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Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartsbewältigung

Lesedauer: 10 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 11, 2000 – Seite 33-37)

DOSSIER LIECHTENSTEIN – CHANCEN UND RISIKEN DER KLEINHEIT

Ein Interview von Robert Nef mit Peter Geiger, Forschungsbeauftragtem am Liechtenstein-Institut

Peter Geiger, geboren 1942, Studium der Geschichte, der Germanistik und Romanistik an der Universität Zürich und je 1 Jahr an der Universität Wien und an der University of Washington in Seattle/USA, Promotion in Zürich, Lehrer an der Kantonsschule in St. Gallen, Dozent an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen PHS, Privatdozent an der Universität Fribourg, Forschungsbeauftragter am Liechtenstein- Institut zum Projekt «Liechtenstein im Zweiten Weltkrieg».

Seit 1987 wird am damals gegründeten, unabhängigen Liechtenstein- Institut die Zeitgeschichte des Ländchens erforscht. Peter Geiger konnte dort 1987 beginnen, die 1930er Jahre und die Weltkriegszeit zu untersuchen. Es hat sich gezeigt, dass ein sehr grosses Bedürfnis nach Wissen — «wie es wirklich gewesen ist» — besteht, und zwar bei jenen, welche die Zeit selbst durchlebt haben, wie bei den Jüngeren. Aufsein Buch zum Zweiten Weltkrieg wartet man gespannt. Dunkle Stellen der liechtensteinischen Kriegsvergangenheit werden heute nicht mehr totgeschwiegen, manches davon harrt aber noch der detaillierten Aufklärung.

Robert Nef: Sie haben sich als Historiker mit der Geschichte Liechtensteins während des Zweiten Weltkriegs befasst. Gibt es da noch «dunkle Stellen», die man bisher totgeschwiegen hat?

Peter Geiger: Es gibt auch in der liechtensteinischen Kriegsvergangenheit «dunkle Stellen» – neben hellen Flächen, die man nicht vergessen darf, nämlich die den Nationalsozialismus ablehnende Haltung der grossen Mehrheit der Bevölkerung sowie die Aufnahme und Rettung jüdischer Flüchtlinge. Liechtenstein, neutral, unbewaffnet, mit der Schweiz zollverbunden, ist unversehrt durch den Krieg gekommen. Ein winziges Zwischenländchen, zählte es 1941 gerade 11 000 Einwohner. Dennoch war das Fürstentümchen keine Insel – wenn auch oft so wahrgenommen —, sondern vielfach mit dem Krieg vernetzt. Dunkle Seiten betreffen die einheimische nationalsozialistische «Volksdeutsche Bewegung» — eine kleine, aber gefährliche, anschlussbereite Minderheit —, die gut 100 Hitlerkriegsfreiwilligen, die für das Reich Spionierenden, die Antisemiten, die Anpasser auch, die freundliche Diplomatie gegenüber dem Reich vielleicht. Als problematischer Bereich erscheint auch die Produktion von Gütern für das kriegführende Reich — 20-mm-Flabkanonenhülsen für die Wehrmacht oder Zubehör für Motoren und Lastwagen —, neutralitätsrechtlich gestattet, in Liechtenstein Arbeit schaffend, von den Alliierten und den Opfern des Hitlerkrieges aber damals und heute zwangsläufig als «Kollaboration» verstanden, als Zusammenarbeit mit dem Feind. Als dunkle Stellen sind heute Teile der Flüchtlingspolitik sowie insbesondere der Umgang mit Vermögen von Nationalsozialisten und von deren Opfern ins Zentrum des Interesses gerückt, indem Vorwürfe erhoben werden, Liechtenstein habe geholfen, Nazivermögen zu verstecken und Raubgut zu verschieben.

Sie fragen, ob solche dunklen Punkte «bisher totgeschwiegen» wurden. Dies hiesse, dass über Bereiche, die dem Land oder einer Partei oder einzelnen Personen unangenehm wären, mit Absicht nicht geredet, nicht geschrieben und nicht geforscht worden wäre, und zwar bis heute nicht. Hier gilt es zu differenzieren. Tabus waren die «dunklen Stellen» in der Tat bis vor etwa eineinhalb Jahrzehnten. Zwar wurde durchaus über NS-Verwicklungen geredet, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Es fehlte auch das sichere Wissen. Denn Forschung zu Liechtenstein in der NS-Zeir begann erst nach Mitte der 1980er Jahre. Dies hat nicht nur mit Tabus zu tun, Liechtenstein besass keine zeitgeschichtliche Forschungsstätte. Die ersten wissenschaftlichen Aufsätze zur Weltkriegsvergangenheit kamen von aussen, von deutschen Autoren, nämlich Joseph Walk (1986), Horst Carl (1988) und Gerhard Krebs (1988). Erst seit 1987 wird am Liechtenstein-Institut die Zeitgeschichte des Ländchens erforscht. Ich konnte dort 1987 beginnen, die 1930er Jahre und die Weltkriegszeit zu untersuchen. Die Tabus zerflattern wie Papiervorhänge, wenn man faktisch, offen, ernsthaft und ohne aktuelle politische Absichten über die Vergangenheit aufklärt, referiert und publiziert. Mein 1997 herausgebrachtes zweibändiges Werk «Krisenzeit» über die liechtensteinischen dreissiger Jahre ist im Lande geradezu aufgesogen worden, die zweite Auflage erscheint in wenigen Wochen. Und auf das Buch zum Zweiten Weltkrieg, das ich gegenwärtig verfasse, wartet man gespannt.

Gibt es so etwas wie eine eigenständige liechtensteinische Geschichtsschreibung?

Ja, eine solche existiert, einfach im kleinen Massstab. Dabei ist Liechtensteiner Geschichte wegen der Kleinheit des Staates immer Landes-, Lokal- und Personengeschichte in einem, und zugleich ist die Einbettung in die Geschichte der Nachbarländer und in die «grosse» Geschichte zu leisten, gerade in der Zeitgeschichte, die auch diesen Flecken Erde und deren Bewohner mitreisst. 1847 hat Peter Kaiser mit einem Werk über die liechtensteinische Landesgeschichte begonnen, er hat sie mit der Geschichte Churrätiens, des Rheintals und Europas verknüpft. Seit 1901 werden im Jahrbuch des Historischen Vereins Beiträge zur liechtensteinischen Geschichte veröffentlicht, bisher liegen 99 Bände vor, darin gewinnt die Zeitgeschichte zusehends Raum (www. hvfl.li). Analog zum Historischen Lexikon der Schweiz und in Zusammenarbeit mit diesem entsteht gegenwärtig das Historische Lexikon des Fürstentums Liechtenstein (HLFL). Historiker und Historikerinnen erwerben ihre Kompetenzen an auswärtigen Universiräten. Die heutige Geschichtsforschung in Liechtenstein ist keinesfalls eine patriotische Veranstaltung, sie war es schon für Peter Kaiser nicht.

Die Schweiz ist in den letzten Jahren wegen der nachrichtenlosen Konten, des Goldhandels und der Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges ins Kreuzfeuer der internationalen Kritik geraten. Sitzt Liechtenstein — zusammen mit der Schweiz — aufder Anklagebank oder gibt es einen «Sonderfall Liechtenstein»?

Liechtenstein hat nicht anders gehandelt als die Schweizer Bundesbehörden.

Liechtenstein, neutral, unbewaffnet, mit der Schweiz zollverbunden, ist unversehrt durch den Krieg gekommen.

Sowohl als auch, und teilweise gar nicht. Als die Schweiz in den letzten Jahren, seit 1995, wegen ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg in die Kritik und unter zunehmenden Druck geriet, blieb es um Liechtensteins Kriegsvergangenheit merkwürdig still. Liechtenstein besitzt keine Nationaloder Zentralbank. In der Kriegszeit bestanden hier zwei unbedeutende Banken, die staatliche Spar- und Leihkasse/Liechtensteinische Landesbank (Bilanzsumme 1945: 33,4 Mio Fr.) und die private, fürsteneigene Bank in Liechtenstein (BiL, Bilanzsumme 1945: 4,8 Mio Fr.). Im Goldhandel waren sie nicht tätig. Nach nachrichtenlosen Konten suchten wie die Schweizer Banken auch die Landesbank und die BiL, es kamen bei der BiL keine, bei der Landesbank drei Konten mit zusammen rund 3000 Franken zum Vorschein, ein Holocaustbezug ergab sich bisher nicht. Das erstaunt nicht, da es seinerzeit kaum ratsam war, jüdisches Geld in Liechtenstein in Sicherheit bringen zu wollen, denn das Ländchen war ständig anschlussgefährdet. Die Flüchtlingspolitik wiederum wurde von der Schweiz auch für das liechtensteinische Gebiet wahrgenommen, da dessen Grenze zu Vorarlberg dank Zollanschlussvertrag von 1923 von den schweizerischen Grenzorganen kontrolliert wurde. Liechtenstein wurde daher von der Kritik an der schweizerischen Flüchtlingspolitik gar nicht als separates Völkerrechtssubjekt wahrgenommen, sondern im Grunde wie ein Schweizer Kanton gesehen. Bei genaueter Betrachtung der liechtensteinischen Politik gegenüber Flüchtlingen ist indes durchaus auch ein eigener Handlungsspielraum feststellbar, und hier hat Liechtenstein nicht anders gehandelt als die Schweizer Bundesbehörden. Deren Weisungen wurden durchgeführt. Viele von auswärts, etwa Wien, um Einreise Bittende erhielten abschlägigen Bescheid. Illegal über die Grenze Gekommene wurden den Schweizer Behörden übergeben, gelegentlich von der liechtensteinischen Polizei auch wieder, jedenfalls bis zum Kriegsausbruch 1939, über die grossdeutsche Grenze abgeschoben. Einzelne jüdische Verfolgte durften noch während des Krieges einreisen, zum Beispiel im Februar 1940 aus Stuttgart Flory Heilbrunner und ihre Tochter Inge Heilbrunner. Rund 120 jüdische Flüchtlinge lebten den Krieg hindurch in Liechtenstein. Was schliesslich die Erfassung deutscher Vermögenswerte bei Kriegsende betrifft, so war Liechtenstein in alle Abmachungen der Schweiz explizit eingeschlossen, sowohl in jene mit der Currie-Delegation 1945 wie in das Washingtoner Abkommen von 1946 und alle Nachfolgevereinbarungen. Ein «Sonderfall Liechtenstein» bezüglich der Raubgut-Anklagen, wie sie an die Schweiz gerichtet wurden? Das wird sich beantworten lassen, wenn der vom World Jewish Congress diesen Sommer erhobene, schwere Vorwurf durch Archivforschung abgeklärt wird, Liechtenstein beziehungsweise «liechtensteinische Finanzinstitute» hätten «den Nazis geholfen», Raubvermögen, nämlich «Gold, Geld und gestohlene Kunst», zu verschieben und zu verstecken. Solches Verschieben – weniger ins Land herein, sondern im Ausland — hätte über liechtensteinische Gesellschaften geschehen können.

In der Geschichte Liechtensteins wechseln Phasen der engeren Zusammenarbeit mit der Schweiz mit Phasen der grösseren Eigenständigkeit und der engeren Verbindung mit Osterreich. Was sind die Gründe für diesen Klimawandel im nachbarschaftlichen Zusammenleben?

Als Staat bedurfte Liechtenstein immer der Anlehnung.

Ernst Ludwig Kirchner, “Bergbach mit Steg im Wald-, 1921, Öl auf Leinwand. Photo: Heinz Preute, Vaduz. © Ingeborg und Dr. Wolfgang Henze-Ketterer, Wichtrach/Bern. Kunstmuseum Liechtenstein.

Der Grund für nachbarschaftliche Klimaschwankungen liegt in der aussenpolitischen Interessenlage des Landes. Kleinheit, Rand- und Zwischenlage waren und sind für Liechtenstein existentiell bestimmend. Als Staat bedurfte Liechtenstein immer der Anlehnung. Das Gebiet hatte vorerst eigenstaatlich bleiben können, weil es zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern, zwischen der Schweiz und Österreich und ganz am Rande Deutschlands übrig blieb, arm, keiner Beachtung wert – ausser für den fernen Fürsten von Liechtenstein, der es 1699 und 1712 erwarb, um mit dem reichsunmittelbaren Land den realen Fürstenstatus zu erlangen. Des Fürsten Einfluss wiederum ermöglichte das staatliche Überleben des Ländchens von den napoleonischen Wirren bis zum Ersten Weltkrieg. Bis 1918 war Liechtenstein eng mit Österreich verbunden, zoll-, geld-, post-, verwaltungs-, bildungsmässig. Der vom Fürsten als Regierungschef eingesetzte Landesverweser (bis 1848 Landvogt) war jeweils ein Verwaltungsfachmann aus Österreich. Nach dem Fall des Doppeladlers wechselte Liechtenstein den Partner und lehnte sich eng an die Schweiz an, mit Zollanschlussvertrag von 1923, nun mit eigenen Regierungsmitgliedern und stärkerer Mitbestimmung des Volkes aufgrund der Verfassung von 1921. Die Entwicklung in Österreich, dessen Anschluss an Hitlerdeutschland und der Zweite Weltkrieg rückten Liechtenstein nochmals näher an die Schweiz, an deren Seite man vom Krieg verschont blieb. In der NS-Zeit hatten liechtensteinische Nationalsozialisten gemeint, man müsse sich, um wirtschaftlich überleben zu können, Grossdeutschland anschliessen. In den Nachkriegsjahrzehnten blieb Liechtenstein lange auf den grossen schweizerischen Partner ausgerichtet, schwamm im Wirtschaftsaufschwung mit, nutzte das schweizerische Verwaltungsund Infrastruktursystem ausgiebig. Seit den 1960er Jahren setzten Bemühungen ein, die Aussenbeziehungen stärker «multilateral» zu gestalten, die Eigenstaatlichkeit zu betonen und diese auch völkerrechtlich durch Beitritt zu internationalen Gremien anerkennen zu lassen und abzusichern. Dies gelang 1978 durch die Aufnahme in den Europarat, in den 1990er Jahren durch den Beitritt zur Uno, zur WTO, zur Efta, zum EWR. Dem kam der Umstand entgegen, dass das internationale Klima für Kleinst-Staaten günstiger geworden war — nicht zuletzt im Zuge der Dekolonisation von Inseln. Den Wechseln in den Nachbarschaftsbeziehungen liegt denn immer das zugrunde, was man etwa in den USA als national interest, als existentielles Interesse des Staates umschreibt. Und dieses war vorab wirtschaftlicher und praktischer Art — nämlich in den grossen Wirtschaftsraum eingebunden zu sein und auch einen Teil der Staatsaufgaben durch den grösseren Partner erledigen zu lassen —, verbunden noch mit politischen Präferenzen, zudem abhängig von der Geneigtheit der Nachbarn oder der Staatenwelt, dem Kleinen Hand zu bieten.

Vergangenheitsbewältigung hängt immer auch mit Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung zusammen. Liechtenstein ist in den letzten Monaten als Finanzplatz international unter Beschuss gekommen. Sehen Sie das als einen Markstein in der Geschichte oder eher als eine oberflächliche Krise?

Gegenwartsbewältigung auf der Grundlage der Vergangenheit bedeutet einfach, dass man sich den aus früheren Handlungen und Entwicklungen resultierenden Fragen ehrlich stellt.

Den Wechseln in den Nachbarschaftsbeziehungen liegt denn immer das zugrunde, was man etwa in den USA als «national interest» umschreibt.

Als Historiker kann man keine Vorausbewertung der Gegenwart für die Geschichte abgeben. Gegenwartsbewältigung auf der Grundlage der Vergangenheit bedeutet einfach, dass man sich den aus früheren Handlungen und Entwicklungen resultierenden Fragen ehrlich stellt. Dazu gehört Klarheit über die politisch-moralischen Kriterien. Einfache Anleitungen für gegenwärtiges Handeln kann man nicht aus «geschichtlichen Parallelen» gewinnen — diese gibt es ohnehin nicht wirklich. Neu ist in der gegenwärtigen Situation nicht die Kritik am seit den 1920er Jahren bestehenden Finanzplatz; eine Kampagne der Kritik hat es schon 1932 und 1933 von österreichischer und deutscher Seite gegeben, und im Oktober 1933 reiste der liechtensteinische Regierungschef Hoop nach Berlin, um dort mit höheren Beamten der Hitlerregierung den Vorwürfen — Liechtenstein sei ein «Raubstaat», eine «Eiterbeule», welche die Steuerkraft Europas zerfresse («Wiener Weltbühne», 23. Februar 1933) – entgegenzutreten, indem er die Relationen zurechtrückte. Auch im Innern des Fürstentums gab es seit der Entwicklung des liechtensteinischen Gesellschaftswesens wegen des zuströmenden, nicht durch eigene Arbeit erworbenen Geldes ein latentes, sporadisch aufbrechendes moralisches Unbehagen. Neu aber ist heute das nahezu weltweite Ausmass der Kritik am liechtensteinischen Finanzplatz, neu auch die konzertierte, konkrete Aktion auf europäischer Ebene. Gelang es Regierungschef Hoop 1933 noch, des Landes Armut und Kleinheit überzeugend darzulegen, so ist heute das Land reich und als Finanzplatz grösser. Ist die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Geldwäscherei unbestritten, so ist der grössere und schwierigere Brocken aber der Schutzhafen für Steuerfluchtgelder. Hier ist nicht nur das offizielle Liechtenstein mit den gtösseren Ländern Europas im Widerstreit, auch im Lande selber scheiden sich die moralischen Bewertungen, untetlegt auch von wirtschaftlichen Zukunftsängsten.

Die Beliebtheit von Kleinstaaten ist immer wieder Schwankungen unterworfen. Ob man «small» auch als grösserer Nachbar «beautiful» findet, hängt von verschiedenen Umständen ab, und möglicherweise gibt es auch zwischen Staaten so etwas wie Neid. Zur Zeit scheint in der EU gegenüber den Kleinen ein eher rauher Wind zu wehen und man wirft ihnen mangelnde Solidarität und ein egoistisches Nischendasein vor. Wie beurteilen Sie die Lage?

Wiederum historisch gesehen: Im 19. Jahrhundert wurde im Deutschen Bund wie in der Frankfurter Paulskirche die «Kleinstaaterei» beklagt, «Vaduzchen» wurde belächelt, den kleinsten Staaten sprach man weitherum ein Lebensrecht ab. Bismarck erboste sich, weil der Vertreter Liechtensteins in der Bundesversammlung regelmässig gegen Preussen, mit Österreich, stimmte. 1920 lehnte der Völkerbund Liechtenstein, das um Aufnahme ersuchte, ab: Es sei zu klein und nicht in der Lage, selber alle seine staatlichen Obliegenheiten zu erfüllen. Es folgten lange Jahrzehnte, die man als «Phase des Wohlwollens» gegenüber dem «armen» und «liebenswürdigen» Kleinstaat Liechtenstein bezeichnen könnte: Das Fürstentum wurde von den engeren und weiteren Nachbarn – der Schweiz, Österreich, Deutschland, schliesslich den KSZE-Staaten und den Europaratsmitgliedern — überwiegend mit freundlicher, teils mitleidig-gütiger Herablassung behandelt. Das hat sich teilweise gewandelt. Jetzt sehen die andern: «Small is successful». Und sie fragen sich, auf wessen Kosten. Liechtenstein war immer auf Freunde und Goodwill angewiesen. Beide sind heute, wenn es ums Geschäft geht, weniger leicht zu erhalten.

Man vertritt heute sowohl die These vom Ende der Nationalstaaten als auch die Gegenthese von einer Renaissance der nationalen, regionalen und lokalen Gemeinschaftsidee. Ist Liechtenstein ein liebenswürdiges Relikt aus früherer Zeit oder ein erfolgversprechendes Experimentjenseits der grossbürokratischen, zentralistischen Nationalund Sozialstaaten?

Gewiss hat das Fürstentum zwischen Rhein und Rätikon Züge einer vergangenen Zeit bewahrt, indem es als einziges der vielen hundert kleinen Staatswesen des ehemaligen Reiches Deutscher Nation heute weiter besteht und in der Uno sitzt. Erfolg haben konnte es freilich wohl nur im Rahmen der grösseren Staaten und Strukturen, von diesen profitierend, zwischen ihnen die Nische nützend. Liechtenstein ist auch Sozialstaat, ist im Kleinen auch Zentralstaat, nur muss es vieles, was andern obliegt, nicht tun: keine Armee unterhalten, keine Flug-, Bahn-, Schiffslinie, kein Atomkraftwerk, kein Satellitennetz, keine Forschung zu Kosmos, Malaria oder BSE, kein Kohle-, Silber-, Eisenbergwerk, keine Stahl- oder Aluminiumhütte, keinen Frieden sichern. Mit andern Worten: Erfolgsmodell für viele oder alle Staaten kann Liechtenstein nicht sein, weil die Welt kaum mit lauter Kleinstätchen funktionierte.

Von Gottfried Keller — einem durchaus geschichtsbewussten Dichter — stammt die bemerkenswerte Aussage, dass sich die Schweiz in fernerer Zukunft einmal in Europa auflösen konnte wie ein Stück Zucker. Ist das auch ein Szenario für die Zukunft des Fürstentums Liechtenstein? Sanfte Selbstauflösung im Rahmen einer wirtschaftlich und politisch bedingten Europäisierung und Globalisierung oder Zwangsintegration unter dem Druck der Grossen, welche Sonderfälle und «Luxuskabinen» im internationalen Dampfer nicht mehr tolerieren?

Solange die Bevölkerung den poUtischen Willen und Mut zur Eigenstaatlichkeit hat, wird sich das liechtensteinische Zuckerstücklein nicht auflösen.

Gottfried Keller hat weit gedacht. Die Geschichte des liechtensteinischen Gemeinswesens zeigt, dass die Gefahr oder Tendenz zur Selbstauflösung durch Anschluss an ein grösseres Gebilde — so 1815, so 1848, so in der NS-Zeit — immer dann bestand, wenn das politische Umfeld in Bewegung geriet und Gewaltherrschaft von aussen drohte oder wenn man sich nicht mehr sicher war, ob man als Staat die Zukunft noch allein bestehen könne. Solange die Bevölkerung den politischen Willen und Mut zur Eigenstaatlichkeit hat, wird sich das liechtensteinische Zukkerstücklein nicht auflösen. Wohl aber wird sie weitere Integration innerhalb eines hoffentlich friedlichen Europa, bei Bewahrung der eigenen politischen und kulturellen Identität, erfahren. Und «Luxuskabine» im internationalen Dampfer wird es wohl weniger bleiben können. Nur war es dies auch erst seit einigen Jahrzehnten und übrigens auch nie für alle Bewohnerinnen und Bewohner des Landes. Liechtenstein ist und bleibt wegen seiner Kleinheit zwar ein «Sonderfall». Zugleich wird es — heute schon — ein immer normaleres Mitglied der Staatengemeinschaft. Und nochmals: Was wirklich kommt, wissen wir nicht. Dennoch muss man sich dazu Gedanken machen.

Schweizer Monatshefte – Heft 11, 2000 – Seite 33-37

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