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Nachtwächterstaat, Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat – wohin geht der Weg?

Lesedauer: 14 Minuten

Robert Nef, Leiter des Liberalen Instituts
Beitrag zum Tiroler Wirtschaftsforum mit dem Thema:
„Europas Eröffnungsbilanz für das 21. Jahrhundert“, Innsbruck, 7. Oktober 1999
Publiziert in: CONUREN, Nr. 1 2000, Frankfurt a.M. 2000, S. 52-64

Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates ist kein Thema, das begeistert oder gar beflügelt. Wer spricht schon gern über Steuern und Renten. Wir sind alle irgendwie vom Wohlfahrtsstaat abhängig, von jener Institution die angeblich für alle umfassend sorgt – ausser für die Steuerzahler… Politiker reden nicht gerne darüber, aber die dumpfe Ahnung ist doch vorhanden, dass wir den Wohlfahrtsstaat in Europa, wie er im 2O. Jahrhundert und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert worden ist, nicht linear weiterentwickeln können. Er ist nicht nachhaltig praktizierbar, d.h. wir leben auf Kosten kommender Generationen und auf Kosten der Natur. Das ist keine „frohe Botschaft“, aber eine not-wendige.

Steuern haben in der Weltgeschichte eine wichtige Rolle gespielt, oft als Grund, oft als Voraussetzung und – noch öfter – als Begleiterscheinung und Folge von Kriegen. Dem Krieg hat man in der Geschichtsschreibung allzu lange einen Vorrang eingeräumt. Um diesem Eindruck entgegen zu wirken, haben möglicherweise die Veranstalter zwischen die grossen heroischen Themen wie „Technische Zivilisation“, Weltwirtschaft und Weltsicherheit auch ein kleines sozial- und finanzpolitisches Intermezzo eingefügt. Das Thema Verteilung und Umverteilung von Wohlstand und das Thema Steuern und Renten ist, wie das Thema Sozial- und Finanzpolitik ein Tummelfeld der Spezialisten, der politischen Taktiker und Techniker, der Populisten und Jongleure, die immer wieder vorrechnen, dass ja alles nur halb so schlimm sei, wenn man nur da und dort etwas einspare und den Umverteilungs- und Besteuerungsmodus etwas verändere.

Es gibt immer noch zu wenige Sozialwissenschafter und Historiker, welche die Auseinandersetzung zwischen innen- und aussenpolitischen Interventionen, d.h. den Zusammenhang zwischen dem nationalen Welfare-State und dem nationalen Warfare-State grundsätzlich genug analysieren und deuten. Krieg war nur allzu oft auch in diesem Jahrhundert eine Flucht aus den Sackgassen einer verfehlten Innen-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Eines der wenigen aber für die Zukunft wichtigen Aktiva in der Bilanz dieses Jahrhunderts ist die relativ unblutige Liquidation der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft im ehemaligen Ostblock und die noch nicht ganz abgeschlossene Entkolonisierung des Sowjetrussischen Imperiums. Die labile Balance zwischen Mangel an Wohlstand und Mangel an Kriegsbereitschaft, d.h. zwischen No-Welfare und No-Warfare hat für einmal in der Weltgeschichte positiv gewirkt. Der Wahnsinn einer Vertuschung des ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Debakels durch eine Flucht in den Krieg ist uns erspart geblieben. Allerdings: Solche „Friedensliebe“ war wohl nicht ganz freiwillig. Man wollte keinen Krieg, weil er nicht mehr zu gewinnen war. Dies klingt verheissungsvoll. Die Entkolonisierung (die ja noch nicht ganz abgeschlossen ist) hat zwar ihren Blutzoll gefordert (und fordert ihn immer noch), aber dieser hält sich im Vergleich zu den beiden Weltkriegen im Rahmen. Wer in die Geschichte zurückblickt und Optimist bleiben will, muss bescheiden sein und sich auch mit wenigen und nur relativ guten Anzeichen zufriedengeben.

Wie geht es also weiter mit dem Wohlfahrtsstaat? Wohin führt der Weg? Ich werde im Folgenden bezüglich Wohlfahrtsstaat eher in der Rolle des nüchternen und selbstkritischen Beobachters argumentieren und mit kühnen Prognosen und Modellkonstruktionen zurückhalten. Nichts ist einfacher, als von der Kreativität im angekündigten globalen Klimawandel und von der Bewährung in Stürmen zu schwärmen, wenn man im sicheren, bzw. scheinbar sicheren Hafen eines nationalen Wohlfahrtsstaats vor Anker liegt. Der Klein- und Binnenstaat Schweiz figuriert in internationalen wirtschafts- und sozialpolitischen Ranglisten meist unter den Top-ten. Wer die Tabellen mit unterschiedlichsten Wohlfahrtsbewertungen etwas genauer studiert, entdeckt, dass die Schweiz, in absoluten Zahlen bewertet, meist gut dasteht, aber bei den Trends, beispielsweise beim Wirtschaftswachstum und beim Ansteigen der Staats- und Fiskalquote, mehr Probleme hat als beispielsweise Österreich. Wer reich ist, kann es sich leisten, viele Fehler zu machen, er kann es sich aber nicht leisten, nicht mehr lernen zu wollen. Beim Thema Wohlfahrtsstaat gibt es einen grossen Lernbedarf, und ich bin überzeugt, dass wir diesbezüglich global gesehen am Anfang einer neuen Entwicklung stehen, die nicht einfach linear an sogenannt Altes und Bewährtes anknüpfen kann. Europa wird hier – einmal mehr – nicht das Mass der Dinge sein, sondern auch andere Erfahrungen einbeziehen müssen.

Vor einer Jahrtausendwende ist man an einem so grundsätzlich ausgerichteten Seminar versucht, „mit dem breiten Pinsel zu malen“ und die Frage nach der Zukunft nicht allzu zaghaft anzugehen. Wissen wir denn, ob es in absehbarer Zeit überhaupt noch Nationalstaaten geben wird? Ist die Frage nach der Zukunft des Wohlfahrtsstaates nicht zu kleinkariert, zu fest im bisherigen Denken verhaftet? Ich glaube Nein. Die durch das Dezimalsystem unserer Zeitrechnung diktierte, eher zufällige Tatsache dieser Jahrtausendschwelle darf uns nicht dazu verleiten, überall einen „neuen Anfang“, bzw. ein „Ende“ zu wittern: „Ende der Geschichte“, „Ende der Ideologien“, „Ende der Familie“ und „Ende des Nationalstaats“ und „Ende des Wohlfahrtsstaates“, – so viel „Ende“ war noch nie… Aus meiner Sicht gibt es wenig Anzeichen, das „Ende des Nationalstaates“ zu verkünden. Trotzdem bleibt die Parole „Weniger Staat“ aus meiner Sicht aktuell, denn, was den Nationalstaat heute gefährdet, ist nicht die Ausrufung seiner Überflüssigkeit, sondern die Schere zwischen den Ansprüchen, die man an ihn stellt und den Mitteln, die man ihm zu deren Erfüllung kollektiv und individuell zugesteht. Wir erleben heute eine Überforderungskrise, eine Frustrationskrise und eine Legitimitätskrise des Nationalstaates, welche durch die „Flucht in den höheren Verband“ d.h. nach Europa nur schlecht kaschiert wird.

Stichwort Nachtwächterstaat

Der Nationalstaat ist historisch nicht aus dem Nachtwächterstaat hervorgegangen, sondern am Anfang stand – mit wenigen Ausnahmen (zu denen die Schweiz zählt) – der Obrigkeitsstaat, der Macht ausübte, Macht bewirtschaftete und – oft zu Lasten Dritter – Macht zu mehren versuchte, eine Obrigkeit, die Sicherheit produzierte bzw. versprach, oft ebenfalls zu Lasten Dritter. Ohne jeden Skrupel intervenierten Fürsten und Regierungen auch in die Wirtschaft und die Gesellschaft und bevormundeten ihre Untertanen mehr oder weniger wohlwollend. Am Anfang stand also der Macht- und Bevormundungsstaat, dies sollten alle jene berücksichtigen, die das Heil des nächsten Jahrhunderts in einer Rückkehr zu einer „guten alten Zeit“ erhoffen, „in der das Wünschen noch geholfen hat”.

Die Bezeichnung Nachtwächterstaat wurde im 19. Jahrhundert gebräuchlich und war, wie viele politische Begriffe, zunächst polemisch gefärbt. Heute spricht man von „Minimalstaat“, wobei das jeweilige Minimum zur Diskussion steht. Die Institution des staatlichen Nachtwächters gehört zweifelsohne nicht zu diesem Minimum! So wandeln sich auch die Vorstellungen über das, was man vom Staat erwartet und fordert selbst bei grundsätzlichen Staatsskeptikern. Die liberale Methode, den Staat nicht einfach vorauszusetzen und hinzunehmen, sondern für jede Staatsaktivität den Nachweis der Not-wendigkeit im ursprünglichen Sinn zu verlangen, ist zunehmend aktuell. Dazu ein Beispiel: Die erfolgreiche Liberalisierung Neuseelands beruhte auf einem Ansatz solch grundsätzlicher Staatsskepsis und auf dem Konzept einer neuen Trennung und Aufgabenteilung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Testfragen lauteten: 1. Ist dies wirklich notwendig? 2. Wenn ja, muss es notwendigerweise durch den Staat gemacht werden? 3. Wenn ja, muss es durch die Benutzer oder durch die Steuerzahler finanziert werden? Ein simples aber wirksames Programm, das leider nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt worden ist. „Unfinished Business“ heisst das Buch, in dem Roger Douglas, der Initiant dieses politischen Programms die neuseelaändische Deregulierung, Privatisierung und Dezentralisierung beschreibt. Solche Programme gehören für mich auch in Europa zu den politischen Agenda der nächsten Generationen.

Auch wer den Staat nicht als Feind bezeichnet, sondern als Notwendigkeit, kann methodisch die Beweislast der Unschädlichkeit und Nützlichkeit dem politischen System aufbürden. In diesem Sinn bleibt der Nachtwächterstaat als Ausgangspunkt durchaus zukunftsträchtig, gerade weil er zeigt, wie verzichtbar Institutionen sind, die man auch schon für unverzichtbar gehalten hat.

Stichwort Sozialstaat

Über die Unterscheidung von „Sozialstaat“ und „Wohlfahrtsstaat“ gibt es eine grosse Zahl subtiler Abhandlungen. Für viele, vor allem kritisch Eingestellte, sind die Unterschiede höchstens gradueller und terminologischer Art.
Ausgangspunkt sind für mich die zwei Fragen: Was heisst „sozial“? und: Wie entsteht „Wohlfahrt“? Dann stellt sich das Problem, ob der Staat als solcher „sozial“ sein kann, und ob, – bzw. allenfalls wie – er in der Lage ist, die gemeinsame Wohlfahrt zu fördern.

„Sozial“ war ursprünglich ein Gegenbegriff zu „staatlich“. „Sozialisten“ in diesem ursprünglichen Sinn waren Anti-Etatisten, weil sie an die Gesellschaft glaubten und nicht an den Staat, der mit seinem Zwangsapparat im Dienst der jeweils Mächtigen agiert. „Sozialisten” wären demnach jene, welche gerade nicht an das Primat der Politik glauben, sondern an das friedliche Zusammenwirken von Privatpersonen in der Zivilgesellschaft, an den herrschaftsfreien Tausch von Gütern, Dienstleistungen und Ideen nach dem liberalen Motto „Wo ‘Gewalt’ war, soll ‘Vertrag’ werden“. Dieses Motto ist übrigens durch und durch österreichisch. Es mag auf die habsburgische Devise zurückgehen: „Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube“, d.h. „Andere mögen Krieg führen, Du, glückliches Österreich, heirate“.

Einen ähnlichen Gedanken formuliert Franz Grillparzer in seiner sinnreichen und
diskussionswürdigen Staatsdefinition, für die er bemerkenswerter Weise nur acht Worte benötigte: „Es ist der Staat die Ehe unter Bürgern“. Einen anderen Beitrag zum Thema hat Sigmund Freud, geleistet, mit seinem berühmten „Wo Es war, soll Ich werden“. Damit wird der Weg vom triebgesteuerten Unterbewusstsein (das in der Politik eine grosse Rolle spielt) zum willensgesteuerten Bewusstsein (das in der Politik eine grössere Rolle spielen sollte) markiert. Die bereits erwähnte Maxime, die an Sigmund Freud anknüpft, stammt von einem anderen, wenigstens im Ausland, berühmten Österreicher, von einem Vertreter der „Austrian Economics“, nämlich von Ludwig von Mises. Ich wiederhole sie: „Wo ‘Gewalt’ war soll ‘Vertrag’ werden“, bzw. „Wo ‘Zwang’ war, soll ‘Vertrag’ werden”. Dieser Wegweiser in die privatrechtliche Zivilgesellschaft zeigt auch an der Jahrhundert- und Jahrtausendschwelle in die richtige Richtung. Er eignet sich als sehr sinnvolles, taugliches und wohl auch überparteilich akzeptierbares Motto!

Mit dem Begriff und der Institution „Sozialstaat“ habe ich einige Mühe. Wenn man damit meint, der Staat solle besser mit gesellschaftlichen Netzwerken verknüpft werden, würde ich nicht zögern, ihn als „Modell der Zukunft“ zu bezeichnen. Der Weg der Zivilisation führt vom öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Zwang in die zivilrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Vereinbarungen. Auch wenn der „Sozialstaat“ als ein Resultat konsequent verwirklichter Subsidiarität gesehen würde, hätte ich kein Problem damit. Das Subsidiaritätsprinzip lehnt bekanntlich staatliche Interventionen nicht grundsätzlich ab, sondern verlangt lediglich den Nachweis, dass die privatere bzw. untergeordnete Instanz nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen. Es ist der Beweis der Not- wendigkeit zu führen, wenn eine Aufgabe verstaatlicht bzw. zentralisiert wird. Eigenständigkeit muss die Regel, Fürsorge die Ausnahme und staatliche Fürsorge die Ausnahme der Ausnahme sein. Dies ist ein sehr zukunftstaugliches Konzept. Würde es in kleinen politischen Einheiten unterschiedlich praktiziert und bestünde eine Konkurrenz der Experimente, Lösungen und Systeme in Verbindung mit einer geordneten Freiheit der Wahl, so würde ich nicht zögern, ein solches Modell aus Überzeugung als den „Weg in die Zukunft“ zu propagieren.

Leider ist der Sprachgebrauch rund um den Sozialstaat unter dem Druck der politischen Polemik und Propaganda und Gegenpropaganda heute ein anderer geworden. Wäre diese Terminologie: sozial = gesellschaftlich oder präziser: sozial = zivilgesellschaftlich noch gebräuchlich, würde ich nicht zögern, mich als überzeugten Sozialisten bezeichnen. In der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert hat sich aber ein grundlegender Begriffswandel vollzogen, so dass sich heute – zu Recht oder zu Unrecht – die Staats- und Interventionsgläubigen als „Sozialisten“ bzw. „Sozialdemokraten“ bezeichnen. Sinnvoller, und im Hinblick auf ein neues Jahrhundert zukunftsträchtiger, wäre eine Unterscheidung von wirtschaftsgläubigen Ökonomisten, staatsgläubigen Etatisten und gesellschaftsgläubigen Sozialisten, wobei alle die ihnen zuträgliche Mischung wählen könnten. Der Vorschlag einer solchen Dreiteilung ist nicht ernst gemeint, denn die Politik folgt nicht der ideen- und begriffsgeschichtlichen Logik, sondern jener Polemik, welche der Logik des jeweils aktuellen Machtkampfs dient. So erleben wir heute auch in Europa die Umdeutung des Begriffs „liberal“, bzw. dessen Abgleiten in die völlige Beliebigkeit. Wer bezeichnet sich heute nicht alles als „liberal“?

Stichwort Wohlfahrtsstaat

In den USA sind die „liberals“ die aktiven Verfechter des umverteilenden Wohlfahrtsstaats. Wer dort im europäischen Sinn liberal ist, bezeichnet sich als „classical liberal“ oder als „libertarian“. Auch in Europa besteht die Tendenz einer Geschichtsdeutung, die den Wohlfahrtsstaat als eigentlichen Höhepunkt der Entwicklung dieses Jahrhunderts zu betrachtet. Die politische Agenda des nächsten Jahrhunderts besteht aus dieser europäisch- sozialdemokratischen Sicht in der Konsolidierung und im Weiterausbau dieser Errungenschaften, wobei als einziges noch zu lösendes Problem die Wiederherstellung der Balance bei der Finanzierbarkeit verbleibt. Die „Institution Staat“ bzw. „Politik“ wird zur reinen Geldfrage. „Wer nimmt und gibt wem wieviel – und vor allem wie“? Und, „Wer bekommt es, aus welchen Gründen?“ Das beliebte, aber mit vielfältigen Problemen und Nebenfolgen belastete Problemlösungsverfahren lautet: „Von den Reichen wegnehmen und unter den Armen verteilen.“ Zuletzt mündet alles in die von den Politikern so ungern gestellte Frage: „Wer soll das bezahlen?“

So lautet bekanntlich ein deutscher Schlagertext aus diesem Jahrhundert. Er erinnert an eine andere bekannte Melodie aus dem letzten Jahrhundert: Das berühmte „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist”, aus der „Fledermaus” von Johann Strauss. Möglicherweise handelt es sich um den Ursprung der psychoanalytischen Verdrängungstheorie, die auch in der Politik des Wohlfahrtsstaates eine zentrale Rolle spielt. Text und Melodie wurden in der Zeit des Wiener Börsencrashs zum Gassenhauer. In der Weltwirtschaftskrise soll eine derbere Variante im Umlauf gewesen sein: „Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist“. Dies dokumentiert den „Fortschritt der Zivilisation“ zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert… Welches Lied den Niedergang des europäischen Wohlfahrtsstaats, des sogenannten „Rheinischen Modells“ begleiten wird, wage ich nicht vorauszusagen, hoffentlich weder die „Marseillaise“ noch die „Internationale“, sondern etwas Gemütvolleres, Versöhnlicheres, möglicherweise aus Österreich Stammendes…Wird es „Brüder reicht die Hand zum Bunde“ sein? „Freude schöner Götterfunken” kommt so wenig in Frage wie „Seid umschlungen, Millionen”. Die „Schweizer Nationalhymne“, die bei uns wenig bekannt und beliebt ist, beginnt mit „Trittst im Morgenrot daher“, was wenigstens Hoffnungen anklingen lässt. Das Schweizer, bzw. Emmentaler Lied „Niene geit’s so schön und luschtig, wie bi eus im Ämmital“, kommt leider auch nicht in Frage. Seine Melodie wurde auf merkwürdigen Umwegen in Mussolinis Faschistenhymne „Giovinezza“ missbraucht…

Doch zurück zum unmusikalischen Ernst. Der Welfare-State, der Wohlfahrtsstaat, hängt nicht nur subtil und labil mit dem Warfare-State, dem kriegsgerüsteten Staat zusammen, sondern auch mit dem Nationalstaat, dem verschiedentlich das Ende prophezeit wird. Wie kann die eine Institution absterben bzw. sich internationalisieren und die andere florieren, wo doch beide eine so lange und bewegte Partnerschaft hinter sich haben? Das Problem des nationalen Wohlfahrtsstaates ist nicht nur seine prekäre Finanzierungsbasis. Man braucht diesbezüglich nicht unbedingt die Rolle der Kassandra zu spielen und Pessimismus zu verbreiten. Ein grösserer Schub an Wirtschaftswachstum kann auch hoch verschuldete Umlagesysteme – wenigstens auf Zeit – wieder stabilisieren. Aber dies ist eine Art „letzte einzige Chance“. Sie hat bei der Sanierung der US-Staatsfinanzen eine erhebliche Rolle gespielt, denn diese sind bekanntlich keineswegs auf der Ausgabenseite „gesundgeschrumpft“, sondern durch Wachstum auf der Einnahmenseite als Folge des Wirtschaftswachstums saniert worden. Dass dieses wiederum durch Steuersenkungen mitverursacht wurde, ist allerdings ziemlich unbestritten. Solche Zusammenhänge muss man vor allem jenen linken Schlaumeier-Politikern aufzeigen, welche gleichzeitig gegen das Wirtschaftswachstum polemisieren und mehr Umverteilung durch höhere Besteuerung der Reichen fordern.

Als letztes Überlebensmodell das Wohlfahrtsstaates bleibt in Europa noch die Hoffnung auf das Entstehen bzw. auf die politische Machbarkeit bzw. Erzwingbarkeit einer europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Umverteilungsunion. Natürlich kann man Wirtschaftswachstum und Umverteilung auch jenseits des Nationalstaates erhoffen, beispielsweise in kontinentalen Gemeinschaften, welche in der Lage sind, eine konsensfähige, nachhaltig praktizierbare Umverteilungsmaschinerie aufzubauen, durch eine Zentralregierung, welche die hierfür notwendige Solidaritätsbasis neu schafft und immer wieder stabilisiert und durch eine Wirtschaft, die trotzdem global wettbewerbsfähig und produktiv bleiben soll. Dies ist ziemlich viel auf einmal. Ist der europäische Wohlfahrtsstaat im Anmarsch? Ich halte ihn für eine gefährliche Illusion, und zwar aus empirischen und nicht aus ideologischen Gründen.

Wer hofft, er könne mit irgendwelchen Mitteln in einem heterogenen Umfeld diese Solidargemeinschaft durch Gesetze und internationale Verträge erschaffen, als eine Rahmenordnung, die sogar stabiler und nachhaltiger sein soll als die heute nur schlecht oder nicht funktionierenden nationalstaatlichen Solidargemeinschaften, wird möglicherweise bald enttäuscht. Ich sage dies als Schweizer, aufgrund von einigen Erfahrungen im Umgang mit Unterschieden in Sprache, Kultur und Religion und mit 20 Prozent Ausländeranteil in der Wohnbevölkerung. Wir sind nicht die Ungeübtesten im Umgang mit Einschliesslichkeit und Ausschliesslichkeit. Es ist zwar innerhalb unserer nationalen Rentenversicherung gelungen, dass Appenzeller für Genfer und Zürcher für Basler bezahlen, aber eine Vergrösserung solcher Systeme von Sizilien bis Dänemark scheitert an der Konsensknappheit und der knappen Bereitschaft zu grossräumiger umfassender Solidarität. Aber möglicherweise sind ja die Durchschnittseuropäer alle wesentlich solidarischer, weitsichtiger und altruistischer eingestellt als wir notorischen Lokalpatrioten, Kantons- und Nationalegoisten.

Die Solidarität driftet heute nicht in Richtung grössere Gemeinschaften, sondern in den privaten Bereich, als eine Art Kontrapunkt des Subsidiaritätsprinzips. Man mag dies begrüssen oder bedauern, es ist eine Randbedingung, mit welcher im nächsten Jahrhundert wahrscheinlich zu rechnen sein wird. Unsere Wohlfahrtsstaaten, das haben inzwischen auch die Befürworter des Ausbaus gemerkt, brauchen in Verbindung mit dem Mehrheitsprinzip in demokratischen Strukturen aus den erwähnten anthropologischen Gründen eine nationale Komponente. Solidarität ist ihrem Wesen nach gruppenbezogen. Sie ist letztlich nur ein anderes Wort für einen positiv gefärbten Gruppenegoismus. Einmal mehr wird bewusst, wie subtil der Zusammenhang von Demokratie, Wohlfahrtsstaat und Nationalstaat ist, er wird möglicherweise die Parteienlandschaft und das Spektrum der Koalitionen in Europa noch verändern. Die Frage was nun „links“ und was „rechts“ sei, wird immer schwieriger zu beantworten, Linke wollen Strukturen, und Rechte wollen Werte konservieren und beide beschwören rhetorisch die Notwendigkeit des Wandels. Die grosse gemeinsame Herausforderung, nämlich die gemeinsame oder eben nicht gemeinsame Bewirtschaftung und Bewältigung von Einwanderungsdruck, Einwanderungsbedarf und Xenophobie macht die Sache noch komplizierter. Eines ist gewiss: So lange wir den Wohlfahrtsstaat halten und ausbauen, wird freie Immigration ein unlösbares Problem bleiben.

Der Nationalstaat wurde zunächst hauptsächlich als militärische Abwehrgemeinschaft gegründet. Die wohlfahrtsstaatliche Rentnergemeinschaft kam später hinzu, in einzelnen Nationen sogar als Belohnung und als direkte und notwendige Folge für die Kriegsopfer, welche die früheren, privaten und familiären Säulen der Vorsorge zum Einsturz brachten. Was früher die Fahne, die Hymne, die Uniform und die Vaterlandsliebe war, ist heute die gegenseitige Verschuldung im sogenannten Generationenvertrag der Renten. Verschuldete aller Länder, vereinigt Euch!… Aber schaut Euch bitte zunächst um, wer diese Schulden bezahlen wird und wie, bzw. auf wessen Kosten. Die Solidaritätsbereitschaft der Nettozahler wird naturgemäss am schnellsten erodieren, ein Problem, das allen EU-Mitgliedern (und speziell den Österreichern und Deutschen) politisch noch zu schaffen machen wird. Möglicherweise gibt es altruistische Individuen, Familien, Gruppen. Aber gibt es altruistische Nationalstaaten mit altruistischen Rentenzahlern und -empfängern? Ich glaube es aufgrund von historischen Erfahrungen nicht. Es gibt zwar zwischen Nationen einen intelligenten und einen dummen Egoismus; eine kollektive Opferbereitschaft zugunsten Dritter halte ich hingegen für unwahrscheinlich und selten, und ich schäme mich nicht dafür, dass mein Herkunftsland, die Schweiz, hier keine Ausnahme ist.

Der Mythos vom Gemeinsinn und Opfersinn im Staat ist in einer säkularisierten Welt am Verblassen. Wenn ich einen Blick auf die Täter und die Opfer in diesem Jahrhundert werfe, hält sich mein Bedauern in Grenzen. Unser Verhältnis zur politischen Gemeinschaft hat sich im Wohlfahrtsstaat verwirtschaftlicht. Das wirtschaftliche Sein bestimmt unser politisches Bewusstsein. Diese Tatsache muss vor allem jenen klar gemacht werden, welche gleichzeitig den Wohlfahrtsstaat ausbauen wollen und gegen das wirtschaftlich bzw. materiell ausgerichtete Anspruchsdenken wettern. Der wichtigste Impuls zum Konsumismus, zur Vermassung und zur Vereinsamung in der kombinierten Renten- und Marktgesellschaft kam von wohlfahrtsstaatlicher Seite. Ist dies nun alles zwar „gut gewesen“, aber „zu teuer geworden“? Liegt der Engpass allein bei den öffentlichen Finanzen? Ist dies die am Ende dieses Jahrhunderts endlich notwendige Entlarvung des „Mythos Staat“, die sogenannte „opération vérité“ oder der Ausruf des kleinen Jungen in Andersens Märchen? „Der Kaiser ist nackt“, bzw. „Der Wohlfahrtsstaat ist Pleite – finanziell, politisch und moralisch!“ Vielleicht. Aber taugt dieser Ansatz als Grundlage für die Zukunft der Politik?

Meine Sicht der Dinge ist eine andere. Der zwangsweise umverteilende Wohlfahrtsstaat ist nicht einfach „zu teuer“ oder „bankrott“. Er ist auf die Dauer nicht in der Lage, politische und soziale Probleme befriedigend zu lösen, d.h. er ist nicht nachhaltig praktizierbar. Ich möchte mich in meiner knappen und daher wertvollen Redezeit nicht mit einigen Analysen, mit mehr oder weniger witzigen Aperçus und einer Anzahl alten und neuen Fragen begnügen, sondern abschliessend einige Thesen vortragen, welche zwar gewiss nicht die definitiven Lösungen bringen, Sie aber alle provozieren sollen, Ihre eigenen Thesen und Antworten zu formulieren.

Zehn Thesen zur Zukunft des Wohlfahrtsstaates

These 1: Demokratie und Wohlfahrtsstaat sind auf die Dauer nicht miteinander verträglich, wenn sie nicht beide begrenzt und gegeneinander abgegrenzt werden.

These 2: Wird der Wohlfahrtsstaat nach europäischem „Muster“ linear weiterentwickelt, so richtet er in absehbarer Zeit sowohl die Wohlfahrt als auch den Staat zugrunde.

These 3: Wer dieses Debakel vermeiden will, muss nach einer Strategie des „geordneten Rückzugs“ Ausschau halten. Der Staat muss sich auf sein „Kerngeschäft“ besinnen, selbst wenn dabei nicht allzu viel übrigbleiben dürfte. (Dieses Kerngeschäft ist heute nicht mehr der Nachtwächter, es hat aber mit Sicherheitsproduktion zu tun…)

These 4: Das Kerngeschäft des Staates liegt in der Ermöglichung einer Rahmenordnung, die auf Konsens und nicht auf Zwang beruht, einer Ordnung, welche die freie Entfaltung mitmenschlicher Zuwendung ins Zentrum stellt.

These 5: Der Staat kann seinem Wesen nach nicht sozial (im Sinn von mitmenschlich) sein, und es ist unmöglich, soziale Zuwendung von allen Menschen durch die Gesetzgebung zu erzwingen.

These 6: Die Familie muss grundsätzlich selbsttragend sein. Sie bleibt die Versorgungs- und Vorsorgeinstitution für die normalen Not- und Wechselfälle des Lebens. Sozialpolitik muss subsidiär sein.

These 7: Der Staat kann als Umverteiler des Wohlstands den Anspruch der Gerechtigkeit nie befriedigend einlösen. Je höher die Umverteilung ist, desto mehr steigt die allseitige Unzufriedenheit und Staatsverdrossenheit.

These 8: Staatlicher Zwang stört und zerstört jene Bereitschaft, auf welcher Spontaneität, Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit beruhen, die einzigen langfristigen Garanten mitmenschlich sozialen Verhaltens.

These 9: Eine gedeihliche Entwicklung und Förderung mitmenschlich sozialen Verhaltens brauchen eine freie Gesellschaft und eine offene Marktwirtschaft, welche auf freiwillig begründeten Beziehungen und Verpflichtungen basiert.

These 10: Die Dienstleistungsgesellschaft beruht auf einem herrschaftsfreien Tausch von wechselseitigem Dienen und Leisten, auf einer kontinuierlichen Verbesserung des Zwischenmenschlichen im aufgeklärten Selbstinteresse.

Mit anderen Worten: Gesucht ist ein tragfähiges zivilgesellschaftliches Netzwerk von privatautonomen Verträgen und Vereinbarungen, das den Nationalstaat nicht ganz aufhebt, aber massiv entlastet und redimensioniert. Eine komplexe neue und zusätzliche internationale wohlfahrtsstaatliche Umverteilungsbürokratie soll weitgehend überflüssig werden. Nur ein non-zentrales Netzwerk ist lern- und anpassungsfähig. Es ist zwar nicht in einem metaphysischen Sinn „gerecht“, aber es berücksichtigt kontinuierlich das, was die Beteiligten und Betroffenen unter sich „gerecht“ finden: eine Art „ad hoc“- und „à la carte – Gerechtigkeit“, Interessenausgleich „inter partes“, einerseits als Alternative zum Chaos und andererseits als Alternative zu dogmatischen, allgemeinverbindlichen, schwer abänderbaren Zwangsnormen. Während mehr als zwei Jahrhunderten ist weltweit mit mehr oder weniger demokratischen Mitteln für ziemlich abstrakte Ideen gekämpft worden: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, gemeinsame „öffentliche Interessen“, die vom Staat zwangsweise durchgesetzt werden, oft „ohne Rücksicht auf Verluste bei Minderheiten“ und mit dem schwammigen Ziel „mehr gemeinsame Wohlfahrt, mehr soziale Gerechtigkeit“ zu erzeugen. Das Resultat überzeugt mich nicht, ich plädiere deshalb für bescheidenere und realistischere Ziele.

Die Beschränkung auf einen Zustand relativen Friedens und relativer Gerechtigkeit tönt als sozialpolitisches Jahrhundertprogramm nicht gerade heroisch. Es hebt die Nationalstaaten nicht auf, verkündet kein Ende, aber es reduziert und profaniert ihre Bedeutung und bringt den politischen Kampf um Ideen und Grundsätze in die Nähe ganz simpler zivilgesellschaftlicher Interessenwahrung. Der Sozialstaat beschränkt sich auf gezielte „subsidiäre Subjekthilfe“ statt auf das pompöse Programm „Solidarität von allen für alle“. Privates kleines Glück anstelle von Grösse, Ehre und nationalem Ruhm auf der durchaus wackeligen Basis von umfassender gemeinsamer wirtschaftlicher Absicherung in einem Sozialprotektorat.

Aber haben uns jene Jahrhundertprogramme, die an bisherigen Zeit- und Epochenschwellen verkündet worden sind, so viel kollektives, öffentliches Glück gebracht? Glück und Wohlfahrt sind möglicherweise eher zu erreichen, wenn die Erwartungen an den Staat massvoll bleiben, und wenn die Anforderungen, die wir an andere stellen, mit jenen im Einklang sind, die wir an uns selbst stellen. Mit anderen Worten: Nicht mehr fordern, als man selbst bereit ist zu geben. Dies macht, bei realistischer Einschätzung, von selbst bescheiden und ist möglicherweise ein guter Wegweiser für den Weg in die Zukunft. Auf diesem „Wegweiser“ steht Folgendes: Abschied vom Nachtwächter, Abschied vom Wohlfahrtsstaat… Dafür ein an Fakten und Erfahrungen geläutertes und durchaus bescheidenes Bekenntnis zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung durch private Verträge und öffentliche Verträglichkeit. In kürzeste Form gebracht heisst dies nichts anderes als: „More ‘High-Touch’“. “High-touch”, eine vom amerikanischen Trendforscher John Naisbitt in Anlehnung an „High-Tec“ geprägte Formel, verweist anschaulich auf Nähe, Berührung und Berührtsein, auf den Nächsten, der uns braucht und den wir brauchen, auf das gegenseitige Aufeinander-angewiesen-Sein, diesseits und jenseits aller organisierten Institutionen.

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