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Was heisst «bürgerlich»?

Lesedauer: 3 Minuten

(NZZ – THEMEN UND TRENDS – Dienstag, 16. März 1999, Nr. 62, Seite B5)

Von Robert Nef*

FDP, SVP und CVP, die ihre Regierungskandidaten gemeinsam ins Rennen schicken, verstehen sich als «bürgerliche» Parteien – trotz sachpolitischen Differenzen. Was kann «bürgerlich» heute noch heissen, wer kann den Begriff für sich in Anspruch nehmen?

Dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe, ist trotz seiner Fragwürdigkeit ein geflügeltes Wort geworden. Kommt nun der Bürgergesellschaft der Bürger abhanden? Wollen wirklich alle lieber Trittbrettfahrer im Wohlfahrtsstaat sein, mitbestimmen, ohne zu zahlen, «Bürger» zulasten Dritter, «Bürger» zulasten künftiger Generationen, «Bürger» eines möglichst vage definierten grösseren Zusammenschlusses sein? Viele definieren sich heute als «bürgerlich» – tun sie das mit guten Gründen?

Kein Stand, sondern ein Bewusstsein

Das Bürgertum ist, wie Pestalozzi dies an sich selbst beobachtet hat, kein Stand, keine spezifische Menschengruppe, sondern ein Zustand jedes Menschen: jene mittlere Bewusstseinsstufe, welche zwischen dem kollektiv Animalischen, Physischen und dem individuell Sittlichen, im weitesten und besten Sinn Religiösen vermittelt. Dieses Konzept, das «Mittelständische», das «Bürgerliche» nicht in einer bestimmten Gruppe von Interessenten und Klienten zu orten, sondern in einer bestimmten Mentalität, die jeder Mensch wenigstens in Ansätzen in sich trägt und entwickeln kann, weist über die parteipolitischen Querelen des 19. und 20. Jahrhunderts hinaus.

Keine Partei hat einen Monopolanspruch auf Bürgerlichkeit. Bürgerliche Selbstverantwortung und bürgerlichen Gemeinsinn gibt es als Grundeinstellung in allen Bevölkerungskreisen und Wählerschichten, genauso wie es in allen Parteien Etatisten und Sozialisten gibt. Dieses anthropologische Konzept der Bürgerlichkeit ist zukunftsträchtig. Es wird aus den Trümmern der Massengesellschaft nach der grossen Pleite des etatistischen, kollektivistischen und bürokratischen Machbarkeitswahns hervorgehen – eine Wende, die allerdings in Westeuropa kaum mit dem Jahrtausendwechsel zusammenfallen wird.

Bürgerlichkeit verlangt überschaubare Rechte und Pflichten, transparente Verhältnisse bezüglich gemeinsamen Einnahmen und Ausgaben und eine Vergleichbarkeit von persönlichen Nutzen und Opfern. Die Flucht in den grösseren Verband, in welchem auch die Schulden – wenigstens für eine weitere Galgenfrist – fusioniert werden können und die Chance steigt, dass für die eigenen Sonderinteressen auch noch etwas herauszuholen wäre, ist antibürgerlich. In unstrukturierten grösseren Zusammenschlüssen realisiert niemand mehr genau, wer seine Hände in wessen Taschen steckt und wessen Hände in seiner Tasche stecken. Es ist auch für den gut informierten Staatsbürger der Mittelklasse nicht einfach herauszufinden, ob er – per saldo – im wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungsprozess zur Gruppe der Zahler oder der Empfänger gehört und ob und inwiefern er das Gemeinwesen alimentiert oder auf dessen Kosten lebt. Die junge Generation fragt sich, wie sie es anstellen muss, um gleichzeitig das verschuldete Erbe auszuschlagen und trotzdem auf die Rechnung zu kommen – eine Rechnung, die nicht aufgehen kann. Politik wird zunehmend zu einem mehr oder weniger konstruktiven Umgang mit Frustrationen aller Art: Politik als Protest. Gibt es in diesem Klima noch eine Chance für eine neue Bürgerlichkeit, eine neue Geborgenheit in einer transparenten Gemeinschaft solidarisch Verbündeter und Verbundener, welche für die gemeinsamen Kosten gemeinsamer Einrichtungen gemeinsam aufkommen wollen?

Die Linke erringt ihre Erfolge durch den rhetorischen Ruf nach Veränderung. «We need a change!» ist ein wirksames, aktuelles und richtiges Motto. Die Bevölkerung in Westeuropa spürt instinktiv, dass die bisherige Politik in Sackgassen mündet. Der Gegensatz zwischen bürgerlicher und sozialdemokratischer Parteipolitik ist angesichts dieser Herausforderung nicht mehr so eindeutig feststellbar. Trotzdem gibt es ihn! In einer Massendemokratie tendieren alle Gruppierungen dazu, ihrer Wählerschaft ein Paket von Vorteilen zu offerieren, einen Nutzen zu versprechen und die Kosten zu verschleiern, dem politischen Gegner anzulasten oder zeitlich bzw. räumlich zu externalisieren.

Ungleichheit und Produktivität

Die Paradoxie des Vormarschs sozialdemokratischer Parteien besteht aber darin, dass die professionellen Propagandisten den progressiven Mut zur Veränderung und zum Aufbruch ansprechen und gleichzeitig dem konservativen Reflex der Angst vor dem Neuen Rechnung tragen, indem breiten Schichten die Weiterführung oder gar der Ausbau der bisherigen sozialstaatlichen Sicherungsnetze versprochen wird – vermutlich wider besseres Wissen der Parteieliten.

Die Einsicht ist schmerzlich, aber zutiefst notwendig: Eine bürgerliche Gesellschaft muss auf dem Grundsatz der selbsttragenden Kosten- und Nutzenteilung basieren. Staatliche Hilfe und Unterstützung durch zwangsweise Umverteilung muss die begründete Ausnahme und nicht die allgemeine Regel sein. Die Folge von solchen Konzepten ist ein gewisses Mass an Ungleichheit, die im Hinblick auf den Gesamtvorteil zunehmender Produktivität akzeptiert werden muss.

Der politische Prozess sollte in einer bürgerlichen Demokratie ein dauernder Wettbewerb sein um die Kontrolle der Regierungsmacht und um ihre scharfe Beobachtung beim sparsamen Einsatz von Steuergeldern. Dies ist nur möglich, wenn eine Mehrheit ein eigenes Interesse am wirtschaftlichen Einsatz öffentlicher Mittel hat, weil sie in vergleichbarer Weise mitbeteiligt und mitbetroffen ist. Andere Systeme, in welchen dauernd und zunehmend Minderheiten bezahlen und Mehrheiten (als Klienten und Funktionäre) profitieren, sind – unabhängig von ihrer Abstützung auf «höhere Gerechtigkeit» – auf die dauernde Vertuschung von Fakten und auf einen zunehmenden Propagandaaufwand angewiesen. Wirtschaftliche Produktivität ist damit nicht verbunden. Dies ist auch der Grund, warum solche Systeme am Prinzip der Nachhaltigkeit scheitern.


* Robert Nef ist Leiter des Liberalen Instituts Zürichsowie Redaktor und Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte».

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