einen Wettbewerb um neue Leser. Die Freisinnig-Demokraten, grossmehrheitlich evangelisch-reformiert, lasen das „Tagblatt“, die Katholisch- Konservativen und die Christlich-Sozialen die „Ostschweiz“ und die Sozialdemokraten die „Volksstimme“, an deren markantem Backsteinbau beim Spisertörli Gilsis grosses Wandbild vom „Volksstimme lesenden Arbeiter“ prangte. Solche frühkindlichen Bildeindrücke prägen die Erinnerung an ein Stadtbild, weil sie eben einmalig sind und Kinderfragen herausfordern: „Worom lest dä Maa döt Zitig?“ Das Bild faszinierte mich, obwohl (oder weil) es damals von den Eltern als eine aufdringliche, „verschandelnde“ Reklame bezeichnet wurde. Nicht nur das Verschwinden dieses Bildes, auch das Verschwinden der „Volksstimme“, bzw. ihrer Nachfolgerin „AZ“ hinterliess eine Lücke in der St. Gallischen Medienlandschaft.

Was bedeutet denn eigentlich der Begriff „Medienlandschaft“ für die Durschnittsleserin und den Durschnittsleser? Nur eine ganz kleine Gruppe hat Zeit und Lust sich als „Argus“ einen immer wieder neuen Überblick über das gesamte Angebot zu verschaffen. Bei den andern entscheidet die Macht der Gewohnheit, die Zeitnot oder die Bequemlichkeit über die Wahl. Immerhin gibt es einen qualifizierten kleinen Kreis, welcher aus eigenem Antrieb oder aus beruflichen Gründen mehrere Medien und Zeitungen vergleichend zur Kenntnis nimmt: Politikerinnen und Politiker, weil sie ein „Feed-back“ für die Auswirkungen ihrer Aktivitäten und Passivitäten suchen und die professionell Schreibenden selbst, weil sie den kritischen Vergleich anstreben und neue Ziele für Lob und Tadel ausfindig machen oder ganz einfach Freude an der Polemik haben. Auch in den Chefetagen werden Quervergleiche angestellt, man sucht ja immer wieder neue Talente, vor allem im Lokaljournalismus und im Ressort Inland. Diese Leserschaft macht vielleicht nur ein paar Promille aus, aber sie hat trotzdem einen bestimmenden Einfluss auf die Qualität.

Dazu ein Beispiel: Der Historiker Herbert Lüthy, der auch einer der bedeutendsten Publizisten unseres Landes gewesen ist, hat seine ersten journalistischen Sporen in St. Gallen abverdient und zwar zunächst bei der „Volksstimme“, dann beim „St. Galler Tagblatt“, für das er während des Zweiten Weltkriegs wöchentlich eine viel beachtete Kolumne schrieb, die später unter dem Titel „Fünf vor Zwölf“ als Buch herauskam. Dieser Sammelband ist nicht nur historisch interessant, er ist auch als Dokument einer hohen journalistischen Kultur heute noch lesenswert. Man geht nicht fehl, wenn man eine solche Qualität auch mit einer Vielfalt regional konkurrierender Tageszeitungen in Verbindung bringt. Eine „diagonale“ publizistische Karriere „von unten links bis oben rechts“ wird eben begünstigt, wenn es auch einen Wettbewerb um junge Talente gibt.

Verlust der Vielfalt

Die Frage ist allerdings erlaubt, ob aus der Sicht der Leser die vielgerühmte Pressevielfalt, deren Verschwinden man heute nostalgisch beklagt, nicht weitgehend eine Fiktion war. Möglicherweise gab es jene Leserschaft, und jenen Abonnenten- und Inserentenkreis gar nicht, der aufgrund von Qualitätskriterien eine rationale Entscheidung für die eine oder andere Zeitung fällte und damit als „unsichtbare Hand“ für eine Aufrechterhaltung und Steigerung des Gesamtniveaus sorgte.

Anstelle einer voreiligen Antwort sei hier die zweite These dieses Beitrags formuliert und begründet:

Der heutige Konzentration im Zeitungsangebot fördert den Konformismus und behindert Kreativität und Vielfalt.

Der konservative österreichische Kulturhistoriker Hans Sedlmayr hat nach dem Zweiten Weltkrieg den Begriff „Verlust der Mitte“ geprägt, heute müsste man mit einem Blick in die Presselandschaft viel eher den „Verlust der Vielfalt“ beklagen. Alles drängt zur Mitte, noch genauer: in jenes schmale Segment zwischen Mitte –links und Mitte-Mitte in welchem sich viele Journalisten offensichtlich so wohl fühlen.

Es ist stets nur eine kleine Minderheit, welche tatsächlich an einer vielfältigen Medienlandschaft interessiert ist, nämlich diejenigen die sich aktiv mit neuen, originellen, oder sogenannt veralteten und dissidenten Gedanken auf der Produktionsseite des Meinungs- und Ideenmarktes engagieren. Diese Minderheit hat auch ein Interesse an Äusserungen, welche nicht mit der eigenen Meinung übereinstimmen. Jede Zeitung kennt das Phänomen der wutentbrannten Abonnenten, die kündigen oder mit der Kündigung drohen, wenn die „eigene Zeitung“ nicht immer das schreibt, was man gerne lesen würde. Solche Zuschriften stammen selten von wirklich führenden Köpfen und kritischen Lesern, denn diese wollen ja nicht in erster Linie Bestätigungen, sondern auch Gegenmeinungen und Herausforderungen zum Widerspruch lesen. Die Mehrheit schätzt allerdings eine breite unterhaltsame Mitte-Mitte Berichterstattung, welche ungefähr dem entspricht, was alle andern auch berichten. Das fragwürdige Motto lautet: Nur ja nicht von jenem massenmedialen Schema abweichen, das „vorschreibt“ welche Politiker, welche Persönlichkeiten die „good guys“ und welche die „bad guys“ sind.

Die „Ostschweiz“ hat übrigens lobenswerterweise auch interne Flügelkämpfe zwischen den „richtigen und rechten KK“ und den Christlich-Sozialen relativ offen ausgefochten. Parteipolitische Flügelkämpfe werden in den Massenmedien als Makel angeprangert oder für Schaukämpfe ausgenützt. Die differenzierte Druckerpresse könnte daraus auch heute noch etwas Positiveres machen und damit die starren Koalitions- und Konkordanzfronten aufweichen. Unter dem Markenzeichen „Wertkonservative“ könnten sich beispielsweise verschiedene bürgerliche Parteiexponenten zusammenfinden und unter dem Titel „Anti-Etatisten“ und „Antizentralisten“ ebenfalls, aber dazu bräuchte es die entsprechenden Zeitungsdebatten.

Persönliche Reminiszenzen

Es mag auf den ersten Blick erstaunen und es wäre wohl in den Zeiten des Kulturkampfes und seiner Nachwehen undenkbar gewesen, dass ein Erzliberaler (der Schreibende leitet in Zürich das „Liberale Institut“, einen kleinen „Think-tank“ zur Verbreitung liberaler Gedanken, und er ist dort am radikalliberalen Flügel angesiedelt !) einen positiv gefärbten „Nachruf“ auf die Ostschweiz verfasst hätte. Auf dem Hintergrund des oben formulierten Bekenntnisses zur Meinungsvielfalt als einem Wert an sich, wird plausibel, dass hier keinerlei Zynismus oder Schadenfreude mit im Spiel ist.

Einen ersten Einbruch in die scharfe Trennung der St. Gallischen „Ostschweiz“- und „Tagblatt“- Subkultur habe ich in der eigenen Familie erlebt, als sich meine Mutter in den Sechzigerjahren die „Ostschweiz“ abonnierte, weil sie als alteingesessene Stadtbürgerin die Berichterstattung über Lokales dort besser fand als im „Tagblatt“. Leserinneninteressen können offenbar familiär tief verwurzelte parteipolitische Vorurteile ausser Kraft setzen. Mein Vater, freisinniger Alt-Kantonsrat, Zeit seines Lebens stolz auf seine appenzellische Herkunft, hat allerdings die „Ostschweiz“ nie in die Hand genommen, seine Zuneigung zum „Tagblatt“ hielt sich allerdings auch in Grenzen… Der „Ostschweiz“ hat er nie verziehen, dass sie seinerzeit noch in den Fünfzigerjahren gegen das sittlich gefährdende „gemischte Baden“ im sogenannten Familienbad auf „Drei Weihern“ und gegen ein für „gemischtes Baden“ zugängliches städtisches Schwimmbad Rotmonten gekämpft hat. Welcher sozial- und kulturgeschichtlich interessierte junge Historiker gräbt in einer Diplomarbeit nach den Schätzen dieser Debatte, die heute wohl auch auf katholischer Seite nur noch eine Mischung von Kopfschütteln und Schmunzeln auslöst?

Mein eigenes (kritisches!) Interesse an der „Ostschweiz“ entstand in der Zeit als mein ehemaliger Mitschüler Edgar Oehler bereits in jungen Jahren zum Chefredaktor avancierte. Er kommentierte seinerzeit mein heimatschützerisches Engagement für die Erhaltung des alten Helvetiagebäudes wortgewaltig als eine Aktion bei der sehr viel Geld „verjubelt und vertubelt“ worden sei. Damals ärgerte ich mich darüber, heute würde ich solches – obwohl ich den Abbruch nach wie vor für einen bedauerlichen Fehler halte – loben als ein Beispiel für jenen angriffig engagierten Lokaljournalismus, der vor pointierten Stellungnahmen nicht zurückschreckt. Mein erstes restlos positives Leseerlebnis in der „Ostschweiz“ war die äusserst positive Besprechung meines „Zitatenschatzes für Planer und Verplante“ durch Hermann Bauer. Wer weiss, wie emotional Buchautoren auf positive (und negative und nicht stattfindende) Besprechungen reagieren, kann ermessen, was eine positive Rezension für einen jungen Autoren bedeutet. Allein schon darum müsste ich das Verschwinden der „Ostschweiz“ bedauern, möglicherweise wären ja spätere Bücher auch so positiv besprochen worden…

Kein Grund zum Klagen

Trotz „Zeitungssterben“ ist die hiesige Medienlandschaft nicht einfach verödet und verarmt. Die Vorstellung, dass es eine kritische Leserschaft gibt, welche sich in einem täglichen Plebiszit nach einem sorgfältigen Quervergleich, d.h. nach der Lektüre verschiedener Zeitungen schliesslich für sein „Leibblatt“ entscheidet, ist naiv. Man kann zwar am Radio problemlos den Sender wählen und findet dann schliesslich einen Favoriten, den man fix einstellen und dann per Klick abrufen kann, man kann sich auch durch die verschiedensten Fernsehsender hindurchzappen, bis man zu seiner Lieblingsserie gelangt, man kann auch auf dem Internet surfen, bis man den passenden „Link“ gefunden hat, aber bei Tageszeitungen ist dies, trotz elektronischer Versionen, wohl nicht die Regel. Die Zahl der Menschen, welche ihre tägliche Zeitungslektüre am Bildschirm absolvieren, dürfte immer noch verschwindend klein sein.

Dritte These:

Die Vorzüge jenes verschwundenen publizistischen „Wettbewerbs zwischen verschiedenen Überzeugungen“ könnten auch in der heutigen Medienlandschaft besser verwirklicht werden als dies gegenwärtig der Fall ist.

Ein weites neues Feld, das m.E. viel zu wenig beackert wird, ist der kritische Dialog zwischen verschiedenen Medientypen: Fernsehen, Radio, regionale und überregionale Tagespresse, Gratisanzeiger, Wochenpresse, internationale Zeitungen und Zeitschriften, Monatszeitschriften, Internet . Die Tatsache, dass ein Teil dieser Medien in der Region St. Gallen zum Teil dieselben ökonomischen Trägerschaften haben, ist allerdings keine gute Voraussetzung. Die ökonomisch bestimmende Rolle des „St. Galler Tagblatts“ im gesamten Medienbereich verlangt nach einem kritischen publizistischen Gegengewicht, ein Desiderat, das allein durch eine interne selbstkritische Kolumne wie den „Merker“ nicht erfüllt werden kann.

Es fehlt hier der Raum (und die Zeit für eine intensive vergleichende Recherche) um die verschiedenen konkurrierenden Erzeugnisse in der St. Gallischen Medienlandschaft vergleichend und kritisch zu würdigen. Die drei Gratisanzeiger „Anzeiger“, „St. Galler Nachrichten“ und „Ostschweizer Spiegel“ versuchen alle ein breites Publikum anzusprechen und bringen grundsätzlich denselben Mix an unterhaltsamem Breitband-Infotainment ohne Tiefgang und mit wenig Profil. Hie und da wird das belanglose „Rauschen“ allerdings unterbrochen durch originelle, gut recherchierte Beiträge, welche auf echte Schwachstelle aufmerksam machen, die „den andern“ entgangen sind. (Da nimmt man sogar in Kauf, wenn gelegentlich einmal kräftig „danebengehauen“ wird). Aber einen Ersatz für die verschwundenen zwei Säulen „Ostschweiz“ und „Volksstimme“ (bzw. AZ) kann man in den Gratisanzeigern beim besten Willen nicht erkennen.

Ein Lichtblick ist die regionale Kulturzeitschrift „Saiten“, die in vielerlei Hinsicht kreative Dissidenz praktiziert und originelle Beiträge liefert, obwohl sie natürlich innerhalb ihres Genres auch eine Art Konformismus pflegt und damit eine Mischung von Zustimmung, Widerspruch und Ärgernis provoziert. Ohne „Saiten“ wäre aber unsere Medienlandschaft wesentlich ärmer, auch wenn ein journalistischer und graphischer Qualitätssprung nach oben und ein etwas offeneres Meinungsspektrum, – nicht innerhalb der einzelnen Artikel, aber innerhalb der ganzen Zeitschrift – ,durchaus noch drinliegen würde. Die grösste Gefahr für ein solches Experiment ist die Versuchung, sich auf die Förderung durch öffentliche Mittel einzulassen, was solche Zeitschriften vom dauernden Lernprozess des Marktes abkoppelt. Der Markt ist nicht jener unerbittliche brutale Diktator und Terminator, als welcher er oft wahrgenommen und dargestellt wird. Er ist eine „Schule ohne Lehrer“, er ist eine permanente „opération vérité“, die auch kreative Kräfte freisetzt, beispielsweise mit der Frage „Für wen machen wir dies?“ und „Sind wir für unsere Adressaten auch so viel wert wie wir kosten?“

Das Leben bestraft nicht nur diejenigen, die zu spät kommen, sondern auch diejenigen, welche die unerbittlichen Zusammenhänge zwischen Angebot und Nachfrage nicht respektieren. Auch im Medienbereich, und gerade im Medienbereich, gibt es letztlich keine Stelle, die auf die Dauer ein unausgeglichenes Budget akzeptiert, unbezahlte Rechnungen entgegennimmt und aufgrund irgend einer geheimnisvollen Urzeugung neuer Finanzmittel immer wieder begleicht. Die „Ostschweiz“ hat ihre Rechnungen zwar immer noch aus eigenen Mitteln bezahlt. Sie hat mit dem Beschluss zur Einstellung aber rechtzeitig die Konsequenzen aus den Realitäten des Marktes, insbesondere des Inseratenmarktes gezogen. Ein schmerzlicher Entscheid, gleichzeitig aber eine Herausforderung an die Medienschaffenden der Region Ostschweiz, den erwähnten „Wettbewerb zwischen verschiedenen Überzeugungen“ trotz dieser tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderung der Medienlandschaft vital zu erhalten und soweit möglich noch zu intensivieren.

Publiziert in:
Die St. Galler Presselandschaft nach dem Verschwinden der Ostschweiz,
in: Die Ostschweiz 1974 –1997, Ein Erinnerungsbuch mit Texten von Agostino Cozzio, Rosmarie Früh, Silvan Lüchinger, Robert Nef, Benno Schneider und Rudolf Schwager, VGS Verlagsgemeinschaft, St. Gallen 2001, S. 92ff.

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