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Schweiz – EU: Alternativen oder Optionen?

Lesedauer: 5 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 12/01, 1999/2000 – Seite 6-7)

POSITIONEN

Die Schweiz steht gegenwärtig wie einst Herakles an einem Scheideweg. Er hatte zu wählen zwischen dem «schmalen Pfad der Tugend» und der «breiten Strasse des Verderbens» und entschied sich für die Herausforderung des mühsameren, anspruchsvolleren steileren Weges, was ihm schliesslich nach bestandenen Prüfungen die Unsterblichkeit bescherte. Ob solches für ein Land wünschenswert sei und welcher Weg tatsächlich an dieses Ziel führt, bleibt eine offene Frage. Die Wege in die Zukunft sind in der Regel auch nicht mit Wegweisern versehen, bzw. die Beschriftung der Wegweiser ist oft problematisch. Wenn etwa auf dem einen «Mitbestimmung», «Kooperation» und «Integration» steht und auf dem andern «Alleingang», «Egoismus» und «Isolation», dürfte der Entscheid nicht schwer fallen, selbst wenn der erste Weg mühseliger sein sollte. Aber wenn wir zwischen «Anpassung» und «Eigenständigkeit», zwischen «mehr Fremdbestimmung» und «mehr Autonomie» wählen müssen und wenn wir die jeweiligen Vor- und Nachteile, die Preise, die zu bezahlen sind, gar nicht kennen, weil wir die Gesamtentwicklung nicht mehr überblicken und erst recht nicht bestimmen können, gibt es gute Gründe, skeptisch und zurückhaltend zu sein.

Der Vergleich mit Herakles charakterisiert die aktuelle Situation nur zum Teil. Es geht zwar um ein Entweder-Oder, aber nicht um «Tugend» oder «Verderben». Wir werden im Lauf des nächsten Jahrzehnts als Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wieder aufgerufen, den EU-Beitritt zu beschliessen oder abzulehnen, und die Frage wird mit «Ja» oder «Nein» bzw. mit Stimmenthaltung oder Stimmabstinenz zu beantworten sein.

Wird aber, wie man es uns heute bei Befürwortern und bei Gegnern suggeriert, der eine Weg in eine prosperierende Zukunft und der andere in den Untergang führen? Stehen wir vor einer Alternative oder vor der Auswahl einer von vielen Optionen, welche immer noch andere Optionen offen lässt? Eine Tatsache, welche Entscheidungstheoretikern vertraut ist, die aber von Politikern kaum je als Argument verwendet wird, besteht darin, dass ein irreversibler Beitrittsentscheid Optionen zerstört und Handlungsfreiheit einschränkt, die ein vorläufiger Nicht-Beitritt offen lässt. In der militärischen Führungslehre haben wir gelernt, dass wir in ungewissen Lagen mit verschiedenen strategischen Konzepten vorbereitet sein müssen (sogenannten Varianten), und dass ein guter Chef stets mit «vorbehaltenen Entschlüssen» zu operieren habe. Schon ein Korporal, der seine Gruppe nur im Hinblick auf einen einzigen (den wahrscheinlichsten) «Fall» einsetzte, wurde kritisiert. Er musste mit unterschiedlichen Entwicklungen rechnen (auch mit dem «gefährlichsten Fall», d.h. einer worst-case-Entwicklung im Umfeld) und sich der jeweiligen Lage flexibel anpassen. Heute hat man den Eindruck, dass solches Denken bei unserer obersten politischen Führung nicht mehr vorhanden ist. Man will à tout prix den EU-Beitritt und bearbeitet nun dieses widerspenstige Volk, endlich zu kapieren, dass es dazu keine Alternative gebe, und man investiert auch Steuergelder in diese Belehrungskampagne als Bestandteil der heute vielgerühmten «politischen Führung», deren Kompetenzen – so wird behauptet – im Hinblick auf diesen Beitritt auszubauen seien. Es gibt aber durchaus auch Bürgerinnen und Bürger, deren Nachfrage nach politischer Führung sich mit guten Gründen in Grenzen hält und die von einer Regierung nicht mehr und nicht weniger erwarten als die korrekte Anwendung und Umsetzung des geltenden Rechts.

Die Suche nach «Dritten Wegen» führt bei grundsätzlichen Entscheidungen sehr häufig in die Irre. Dazu ein Beispiel: Zwischen einer marktwirtschaftlichen Ordnung, in der Privateigentum und Privatautonomie gewährleistet ist und solchen mit staatlicher Kommandowirtschaft, Interventionismus und Protektionismus gibt es in der Tat kaum dauerhaft funktionierende Zwischenlösungen. Prinzipiell steht eben nicht ein «Interventions-System A» einem «Interventions-System B» gegenüber, das auch durch ein «Interventionssystem C» abgelöst werden könnte, sondern ein «System» und ein «Nicht-System», Eingriff und Nicht-Eingriff. Wenn es aber um Formen der Zusammenarbeit geht, um freie Kooperation (der Terminus «Alleingang» ist eine polemische Fehlleistung), Assoziation oder Integration, sind graduelle Abstufungen möglich. Hier gilt die Sentenz von Thomas Mann: «Es geht immer auch anders.» Auch ein EU-Beitritt wäre, das ist den engagierten Gegnern zuzurufen, nicht das Ende der Schweiz. Man hat heute den Eindruck, dass es in der EU-Beitrittsfrage hüben und drüben immer mehr Manichäer gibt, die ein «Reich des Lichts» einem «Reich der Finsternis» gegenüberstellen, Engel hier, Teufel dort. Dass ich als EU-Skeptiker in vielen Diskussionen schon häufig den Eindruck hatte, meine Argumente würden einfach verteufelt oder verblochert, trage ich mit Fassung. Nur meine ich, dass die differenzierten Skeptiker die Fähigkeit, den andern zuzuhören, noch eher beherrschen als die engagierten EU-phoriker. Eine Gruppe, auf die es in den kommenden Abstimmungen ankommen wird, tritt nach aussen mit guten Gründen kaum in Erscheinung. Es sind jene, welche aufgrund einer ihrem Wesen nach europa- und weltoffenen Haltung bisher den Beitritt befürworteten, jetzt aber unter dem Druck von Erfahrungen mit «Brüssel» und Befürchtungen über mögliche und wahrscheinliche Entwicklungen in Richtung EUSozialstaat, EU-Interventionismus und EU-Protektionismus ihre Meinung in jene Richtung revidieren mussten, die sie einmal als kleinkariert, fortschrittsfeindlich und unsolidarisch bezeichnet haben. Diese ziemlich stillen, rational argumentierenden neuen Beitrittsgegner gibt es in allen Parteien, nicht primär unter den Hinterwäldlern. Man findet sie zunehmend auch in Wirtschaftskreisen, und zwar auf beiden Seiten des Röstigrabens. Ich erlebe immer häufiger solche privaten EU-skeptischen Coming-outs, d.h. Meinungsäusserungen, die selbstverständlich mit der Beteuerung verbunden werden, im übrigen sei man durchaus weltoffen und fortschrittlich und keineswegs auf der «Blocher-Linie».

Die letzten Wahlen haben in der Schweiz bezüglich EU-Beitritt eine Polarisierung bewirkt, welche auch als «Klärung der Fronten» bezeichnet werden kann. Wer sich zu einem EU-Beitritt kritisch äussert, wird sofort als Blocber-Anhänger bezeichnet, als kurzsichtiger Isolationist, als xenophober und futurophober Nationalist, als engstirniger egoistischer Ewig-Gestriger, der nie über den eigenen Gartenzaun hinaus geschaut hat (was bei Christoph Blocher zwar alles in Wirklichkeit gar nicht zutrifft, aber seinem in vielen Medien gezeichneten Phantombild entspricht). In einem solchen Klima besteht ein Diskussions- und Klärungsbedarf. Wir müssen einander besser zuhören und einander gegenseitig auch gute Gründe «Pro» und «Contra» zubilligen. Die manichäische Politik an der moralisierenden Gesinnungsfront führt letztlich zu einem Volk von verfeindeten Lagern, das bei jedem Entscheid zu viele «Verlierer» schafft. Es gilt heute sehr genau zu beobachten, was man im Ausland über die Schweiz und ihr Verhältnis zu Europa denkt und äussert. Das ist zwar nicht allein massgebend, aber auf jeden Fall interessant. Vor allem ausserhalb von Europa hört man über die Nichtmitgliedschaft und über die Neutralität auch viel Positives, das über die angelsächsische Freude an Skurrilitäten hinausgeht. Wenn uns unsere Nachbarn freundlich einladen mitzumachen, tut dies in der Seele wohl. Möglicherweise überschätzen sie aber unsere Fähigkeit, Europa in ihrem Sinn zu «verschweizern». Wir müssen diesbezüglich in der Schweiz das richtige Mass an Selbstbewusstsein und Realismus wieder finden.

Sympathiebekundungen sollten uns freuen, aber nicht blind machen. Das Urteil über Vor- und Nachteile können wir nur selbst fällen, und wir müssen wissen, dass Altruismus unter Nationen viel seltener ist als unter Individuen. Ein übertriebener Nationalegoismus ist aber für einen Staat keine intelligente und langfristig taugliche aussenpolitische Strategie. Oft werden die freundlichen Einladungen auch mit der unausgesprochenen, aber berechtigten Erwartung verbunden, dass wir endlich auch mitzahlen sollten. Darüber muss man reden und klug verhandeln und den Kopf nicht verlieren.

Pestalozzi hat in seiner Pädagogik die Harmonie von Kopf, Herz und Hand postuliert. Vielleicht sollten wir tatsächlich in der EU-Beitrittsfrage weniger polemisieren und in aller Ruhe ein differenziertes Urteil heranbilden.

Subsidiarität

So ergibt sich eine Stufenfolge vom Individuum über die Familie und die Gemeinde zum Kanton und schliesslich zum Zentraistaat, eine Stufenfolge, die zugleich den Staat selbst begrenzt und ihm das Eigenrecht der unteren Stufen mit ihrer unverletzlichen Freiheitssphäre entgegensetzt. In diesem umfassenden Sinne der Subsidiarität enthält also das Prinzip der politischen Dezentralisierung bereits das Programm des Liberalismus in seinem weiten und allgemeinen Sinne

Wilhelm Röpke, zitiert in: Gerd Habermann, Das Mass des Menschlichen, Ein Wilhelm-Röpke-Brevier, Ott Verlag, Thun 1999, S. 35.

Schweizer Monatshefte – Heft 12/01, 1999/2000 – Seite 6-7

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