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Wider den Drang zur Mitte

Lesedauer: 5 Minuten

(NZZ – INLAND – Freitag, 30. Juni 2000, Nr. 150, Seite 16)

Ein Plädoyer für die Treue zu liberalen Prinzipien

Von Robert Nef, Leiter des Liberalen Instituts, Zürich

Im politischen Wettbewerb um demokratische Mehrheiten gibt es zwei Verhaltensmuster, die sich eigentlich gegenseitig ausschliessen, die aber in der Praxis trotzdem immer wieder kombiniert werden. Das eine beruht auf dem kompromisslosen Vertreten von Überzeugungen, das andere auf einer permanenten Analyse der Marktchancen, auf einer optimalen Anpassung an die gerade populären Trends und einem Hinausschieben von polarisierenden Grundsatzentscheiden. Der Autor versteht seinen nachfolgenden Beitrag als Plädoyer für das Grundmuster von Profil und Abgrenzung und gegen eine Strategie, die auf Koalitionspartner und Kooperationen ausgeht.

Welche Strategie letztlich mehr Erfolg verspricht, ist schwer zu entscheiden, umso mehr als sie ja kaum je in idealtypischer Weise zur Anwendung kommen. Kurzfristig ist wohl die «breite Abstützung» und hohe Anpassungsbereitschaft erfolgversprechender, langfristig lohnt sich wohl die Prinzipientreue, aber natürlich nur, wenn das Prinzip als solches gut fundiert ist. Von Liberalen wird oft in erster Linie Kompromissbereitschaft erwartet, das, was man etwas missverständlich als «Liberalität» bezeichnet. Dies hat dazu geführt, dass man den Liberalismus in der Mitte zwischen Sozialismus und Konservatismus angesiedelt hat.

Radikalität im besten Sinne

Nachdem sich die Politik heute vornehmlich im Mittelfeld abspielt und die charakteristischen Merkmale von Linken und Rechten theoretisch immer schwerer zu bestimmen sind, fragt man sich, ob man angesichts dieses Drangs zur Mitte nicht vermehrt jenen Prinzipien und Problemen nachspüren sollte, an denen sich die Geister scheiden, und da sollte man als Liberaler nicht vor einer gewissen Radikalität im ursprünglichen und besten Sinn zurückschrecken. Es geht nicht darum, Hass und Zwietracht zu säen. Eindeutige Grenzziehungen auf Grund unterschiedlicher Überzeugungen sind auch im Bereich der Ideen und Interessen eine bessere Voraussetzung für die friedliche Kooperation als das Lavieren in der Grauzone fauler Kompromisse. Ein Wettbewerb von klar definierten Ideen bringt bessere Resultate als das gemeinsame Umherirren in einem undefinierbaren politischen Machtkartell und die Suche nach einem gemeinsamen Feind, gegenüber dem man sich persönlich profilieren kann.

Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte

Die seit der Französischen Revolution übliche Zweiteilung der politischen Strömungen, «links» gleich progressiv, «rechts» gleich konservativ, hat schon viele Missverständnisse, Vor- und Fehlurteile bewirkt. Das am weitesten verbreitete und verhängnisvollste Missverständnis hängt mit dem «Drang zur Mitte» zusammen. Die Vorstellung von der «Wahrheit in der Mitte» ist tief verankert und fast unausrottbar attraktiv. Sie leuchtet spontan ein und kommt sowohl psychologischen als auch ästhetischen Bedürfnissen entgegen. Das Unübliche erscheint als riskant. Dass Entwicklungsprozesse immer wieder durch sogenannte Extrempositionen angeregt und in Gang gehalten werden und die Evolution und der wissenschaftliche Paradigmenwechsel aus lauter kleinen Revolutionen besteht, fällt dabei ausser Betracht.

Gegenüber dem Modell von zwei Extrempositionen, die sich gegenseitig ausschliessen und die irgendwo in der Mitte zu optimieren wären, nach dem Motto «weder links noch rechts, sondern ein Mix als Drittes», kennt die Politik auch das duale Modell von Position und Opposition, das heisst entweder links oder rechts.

Kein Platz für dritte Wege

Ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die Wahrnehmung von Politik geht vom nationalkonservativen Staatsdenker Carl Schmitt aus, der die Politik nicht als Suche nach dem Kompromiss, sondern als Herausforderung zum Entscheid zwischen Freunden und Feinden deutete. Da bleibt kein Platz für dritte Wege, denn es geht um Sieg oder Niederlage nach dem biblischen Motto: «Wer nicht für mich ist, ist wider mich». Diese «Digitalisierung» politischer Fragestellungen durch die Reduktion auf Ja/Nein bzw. entweder/ oder hat ebenfalls etwas Attraktives und Populäres. Auf der eigenen, der «guten Seite» liegt «das Reich des Lichts», auf der andern «das Reich der Finsternis». Ein Drittes ist ausgeschlossen. Solche schreckliche Vereinfachungen begünstigen das Entstehen totalitärer Strukturen, und Politik wäre aus dieser Sicht eine Aufgabe der Führung und Erziehung zu dem, was man aus linker oder rechter Perspektive für das «richtige Bewusstsein» hält. Das machtbezogene Politikverständnis nach dem Freund/Feind-Schema konkurriert bezüglich Attraktivität mit dem Kompromissschema, das letztlich auf die dauernde Suche nach dritten Wegen hinausläuft.

Ein eindrückliches Beispiel für die Propagierung des Mittelwegs ist das auch im bürgerlichen Geschichtsverständnis tief verankerte Bild der ideologisch-politischen Entwicklung im 19. Jahrhundert. Traditionellerweise wird zunächst der «Aufstieg des Kapitalismus im Industriezeitalter» dargestellt, der zu den «bekannten Missständen und Missbräuchen» geführt habe, die – fast unbestrittenerweise – als eine Folge des wild wuchernden und ungebremsten Kapitalismus geschildert werden, den es nach der national-sozialstaatlichen Zähmung im 19. Jahrhundert auf globaler Ebene im 21. Jahrhundert wiederum zu zähmen gelte. Der Einfluss von Charles Dickens und Emile Zola und von Jean-Paul Sartre und Bert Brecht hat beim sozial sensibilisierten Bildungsbürgertum nachhaltiger gewirkt als jener von Marx und Engels. Untersuchungen über das «Massenelend», das es schon vor dem Aufkommen kapitalistischer Produktionsweise vielerorts gab, bleiben weitgehend unbeachtet. In einer zunehmend verelendenden Gesellschaft wäre aber die allgemeine Lebenserwartung gesunken und nicht gestiegen, wie dies nachweislich der Fall ist.

Gegenüber dem Extrem des «Laissez-faire- Kapitalismus» wird dann die Heilslehre des Marxismus als «notwendiges Gegenmittel» bemüht, das zwar in Richtung Eigentumskritik und Kollektivismus auch zu weit ging, aber doch notwendige Korrekturen bewirkte. Etwas salopp formuliert: «Kapitalismus pur» war schlecht, aber effizient, «Marxismus pur» war unrealistisch, aber heilsam, eine mittlere Mischung von beidem, das heisst Sozialdemokratie, soziale Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaat war und ist «die Lösung in der Mitte», welche vom Kapitalismus die Produktivität und vom Sozialismus das soziale Mitgefühl kombiniert. Politik wird auf diesem Hintergrund als ein Seiltanz zwischen «zu wenig» und «zu viel» vom einen oder andern gedeutet. Das eine Prinzip soll das andere zähmen. Ralph Raico hat in seiner messerscharfen ideengeschichtlichen Analyse des deutschen Liberalismus («Die Partei der Freiheit», Stuttgart 1999) die Folgen dieser verhängnisvollen Kompromisse in der sogenannten Mitte aufgezeigt. Der deutsche Liberalismus ist im 20. Jahrhundert an seiner fatalen Koalitionsbereitschaft mit linken und rechten totalitären Tendenzen gescheitert.

Empirische Untersuchungen könnten zeigen, dass eine grosse Mehrheit dem skizzierten Geschichts- und Politikbild verhaftet ist. Ist es darum richtig? Haben wir nicht zu viel von diesem derzeit politisch korrekten und populären, dafür aber nicht den Tatsachen entsprechenden Deutungsmuster?

Prinzipientreue trotz Pluralismus

An diesem Punkt des Argumentierens ist natürlich die Versuchung gross, trotzdem nach einem dritten Weg zu suchen, als Ausweg aus einer Alternative, welche zur Falle zu werden droht: «Freund/Feind-Schema» einerseits und «opportunistischer Mittelweg» anderseits. Muss man von Fall zu Fall eigene Prinzipien über Bord werfen und «à contrecoeur» inkonsequent sein? Ist der resignierte Schritt vom radikalen Liberalismus zur verschwommenen Liberalität wirklich notwendig? Ist eine solche Resignation wirklich notwendig?

Das Denken in Alternativen, das Politisieren nach dem Muster Ja/Nein ist auch möglich, wenn man das Carl Schmitt’sche Freund/Feind-Schema verwirft. Ausgangspunkt ist eine Sicht, bei welcher nicht ein «System A = Kapitalismus» bzw. «Marktwirtschaft», einem System «B = Sozialismus» bzw. «Planwirtschaft» oder «Interventionismus» gegenübersteht, sondern ein konstruktivistisches System, das zwangsweise, mit ideologischen Motiven, die links, rechts oder grün sein können, interveniert, einem spontanen Non- System, das Zwang ablehnt oder höchstens als notwendiges Übel toleriert. Also nicht A gegen B, sondern A gegen Nicht-A. Etwas Drittes gibt es diesbezüglich nicht. Trotzdem stehen wir nicht vor der Wahl, für das eine oder das andere um Sieg oder Niederlage zu kämpfen. Radikaler Liberalismus lässt sich auf folgende Grundpostulate reduzieren: Wo Gewalt war, soll Vertrag werden, wo Zwang war soll Freiwilligkeit werden, konstruktivistische, allgemein verbindliche Reglementierung soll durch vielfältige, nicht zentrale Spontanität ersetzt werden, Bevormundung durch Selbstverantwortung, je umfassender und je schneller, desto besser. Eine solche Sichtweise erlaubt auch eine schrittweise Annäherung, ohne dass dabei das Ziel verraten wird. Im Zentrum steht die Privatautonomie, und diese ist wiederum verknüpft mit dem Privateigentum, auch an der eigenen Person.

Es gibt also eine Brücke vom Prinzipiellen zum Graduellen, es gibt Kompromisse, welche nicht das Dritte als das Beste in der Mitte suchen, sondern die zweit- bzw. drittbeste Lösung tolerieren, solange es eben nicht möglich ist, Mehrheiten von der Überlegenheit der besten, das heisst der bevorzugten Idee zu überzeugen. Wer beim Umsetzen von Ideen, die er für richtig hält, Abstriche macht, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, sucht eben nicht nach einem dritten Weg, sondern zeigt Geduld, Beharrlichkeit und Sinn für das jeweils Realisierbare. Ideen und Prinzipien haben immer ihre Gegner, mit denen man sich nicht leichtfertig und voreilig versöhnen sollte, weil man sonst letztlich zum Dienst am Gegenprinzip gezwungen wird und mitverantwortlich wird für Verhältnisse, die im Widerspruch stehen zu den eigenen Idealen.

Widersacher sind auch in der Politik keine Feinde, die man vernichten sollte, sondern notwendige Herausforderer, welche eine dauernde Überprüfung und Verbesserung der eigenen Position ermöglichen. – Freiheit und Meinungspluralismus bedingen sich gegenseitig, der wichtigste Wettbewerb ist der Wettbewerb der Ideen. Wer in diesem Wettbewerb etwas Profiliertes anbietet, wird immer seine Widersacher haben, darum gibt es weder ein «Ende der Geschichte» noch ein «Ende der Ideologien». Entscheidend ist aus liberaler Sicht, dass zur Realisierung von politischen Konzepten gegenüber jenen, die sie nicht teilen, kein staatliches Zwangsmonopol mobilisiert wird, auch nicht via Fiskus und Förderungssubventionen. Die Bedrohungen von aussen und von der Gegenseite verschwinden nie vollständig, und die Probleme in der Mitte sind nie endgültig lösbar, aber die Suche nach dritten Wegen erweist sich aus dieser Sicht als höchst fragwürdige Versuchung, die eigene Überzeugung der opportunistischen Anpassung zu opfern.

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