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Wenn die Vernunft schläft…

Lesedauer: 7 Minuten

(Schweizer Monatshefte, Heft 9, 2000, S. 9-11)

POSITIONEN

Offener Markt – auch für Aberglauben, Esoterik und Irrtümer

Die Kritik des Aberglaubens ist eine der wichtigsten Aufgaben der Intellektuellen. Nur: Wenn es doch so einfach wäre, den Aberglauben vom Glauben zu unterscheiden. Jeder Glaube ist schon als Aberglaube bezeichnet worden, und was die einen als Glauben verehren istfür andere nichts als ein Trugbild. Dies gilt nicht nur bei religiösen Überzeugungen, es gibt ja auch den Glauben an die Vernunft, an den Fortschritt und an den gegenwärtigen Stand des schulwissenschaftlichen Irrtums.

Gibt es überhaupt so etwas wie eine kollektive Vernunft? Was hat man nicht alles schon für «vernünftig» gehalten! Friedrich August von Hayek hat seinem berühmten Salzburger Vortrag zum Thema «Die Irrtümer des Konstruktivismus» (Tübingen 1975) als Motto den Satz von Goya vorangestellt: «El sueño de la razon produce monstruos.» Sueño heisst «Schlaf» und «Traum». Demnach kann man die Inschrift auf verschiedenste Arten übersetzen und deuten: Wenn die Vernunft schläft, treten Ungeheuer hervor. Oder: Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer usw. Lob des Rationalismus, oder Kritik des Rationalismus? Dialektik der Aufklärung, Dialektik als Aufklärung? Dialektik von Vernunft und vermeintlicher Vernunft, Unvernunft und vermeintlicher Unvernunft?

Wenn man alle Menschen, die sich je mit Esoterik und sogenannten «Grenzwissenschaften» befasst haben, aus dem Repertoire der valablen Gesprächspartner streichen wollte, wäre viel Prominenz dabei: Shakespeare, Goethe, Mozart, Dürer, Rembrandt, Klee, auch Bach, der Ton- und Zahlenmystiker, sowie die vielen gebildeten Juden, welche ihre Rationalität an der Schriftauslegung (auch der esoterischen, kabbalistischen!) geschult haben und oft den Schritt vom Eingeweihten zum Skeptiker und Zyniker vollzogen, vom Mythos zum Logos, aber auch: durch den Mythos zum Logos, – und wieder zurück. Kabbala ist eine Art Relativitätstheorie des Sinns, eine Auseinandersetzung zwischen Sinn, Hintersinn und Unsinn. Mystik ist eine oft notwendige Parodie auf das Denken, Romantik die Antwort auf eine dogmatische Klassik, und die Übergänge zu dem, was Theodor Adorno in seinen «Thesen gegen den Okkultismus» als «Metaphysik der dummen Kerle» geisselte, sind fliessend.

Markt als Gegengift Als kritischer Rationalist, vertraue ich — vermischt mit etwas Misstrauen -, der Vernunft, aber ich ak¬ zeptiere, dass auch sie nicht unfehlbar ist, und dass es ausserhalb, oberhalb, unterhalb und innerhalb der Vernunft vieles gibt, das wir einfach nicht wissen, von dem wir möglicherweise nur eine Ahnung oder eben keine Ahnung haben. In diesem ganzen «Ausserhalb» steckt sowohl Böses als auch Gutes, und die Selektion ist nicht so einfach, weil das alles nämlich nicht «angeschrieben» ist, auch nicht mit «links» und «rechts». Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur die Vermeidung von grossen und zentralisierten Strukturen, welche von vermeintlichen Besserwissern errichtet werden. Die nonzentralistische Idee des Marktes – auch der Eitelkeiten, der Mythen, der Verrücktheiten, der Irrtümer usw. — enthält für mich das Gegengift zum kollektiven zentralistischen, zerstörerischen amtlich beglaubigten Megairrtum. Ein Chaos von lauter dezentralen kleinen Irrtümern und Zufällen, die konkurrierend aufeinander losgelassen werden, ist eben viel ungefährlicher als eine scheinbar nach dem Wahren, Schönen und Guten ausgerichteten zentral verwaltete Ordnung von echten oder vermeintlichen Gutmenschen.

Linksintellektueller Monopolanspruch auf «Vernunft» Besteht heute überhaupt eine «zentralistische Bedrohung»? Ist der nonzentrale Markt nicht allgegenwärtig? Man soll den Teufel nicht an die Wand malen, aber es gibt in den wohlfahrts- und kulturstaatlichen Bürokratien Europas einen zunehmenden Hang zur political correctness, der auf einem Monopolanspruch beruht, zu wissen, was «vernünftig» ist, und zwar im kulturellen, im sozialen und im politischen Bereich. Der diskrete Charme der Demokratie besteht aber gerade darin, dass es Regierungswechsel geben kann, beispielsweise zwischen «links» und «rechts». Wenn nun aber von der sogenannten «Europäischen Wertegemeinschaft» der Wechsel von «Mitte links» zu «Mitte rechts», wie er in Österreich stattgefunden hat, als Katastrophe empfunden wird, die sogar eine Isolierung rechtfertigt, so hat diese Wertegemeinschaft den Boden des demokratischen Pluralismus verlassen. Am robustesten sind politische Systeme, die föderalistisch, d.h. pluralistisch und heterogen sind und die auch im Kleinen unterschiedliche Experimente und wechselnde Koalitionen zulassen. Eine Katastrophe wäre es, wenn der friedliche Wechsel aufgrund neuer Mehrheiten und Koalitionen unter den jeweils vorherrschenden Populisten nicht mehr möglich sein sollte, weil eine Zentralmacht zugunsten einer bestimmten Gruppierung interveniert.

Es gibt heute auch eine Faschismuskritik, welche die politischen, kollektivistischen und totalitären Komponenten des Nationalsozialismus in den Hintergrund rückt, und die Hauptwurzel des Übels im Bereich des bürgerlich-christlichen Antisemitismus und der esoterischen, «faschistoiden» Heilslehren sucht. Dies eröffnet eine Fülle von Perspektiven und von «ideengeschichtlichen Linien», die mehr oder weniger direkt zu Hitlers Massenverbrechen geführt hätten, und die nach dem Motto «Wehret den Anfängen» einen politischen Zensurbedarf auslösen. Adolf Hitler war nicht nur ich- und machtbesessen, er stand auch immer wieder unter dem Einfluss solcher Irrlehren. Er ist aber nicht in erster Linie darum zum Massenverbrecher geworden, weil er abstruse Dinge gelesen und verbreitet hat, sondern weil ihm eine rationale Organisation namens National- und Zentralstaat die Macht zum effizient organisierten Verbrechen im Dienst der «Banalität des Bösen» im grossen Stil ermöglichte. Die damalige Kommunikationstechnologie und der damals vorherrschende Stand des allgemeinen sozialwissenschaftlichen Irrtums («man» war im wissenschaftlichen und intellektuellen Establishment hüben und drüben dem antidemokratischen, antiliberalen und etatistisch-kollektivistischen Machbarkeitswahn verfallen) begünstigte den totalitären Zentralismus und den Führerkult.

Francisco Goya, «Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer».

Problematische These der «Wegbereiter» Dieser National- und Zentralstaat ist ursprünglich ein Produkt der Vernunft gewesen, erfunden von den Jakobinern, die so gut wussten, was «gut» und was «böse» ist, was Glaube und was Aberglaube ist, dass sie die Andersdenkenden mit der Guillotine köpften. Auschwitz und der Gulag, als systematische Vernichtung der Volks- und Klassenfeinde, der Feinde dessen was man als «guter Citoyen» bezeichnet, hatte seine Wurzel in der verhängnisvollen, durchaus rational nachvollziehbaren Gleichheitsidee Rousseaus und der Jakobiner. Man hat Hitlers Antisemitismus auch auf seinen Hang zu esoterischen Lehren zurückführen wollen, und damit diesen ganzen Bereich ins Umfeld des «faschistoid» Bürgerlichen gerückt. Ist der gefährliche Aberglaube, die «Metaphysik der dummen Kerle», die eigentliche Wurzel der Massenverbrechen? Oder ist der nationalsozialistische Rassenwahn einfach eine «logische Fortentwicklung» des während Jahrhunderten schwelenden, weit verbreiteten Antisemitismus? Sind etwa Luther, Theodor Fontane, Jacob Burckhardt und C. G. Jung aufgrund ihrer judenfeindlichen Bemerkungen gar Vorläufer oder Wegbereiter Hitlers? Weder der auch im Bürgertum des 19. Und 20. Jahrhunderts latent und manifest vorhandene Antisemitismus, noch der – keineswegs nur deutsche — Hang zu mehr oder weniger abstrusen esoterischen Heils- und Geheimlehren hat direkt zu den Massenverbrechen der beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts geführt.

War auch der Sozialismus eine Ersatzreligion, eine verführerische Heilslehre? Fairerweise sollte man auch die ganze sozialistische Ideologie nicht direkt mit den stalinistischen Massenmorden in Verbindung bringen. Interessanterweise ist man heute im allgemeinen aber sehr tolerant gegenüber Menschen, die sich — unter Berufung auf die Vernunft – für den Kommunismus begeistert haben, und zwar durchaus im Bewusstsein, dass man eben die Klassenfeinde umbringen musste, weil die ja — aus dieser Sicht — viel gefährlicher und verwerflicher waren als etwa die unschuldigen Opfer des Hitlerschen Rassismus. Gewiss sind aber alle Opfer des Totalitarismus, des roten und des braunen Terrorismus, grösstenteils unschuldige Menschen gewesen. Sowohl die zahlenmässige Rechnerei («auf welcher Seite sind mehr Menschen umgekommen?») als auch das Gegenüberstellen von «guten» und «schlechten» Motiven, sind zynisch. Wer heute aber solches äussert und schreibt, läuft auf dem Hintergrund des «Historikerstreits» bereits Gefahr, als «Verharmloser des Holocaust» diffamiert zu werden.

Man darf die antisemitische Äusserungen nicht verharmlosen und man sollte auch die Gefährlichkeit von Aberglauben, Sektierertum und Esoterik nicht herunterspielen. Die blinde Bewunderung für irgendeine charismatische Figur, eine Guru-Persönlichkeit, die eine Heilslehre verkündet, ist immer riskant, aber die Verurteilung von Persönlichkeiten durch ein unfehlbares «Gericht der Vernunft», welche Gelehrte, Künstler und Politiker nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Neigungen, ihrer privaten Ausrutscher, ihrer Phantasien und Träume verdammt, ist ebenfalls problematisch. Während in Paris die Guillotine sauste, verehrte man in der Nôtre Dame die «Göttin Vernunft», — fragt sich nur wessen und welche Vernunft… Weder die bereits Genannten, noch Machiavelli, Rousseau, Richard Wagner und Nietzsche können für das verantwortlich gemacht werden, was selektive Rezipienten und schreckliche Vereinfacher aus ihrem Werk abgeleitet haben und zur Rechtfertigung ihrer Verbrechen missbrauchten.

Warnung vor einer Arroganz der Wertegemeinschaft

Das Strafrecht sollte Leib und Leben, Eigentum und Ehre schützen, allenfalls auch die öffentliche Ordnung (klar und eng definiert), aber nicht die «öffentliche Moral» und die «politische Korrektheit» der Weltanschauung, der Lektüre und der Meinungsäusserung, auch nicht wenn diese offensichtlich subjektiv, dumm und irrtümlich ist. Bald brennen sonst die Scheiterhaufen mit «esoterisch entarteter» Literatur, bald ruft man nach einem EU-Imprimatur für politisch korrekte Texte, abgesegnet von einer europäischen Anti-Rassismus- und Anti-Esoterik-Kommission, der «Hüterin der Europäischen Wertegemeinschaft». Werden demnächst auch alle EUskeptischen Äusserungen als «nationalistisch» und «rassistisch» und «rechtsextrem» oder tendenziell «faschistoid» diffamiert?

Die nonzentralistische Idee des Marktes – auch der Eitelkeiten, der Mythen, der Verrücktheiten, der Irrtümer usw. – enthält j das Gegengift zum kollektiven zentralistischen, zerstörerischen amtlich beglaubigten Megairrtum.

Immerhin gibt es Werte, die unbedingt geschützt werden müssen. Überall, wo im Namen einer Idee gemordet und getötet und gefoltert wird, ist höchste Alarmstufe angezeigt. Schon die Erlaubtheit von «Gewalt gegen Sachen» diskreditiert für mich eine «Bewegung», aber ich weiss, Gewalt wird eben stets als Gegengewalt legitimiert, beidseits der Schützengräben. Die Frage, ob bereits die Verbreitung gewaltträchtiger Theorien oder ob erst die Tatsache der praktischen Umsetzung kriminell wird, ist schwer zu beantworten. Im liberalen Rechtsstaat gilt grundsätzlich die Vermutung zugunsten der Freiheit der Meinungsäusserung. Gewaltprävention durch Präventivgewalt, und sei es auch «nur» der Zwang eines Boykotts, ist eine gefährliche Gratwanderung. Hätte man die Nazi-Verbrechen durch ein Publikationsverbot von «Mein Kampf» oder durch eine Redeverbot für Hitler im Keim ersticken können? Oder ist dieses Buch von vernünftigen Leuten zu Unrecht ignoriert bzw. nicht gelesen oder nicht rechtzeitig ernst genommen worden? Hätte ein Publikationsverbot für Karl Marx den Gulag verhindert? Auch die Frage, wann, wo und wie tatsächliche Gewalttätigkeiten einen internationalen Interventionsbedarf auslösen, ist sehr schwer zu beantworten. Der Grundsatz «Wehret den Anfängen» ist bereits innenpolitisch heikel, als Maxime der Sicherheits- und Aussenpolitik untergräbt er die internationale Friedensordnung, weil man auch durchaus vernünftige Äusserungen als «Anfang der Unvernunft» deuten kann, und nicht alles Unvernünftige, Dumme und Falsche gleich auch schon den Anfang der Gewalttätigkeit markiert. Vernunft kann eben von niemandem gepachtet werden, sie ist auch nicht immer auf den ersten Blick und unfehlbar von der Unvernunft zu unterscheiden. Sie bildet und bewährt sich als Wert in einem endlosen Austausch- und Bewährungsprozess, der nach dem Prinzip offener Märkte funktionieren muss.

Kurz – und trotz allem: Es lebe die freie Meinungsäusserung (auch im Bereich des Aberglaubens, des religiösen, politischen und kulturellen Sektiererund Aussenseitertums), es lebe die freie Kritik an frei geäusserten Meinungen, es lebe die freie Kritik an der Kritik an der Kritik usw. — aber bitte nicht von Staates wegen, nicht bildungs- und kulturpolitisch untermauert und gefördert, und erst recht nicht unter dem Druck politischer Sanktionen.

Schweizer Monatshefte, Heft 9, 2000, S. 9-11

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