1999: Rückblick und Ausblick
Als Leiter des Liberalen Instituts werde ich immer wieder aufgefordert, den Liberalismus so kurz und so einfach wie möglich zu definieren. Hier die bisher kürzeste Fassung, als Formel, in drei Worten: «Liberalismus gleich Marktwirtschaft plus Menschenrechte»: L= M+M. Wem das zu lapidar ist, und wer mir noch ein paar Worte mehr kreditiert, dem schlage ich jeweils Folgendes vor: «Marktwirtschaft plus Menschenrechte plus freiwillig praktizierte Moral»: M+M+fpM. Je länger die Formel wird, desto intensiver werden die Spannungsfelder und desto mehr wächst der Erklärungs- und Interpretationsbedarf.
Eine andere, prägnante Formel für die Umschreibung des liberalen Kerngehalts geht auf Ludwig von Mises zurück, dessen Werke für den Liberalismus des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung haben: «Wo Zwang war, soll Vertrag werden», eine Formel, die an einen andern bedeutenden Wiener anknüpft, an Sigmund Freuds «Wo Es war, soll Ich werden.» Damit ist bereits das erste Argumentationsfeld abgesteckt, auf dem das Thema abzuhandeln ist: die Willensfreiheit.
Es gibt keine einheitliche liberale Doktrin zum Thema Willensfreiheit. In Anlehnung an Molière kann man sagen «Es gibt solche die dazu «Ja» sagen (etwa Kant), es gibt solche die dazu «Nein» sagen (etwa Hume) und ich sage (wie etwa J.St. Mill) «Ja» und «Nein». Für die Materialisten «bestimmt das Sein das Bewusstsein» (etwa bei den Genen). Dies kann auch aus liberaler Sicht nicht generell bestritten werden. Für die Idealisten bestimmt aber «das Bewusstsein das Sein», (etwa im politischen Prozess oder im Bereich der Caritas), und für die Dialektiker wirken beide Bestimmungen aufeinander ein.
Bei Marie von Ebner-Eschenbach, einer intelligenten Kennerin der menschlichen Psyche, lesen wir, dass nur wer nie geliebt und nie gehasst habe, an den freien Willen glauben könne. Bei Nietzsche finden wir zum Thema Willensfreiheit folgendes Dilemma: «Wer die Unfreiheit des Willens fühlt, ist geisteskrank, wer sie leugnet ist dumm». Die Option fürs eine oder andere fällt in dieser Situation besonders schwer, und auch das sonst so beliebte «Sowohl-als-auch» drängt sich hier nicht auf.
Wer weder geisteskrank noch dumm sein möchte und trotzdem an so etwas wie einen freien Willen glaubt, sucht gern nach dem «Trost der Philosophie». Es darf doch nicht sein, dass der Mensch nur ein Spielball von verborgenen Trieben und Mächten ist. Wäre dies der Fall, so würde die ganze Konstruktion des persönlichen Einstehen-Müssen für die Folgen von Willensakten, die Verantwortung und auch die Schuld – beispielsweise bei der Verletzung von Menschenrechten – zusammenbrechen. «Gut» und «böse» verlören ihren moralischen Sinn und das politische Engagement würde zu einem sinnlosen Aufstand gegen die Macht des historisch- dialektischen bzw. des gottgewollten Schicksals. Freiheit als metaphysische Unabhängigkeit von Notwendigkeiten physikalischer und biologischer Art ist den Menschen nicht gegeben. Wir dürfen und sollen uns aber in ethischer Hinsicht die Fähigkeit des Willens gegenseitig zumuten, mit vernünftigen Motiven andere Antriebe zu beeinflussen. Wir können auch in psychologischer Hinsicht davon ausgehen, dass es eine Freiheit gibt, zwischen verschiedenen möglichen Handlungen zu entscheiden.
Vom Ursprung des Liberalismus und der Menschenrechte
Neben der Aufforderung, den Liberalismus so kurz wie möglich zu definieren gibt es eine zweite beliebte Fragestellung. Wer war der erste Liberale? Wann ist die Idee der Freiheit erfunden bzw. entdeckt worden?
Es gibt hier verschiedene Datierungen. Eine recht weit verbreitete durchaus sinnvolle Datierung geht ins Jahr 1789 zurück. Die «Erklärung der Menschenrechte» in der französischen Nationalversammlung wird häufig als gemeinsame Geburtsstunde des politischen Liberalismus und des Sozialismus gedeutet, jene zwei sich zum Teil überlappenden und zum Teil konkurrierenden Strömungen gegen den Feudalismus des Ancien Régime. Etwas früher war – was in Europa gern «vergessen» wird – die «Virginia Bill of Rights». Beide Dokumente werden aber zu Recht als eine Frucht der Aufklärung bezeichnet.
Wir Europäer bzw. Amerikaner haben aber weder die Freiheit noch die Menschenrechte «erfunden» bzw. «entdeckt». Sie sind angelegt im Fundus der menschlichen Kulturgeschichte, die allerdings auch die grauenvollsten Beispiele der Verletzung von Menschenrechten überliefert. Die Geburtsstunde der Freiheit, ist das Bewusstwerden der Möglichkeit «Nein» zu sagen, wenn jemand anderer etwas von uns verlangt, das wir selbst nicht wollen.
Das Alte Testament verlegt dieses «Nein» gegenüber Vorschriften bereits an den Anfang der Menschheitsgeschichte, als Eva das Verbot brach, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, der es den Menschen ermöglicht, zwischen «gut» und «böse» zu unterscheiden. Wenn wir die Menschheitsgeschichte bis in die mythische Vorgeschichte hinein verfolgen, kommen wir zum Schluss, dass der erste liberale Mensch eine Frau war: Eva. Sie ist deswegen oft genug für die Vertreibung aus dem Paradies verantwortlich gemacht, verflucht und gescholten worden. Wer die Freiheit liebt, und die Unterscheidung zwischen «gut» und «böse» als Voraussetzung für die Anerkennung von Menschenrechten hält, wird zwar vielleicht nicht den Verlust des Paradieses verschmerzen, aber in Dankbarkeit der ersten Dissidentin gedenken, die gleichzeitig die «Entdeckerin» der Freiheit ist, weder Aristoteles, noch John Locke, noch Adam Smith, sondern Eva.
In der griechischen Mythologie setzt sich allerdings ein Mann, Prometheus über das Verbot des Zeus hinweg, und bringt den Menschen das Feuer, das gleichzeitig nützlich und gefährlich ist. Aber auch hier ist kreative Dissidenz im Spiel. Ein weiteres Beispiel kreativer Dissidenz verkörpert aber auch im griechischen Kulturkreis eine Frau: Antigone; für sie waren Sittengebote wichtiger als das auf Staatsräson abgestützte Recht. Das Gefühl der Freiheit entsteht im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Exodus aus der Knechtschaft, eine Weigerung, abhängig zu sein.
Widerstandsrecht und Gruppenautonomie
Widerstand allein genügt aber nicht um gleichzeitig Freiheit und Menschenrechte zu schützen. Dies kommt im Gründungsmythos der Schweiz besonders deutlich zum Ausdruck. Friedrich Schiller weist in seinem «Wilhelm Tell» auf den engen Zusammenhang zwischen Widerstand und Gemeinschaft hin. Tell erschiesst den Tyrannen Gessler und wird zum Inbegriff des gerechtfertigten Tyrannenmörders. Man hat oft die Geburtsstunde der Freiheit mit dem Tyrannenmord und dem Widerstandsrecht gleichgesetzt, und auch in diesem Artikel wurde die Bedeutung der Dissidenz und des Nein-Sagens stark betont. Dies ist aber nur die Hälfte der politischen Befreiung. Wer sich vom Tyrannen befreit, steht nachher vor dem Problem, gemeinsame Probleme gemeinsam beweglich zu lösen. Rechte – auch Menschenrechte – müssen nicht nur durch die Bedrohung durch Tyrannen geschützt werden, sondern als Aufgabe der Gemeinschaft, in der sich auch eine Tyrannei der Mehrheit etablieren kann. Es muss ein Minimum an politischen Zwangsstrukturen geschaffen werden, welche die Ordnung gewährleisten und die gemeinsame Verteidigung dieser Ordnung sicherstellen. Es muss auch eine Grenze für die Regierungsstrukturen dieser inneren Ordnung fixiert werden. All das haben – und dies ist nicht nur mythisch sondern auch historisch – die auf der Waldwiese «Rütli» versammelten Eidgenossen beschlossen, beschworen und verbrieft. Daraus folgt eine weitere, allerdings nicht ohne diese Vorbemerkungen verständlichen Definition von Liberalismus, ebenfalls in drei Worten: «Tell plus Rütli», Widerstand gegen gegen fremdbestimmende Mächte in Verbindung mit der Bereitschaft zur Einordnung in eine freie Gemeinschaft.
Warum diese formelhaften und historisierenden Bemerkungen, jetzt, wo wir doch alle erwartungsvoll in die Zukunft blicken? Die Meinung, Grundwerte wie Freiheit, Recht und Gemeinschaft seien in einer Welt, die sich wandelt, auch immer wieder neu zu definieren, ist meines Erachtens verfehlt. Wir stehen weder «am Anfang» noch «am Ende», wenn wir aber die Herausforderungen einer Gesellschaft freier und mündiger Menschen vor Augen haben, so steht die Vorstellung, wir befänden uns einer Frühzeit näher als die immer wieder beschworene Spätzeit-Stimmung, verbunden mit der pessimistischen Voraussage eines Untergangs der abendländischen Zivilisation. Der Fundus an menschheitsgeschichtlichen Erfahrungen bildet auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Basis des grundsatztreuen Politisierens. Liberalismus ist seinem Wesen nach wertkonservativ, möchte aber die jeweiligen Strukturen und Institutionen den jeweiligen Erfordernissen der Zeit anpassen. Freiheit und Menschenrechte und freiwillig praktizierte Moral haben in einer Welt, deren ökonomische und soziale Strukturen einem starken Wandel unterworfen sind, einen bleibenden Stellenwert. Sie sind die Kompassnadel, welche die allgemeine Richtung angibt, ohne die Anmassung, gleich alle konkreten Einzelfragen allgemeinverbindlich beantworten zu können.
In: Zürcher Oberländer, Anzeiger von Uster, 31. Dezember 1999, S. 9