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Der Staat – nicht Problemlöser, sondern Hauptproblem

Lesedauer: 18 Minuten

Robert Nef, Liberales Institut, Vogelsangstrasse 52, 8006 Zürich

Lilienberg-Seminar der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer ASU/UNI 1998

Untertitel: «Wie man politisch den Rückzug aus der Sackgasse des Wohlfahrtsstaats organisiert» – Beispiele aus dem Sozial-, Kultur- und Bildungsbereich

Als sogenannter Think-Tanker befasse ich mich seit etwa 20 Jahren mit Grundfragen des Liberalismus. Dazu gehört als zentrales Thema die Wohlfahrtsstaatskritik: «Welfarestate-bashing», wie man es auf englisch anschaulich bezeichnet. Auf die Pauke hauen und kritisieren ist leicht, Besser- machen schwierig und das Allerschwierigste ist die Beschreibung funktionierender Kleinexperimente im Hinblick auf das Grossexperiment einer unendlich komplexen und höchst ungewissen künftigen Entwicklung.

Friedrich von Hayek hat zwar den «Weg zur Knechtschaft» 1944 anschaulich und mit grosser Treffsicherheit beschrieben, und sein Lehrer Ludwig von Mises hat schon 1922 analysiert, warum Gemeinwirtschaft, warum Sozialismus auf die Dauer nicht praktikabel sind. Keiner der beiden grossen liberalen Klassiker dieses Jahrhunderts hat es gewagt, eine positive Theorie der Transformation zu entwerfen und anhand von Beispielen eine entsprechende politische Strategie oder gar ein operationelles Programm zu formulieren. Beide konzentrierten sich auf die Forderung, alle den Markt verhindernden, behindernden, verzerrenden und verfälschenden Interventionen so schnell und so radikal wie möglich abzubauen. Im Zentrum steht das Vertrauen, dass der Markt als «Schule ohne Lehrer», bzw. als Entdeckungsverfahren für das jeweils Zuträgliche, Taugliche und als «spontane Ordnung» bzw. als «Improvisation ohne Grenzen und grenzenlose Improvisation» besser funktioniert als jede Strategie. Falsch ist das nicht. Aber reicht es als politisches Reformprogramm?

Wenn dies reichen würde, hätte ich es leicht, die mir gestellte Frage zu beantworten.
«Wie man politisch den Rückzug aus der Sackgasse des Wohlfahrtsstaates organisiert?» Wie? Nämlich so: «Am besten überhaupt nicht. Limitieren Sie die Steuern, reduzieren Sie die Bürokratien, privatisieren Sie die Infrastruktur, deregulieren Sie das Interventionsrecht und vertrauen sie im überigen darauf, dass die entfesselten Märkte spontan schon alles richten werden. Punkt.»

Diese Botschaft ist nicht neu. Die gesamte Wohlfahrtsstaatskritik zielt in diese Richtung und man findet dazu die Argumente bei Gerd Habermann und Roland Baader und bei den erwähnten Klassikern. Dafür braucht es keine zusätzlichen Vorträge und Seminare. Ich versuche es, in Anknüpfung daran noch etwas Konkreteres und Anschaulicheres und Detailierteres aussagen, auch wenn es nicht möglich sein wird, ein eigentliches politisches Programm zu entwerfen.

«Es gibt über hundert Strategien. Keine ist besser als die Flucht», lautet ein chinesisches Sprichwort, man kann sich dadurch aus jeder Verantwortung stehlen. So einfach will ich es mir nicht machen.

Die Frage «Wie man..?» entstammt der berühmt-berüchtigten amerikanischen «How to…» Publizistik. Sie zwingt einen, den Praxisbezug ins Zentrum zu stellen, und man darf darüber nicht voreilig die Nase rümpfen. Es ist leicht, einen Zustand A (etwa den Wohlfahrtsstaat) zu kritisieren, es macht Spass, für einen erwünschten Zustand B (etwa die freie Marktwirtschaft) zu schwärmen, aber man sollte sich nicht davor dispensieren, zu sagen, wie man denn von A nach B gelangen kann. Das ist die Frage des «How to?», des «Wie man?», die man – etwas geschwollener ausgedrückt, als die Frage nach der politischen Strategie bezeichnen kann.

Strategien wollen ja durch einen rational vorwegnehmenden Entwurf künftiger Verläufe auf gegenwärtige Missstände reagieren. Strategen operieren mit Spekulationen über das, was schlimmstenfalls und bestenfalls passieren wird, was besonders gefährlich, was wahrscheinlich und was wünschenswert ist. Ob solches ohne Anleihen beim sogenannten Konstruktivismus möglich ist, wage ich zu bezweifeln. Die politisch-strategische Askese unserer Klassiker, ihre Unergiebigkeit bei der Suche nach praktischen Rezepten für einen Systemwandel, ist daher durchaus konsequent, denn Konstruktivismus steht bei Klassisch-Liberalen zu Recht nicht hoch im Kurs. Ihre diesbezügliche Askese hat darum durchaus eine innere Begründung und Berechtigung. Auch Murray Rothbard, der libertäre Enkel, welcher die klassisch-liberale Schule der Staatsskepsis noch radikaler fortgesetzt hat, ist stark in der Analyse, brillant in der ideengeschichtlichen Ableitung und in der Kritik gegenwärtiger Zustände. Sein Reformprogramm umfasst aber nicht wesentlich mehr als den dreimaligen Kampfruf «abolish, abolish, abolish! – lasst ab, lasst fahren, lasst fahren dahin.» Leider ist Rothbard 1996 im Alter von 61 Jahren an einem Herzschlag gestorben, sodass keine Hoffnung mehr besteht, in einem Alterswerk mehr praktische Hinweise auf eine Strategie der Transformation zu erhalten.

Liberale sind immer in ihrem Element, wenn sie sagen können, was sie nicht mehr wollen. Bei Wilhelm Busch lesen wir in der «Frommen Helene»

«Schweigen will ich von Lokalen
Wo der Böse heimlich prasst
Wo im Kreis der Liberalen
Man den ‹heiligen Vater› hasst.»

Etwas mehr als nur den gemeinsamen Hass auf alle heiligen und auch nicht heiligen Väter sollten wir als Liberale des 20. Jahrhunderts schon zustande bringen, denn allein aus Hass kann kein Reformwerk und kein Transformationsprozess gelingen. Dies gilt auch für den Hass, bzw. den heiligen Zorn gegen den durchaus nicht heiligen Wohlfahrtsstaat. Er darf unsere Sicht für die Proportionen nicht trüben.

«Wirf weg, damit du nicht verlierst» empfiehlt uns Friedrich Hebbel als Lebensregel, aber eine andere Grundregel der Strategie lautet «Evitez le vide» (Jomini). Sie erinnert uns daran, dass wir den berechtigten Kampfruf «Weniger Staat» mit der Frage verbinden sollten: «Aber wer denn sonst?». Genügt der Hinweis auf den Markt, auf die Privatautonomie, die Familie und die kleinen personenbezogenen Netzwerke? Ist das alles nicht zu abstrakt und zu utopisch, um politisch operabel zu sein?

Ist es nicht etwas fahrlässig und naiv, Fehllösungen einfach in der Hoffnung abzuschaffen, dass sich dann aus der Leere – gewissermassen mittels Urzeugung -, das Neue, Bessere ergibt. Oder in einem anderen Bild: Kann sich Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen?

Einer der grössten Theoretiker der Strategie, Clausewitz, hat um die Grenzen seiner eigenen Disziplin gewusst, und seinen Forschungsgegenstand, die Strategie, als ein «System von Notbehelfen» definiert.

Machen wir uns also gemeinsam auf die Suche nach diesem «System von Notbehelfen», und wenn wir es in der Theorie nicht finden, so vermitteln uns vielleicht historische und praktische Beispiele nützliche Hinweise. Mein heutiges Thema ist wohl ganz bewusst und provokativ auf praktische Rezepte hin angelegt und nicht auf irgendwelche Theorien. Sie erwarten von mir, dass ich wesentlich konkreter werde als die erwähnten Klassiker, dass ich sie gewissermassen an praktischer Vernunft übertreffe. Ich soll Ihnen eine handfeste und praktikable helvetische Variante der Thatcher-, Reagan-, und Douglas-Reformen anhand von Beispielen vortragen. Selbstverständlich stelle ich mich der Herausforderung, nach dem Motto «Unmögliches wird prompt besorgt, Wunder brauchen etwas länger.» Ich weise aber darauf hin, dass ich weder für die Schweiz, noch für die Bundesrepublik noch für irgend ein anderes politisches System ein Rezept für den «geordneten Rückzug» aus dem Zylinder zaubern kann.

Von meinem drei Beispielen stammen zwei aus dem Erfahrungsschatz der «Schweizer Geschichte», eines aus dem heutigen Kalifornien. Geschichte ist ein unglaublich instruktives aber oft auch ein gefährliches und verführerisches Laboratorium, vor allem wenn man auch jene Mythen miteinbezieht, von denen sich keine Geschichtsschreibung je ganz isolieren lässt. Die Mythen sind oft ihr bestes Teil, und kein Volk kann ohne Nachteil darauf verzichtet, aber wehe dem Volk, das sich nur noch auf Mythen verlässt.

Erstes Beispiel: Kein Tyrannenmord ohne Rütlischwur

Mein erstes Beispiel liegt in einem deutsch/schweizerischen Seminar auf der Hand. Es ist die Befreiungsgeschichte der Eidgenossen im 13. Jahrhundert. Friedrich Schiller hat in seinem «Wilhelm Tell» gezeigt, dass es nicht genügt, den Tyrannen zu ermorden, um eine Eidgenossenschaft zu gründen. Der Jäger Tell, Einzelgänger, Individualist und Spontanist verkörpert nur die eine, die negative Seite des Willens zur Freiheit und Unabhängigkeit. Sie ist eine durchaus not-wendige Voraussetzung kollektiver Befreiung, aber ebenso not-wendig ist der Zusammenschluss der Männer auf dem Rütli, die in freier Vereinbarung aber doch allgemeinverbindlich und dauerhaft (ewig! – heisst es im Bundesbrief von 1291) regeln wollen, was ihr gemeinsames Überleben sichert. Es ist ein Minimum an Gemeinsamkeit, aber ein not-wendiges Minimum. Darauf pflege ich in den Diskussionen mit Anarchisten, Anarcho-Kapitalisten und Minarchisten immer wieder hinzuweisen.

Tell ist der mutige, unintellektuelle Anarch. Figuren wie Tell sind auch heute notwendig und sie sind allzu selten. Deren Geschoss ist heute in der Informations- und Wissensgesellschaft natürlich nicht mehr physisch, sondern intellektuell und publizistisch. Je treffsicherer, desto besser, sonst verfehlt man möglicherweise den Apfel und trifft sein eigenes Kind, die nächste Generation.

Radikalkritik ist nicht ohne Risiken. Tell wagt die Befreiungstat für sich und die Gemeinschaft, ohne das Bedürfnis zu haben, in ihr zu partizipieren. Wohlgemerkt, Tell hat nicht den Kaiser, das Symbol einer höheren Rahmenordnung, erschossen. Er hat den korrupten, machtgierigen Funktionär, den Steuer- und Sittenvogt, der seine Macht missbraucht, ausgeschaltet.

Ohne Tell kein Rütli, aber ohne den kommunitaristischen Akt des Bündnisses, kein Fortbestand der unabhängigen Eidgenossenschaft. Ihr Zweck lautet noch heute in der Verfassung «Behauptung der Unabhängigkeit nach aussen und Schutz der Freiheit und Rechte der Eidgenossen». Er ist auf einer Urkunde von 1291 festgehalten, die das A4-Format nicht wesentlich überschreitet, eine Urkunde übrigens, die lange verschollen blieb, weil deren Inhalt derart präsent war, dass man das Pergament gar nicht vermisste und weil die Zahl der des Lesens und Schreibens Kundigen im Volk der Hirten ohnehin nicht allzu gross war. Wenn der Vertrag von Maastricht sich auf die historisch verbrieften Vereinbarungen des Rütli-Bundes beschränken würde, hätte ich keine Probleme mit einem EU- Beitritt.

In der heutigen Seminarveranstaltung wollen Sie mich aufgrund des gestellten Themas offensichtlich nicht in der Tellen-Rolle des «wellfarestate-bashers» und Fiskal-Tyrannenmörders hören, sondern als konstruktiv-kritischer Eidgenosse auf der Rütliwiese, auf der ein Bund jenseits des Wohlfahrtsstaats geschlossen wird, ein Bund der auf Rückbau und nicht auf Ausbau tendiert. Dahinter steckt eine Fülle von Problemen.

Gibt es überhaupt in der heutigen Zeit und in der heutigen Schweiz instruktive Beispiele für solche Bündnisse? Gibt es im reichsten Land der Welt ein Rezept gegen die ordnungspolitische Verluderung? Kann man sich für ein solches Projekt des geordneten Rückzugs begeistern, ist es konsensfähig? Wie gross muss der äussere und innere Leidensdruck sein bis es zustande kommt?

Stimmt das Bild von der Entwöhnungskur? Stimmt das böse Wort von den Gefängniswärtern, die selbst Gefangene sind, das Dürrenmatt für die Schweiz geprägt hat, die Karikatur von den glücklichen Sklaven, die ihre Gratispritsche und Gratissuppe nicht verlieren wollen, die Klage über die bei subventioniertem Brot und Spielen dekandent gewordenen Unmündigen, das Schreckbild von den degenerierten Sadomasochisten, die weder auf das wohlfahrtsstaatliche Zuckerbrot noch auf die exzessiv normierten Peitschenhiebe einer allmächtigen Regulierungs- und Überwachungsmaschinerie verzichten wollen?

Eine Fülle von Fragen, die alle schwer zu beantworten sind…

Wer sucht, der findet, unsere Trends sind zwar nicht gut, aber wir machen unsere Fehler langsam, mit einiger Verspätung und auf einem sehr hohen materiellen Niveau. Unsere geschichtlich gewachsenen Strukturen sind immer noch ein Fundus, aus dem sich auch in Zukunft für manches Seminar ein interessanter Erfahrungsaustausch alimentieren lässt.

Wie jedes Beispiel, hinkt auch das Beispiel von Tell und vom Rütlibund, wenn wir es heranziehen, um den Rückzug aus dem Wohlfahrtsstaat zu exemplifizieren. Den Männern auf dem Rütli ging es darum, die «Freiheit der Väter» wieder zu erlangen. Es waren konservative nicht progressive Verschwörer. Dieses konservative Element ist auch in der aktuellen Wohlfahrtsstaatskritik spürbar. Durchaus zu Recht.

Kultur, Bildung und soziale Fürsorge gab es auch zur Zeit unserer Vorväter, möglicherweise war Vieles besser, persönlicher, gemütlicher und menschlicher. Wo es keine staatliche Sozialfürsorge, keine Alters- und keine Arbeitslosenrenten gab, war man eben auf die Geborgenheit in der Familie, auf die Grosszügigkeit eines Brotherrn, Feudalherren oder auf die Caritas in den Kirchen angewiesen.

Ein begabtes Kind konnte bei Mönchen oder beim Pfarrer Lesen und Schreiben oder sogar Latein lernen, wenn seine Eltern keinen Hauslehrer bezahlen konnten. So weit, so gut, wenn man nicht gerade zu den – nicht wenigen – Ausnahmen gehörte, welche durch alle Maschen solcher Netze fielen. Der allgemeine Lebensstandard war niedriger, materielle Not häufiger. Wer sich zurücksehnt in vergangene Jahrhunderte, muss sich bewusst sein, dass ihm möglicherweise das Schicksal des «Kutschers Johann» zuteil geworden wäre und nicht dasjenige des reichen Privatmanns, und des humanistischen Kunst- und Bildungsfreundes, der beispielsweise auf dem Lilienberg residiert hätte und mit dem wir uns – mit gutem Grund – gerne identifizieren. Es gibt kein «Zurück in die gute alte Zeit!»

Ein solches «Zurück» ist aber auch gar nicht notwendig. Die durch relativ freie Märkte bewirkte Produktivität geht ja durch einen Rückbau des Wohlfahrtsstaates gar nicht zurück, sondern sie steigt sogar tendenziell. Ob aber jene rein privatautonom funktionierende Vernetzungen, welche an die Stelle der unbezahlbar gewordenen wohlfahrtsstaatlichen Totalversorgung treten sollen, gleich auf Anhieb und nahtlos funktionieren, wenn der Rückzug angetreten ist, muss bezweifelt werden.

Auch der geordnete Rückzug aus den wohlfahrtsstaatlichen Fehlstrukturen hat seine Durststrecke. Entziehungskuren funktionieren nicht über Nacht und selten ohne Rückfälle. Das, was an Strukturen aus der Vor-Wohlfahrtsstaatszeit noch da ist (vor allem in den Familien und Nachbarschaften, in frei gewählten Kleingruppen) genügt möglicherweise nicht.

Möglicherweise sind gewisse Verhaltensweisen, Opferbereitschaft, Rücksichtnahme, Dienstbereitschaft, traditionelle Formen des Befriedigungsaufschubs zugunsten anderer nach mehreren Generationen (man spricht heute auch von «Sozialkapital») im Obrigkeits-, Umverteilungs- und Wohlfahrtsstaat irreversibel verloren gegangen. Wenn dies der Fall ist, braucht es lange Zeit für das gemeinsame Lernen durch Erfahrung, dass sogenannt altruistisches und loyales Verhalten letztlich im aufgeklärten Eigeninteresse liegt. Sollte sich solches Wissen irgendwo in den Genen festgesetzt haben, so sind wir nocheinmal davongekommen und haben Glück gehabt. Wenn nicht, so ist durchaus mit der Schwererziehbarkeit des Menschengeschlechts zu rechnen…

Friedrich von Hayek unterscheidet in seinem Spätwerk «The Fatal Conceit» zwei Grundtypen der Moral, die Moral der Kleingruppen, die sich «face to face» begegnen und die Moral der anonymen Grossgesellschaft. Natürlich sind moralische Verhaltensweisen, die der Mensch in sog. «face-to-face-Gruppen» in Jahrmillionen entwickelt hat, nicht in ein- bis zwei Generationen zu zerstören. Soziokulturelle Traditionen können aber innerhalb von zwei Generationen wirksam und kaum reversibel unterbrochen werden. Sie sind aber glücklicherweise auch nicht unsere einzige Basis und auch nicht unsere einzige Hoffnung. Wir leben ja nicht nur in Kleingruppen sondern auch in anonymen Grossgesellschaften. Darin liegt für jene, welche von der Marktwirtschaft überzeugt sind, auch eine Chance.

Die anonyme Grossgesellschaft braucht kein «Rütli» und auch keinen gemeinsamen Eid. Sie basiert auf internationalen Märkten, nicht zuletzt auch auf Finanzmärkten. Ihr «Kaiser» ist keine machtgierige, bestechliche Person, sondern die ziemlich unbestechliche Börse… Das durch den Kapitalismus bewirkte aufgeklärte Eigeninteresse hält sie in Gang. Millionen von teils zutreffenden und teils irrtümlichen Kosten-Nutzenrechnungen gewährleisten zwar keine idealen Zustände, aber insgesamt positive Entwicklungen, welche die Produktivität erhöhen. Diese kommt erfahrungsgemäss schliesslich allen zugute, wenn auch nicht gleichmässig. Es profitieren davon auch jene, die sich häufiger geirrt haben als andere. Die einen mag dies beunruhigen, die andern beruhigen, ich gehöre eher zu den letzteren.

Trotzdem möchte ich auf funktionierende Moralsysteme in face-to-face-Gruppen nicht verzichten. Doppelt genäht hält besser. Wer weiss, ob nicht auch der international vernetzte Kapitalismus einmal Schiffbruch erleiden könnte. Dann wäre mir ein Rütlischwur mit Mitmenschen, die sich feierlich versprechen, sich in keiner Not und Gefahr zu trennen, doch noch lieber als der Glaube an die Erholung des Dow-Jones-Index’.

Das Beispiel Tell und Rütlischwur und seine Brauchbarkeit im Hinblick auf aktuelle sozial-, kultur- und bildungspolitische Probleme ist damit – Schiller sei Dank – bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Ich möchte es aber nicht zu Tode reiten. Zu jedem klassischen Vortrag gehören mindestens drei Beispiele…

Ich fahre also fort mit meinem zweiten Beispiel.

Zweites Beispiel: Der Rückzug von Marignano, ein vielschichtiges Paradigma

Die 1515 verlorene Schlacht von Marignano, heute ein Vorort von Mailand, markiert das Ende der schweizerischen Grossmachtpolitik und den Anfang der Neutralitätspolitik.

1991 habe ich an einem Seminar der Friedrich-Naumann-Stiftung in Sintra (Portugal) erstmals den Begriff des «geordneten Rückzugs» als Kernstück eines radikal-liberalen Programms vertreten. An einem Seminar der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) habe ich 1997 dazu 13 Thesen vorgetragen, die in der Reflexion 39 publiziert worden sind. Ich will sie heute nicht wiederholen. Der geordnete Rückzug ist nicht nur eine hoch komplexe und durchaus unbeliebte strategische Operation, er hat auch keinerlei politisches «Sex-appeal».

Man hat mir immer wieder empfohlen, die von mir propagierte politische Prozedur als «Angriff in eine andere Richtung» zu bezeichnen. Ich kann mich dafür nicht begeistern, und ich bin inzwischen in einem andern Zusammenhang zur Erkenntnis gelangt, dass der «geordnete Rückzug» in der Erfolgsgeschichte der Schweiz eine durchaus zentrale Rolle spielt und möglicherweise zum Kernbereich der «Secrets of the Swiss Success» gehört. Er eignet sich durchaus als Beispiel für ein politisches Prinzip, das mit Selbstbeschränkung und Machtverzicht zu tun hat.

Selbstbeschränkung als Nischenphilosophie ist ein Überlebensprinzip für Kleine. Was soll ich also als helvetische Maus dem bundesdeutschen Elefanten für Erfahrungen vermitteln? Ein Blick auf den Globus zeigt mir, dass Europa als Ganzes gegenüber der Welt durchaus ähnliche Proportionen hat, wie die Schweiz gegenüber Europa. Möglicherweise lohnt sich ein «Abschied von der Machtpolitik» auch auf dieser Ebene.

Ich bin überzeugt, dass die Reduktion der Macht in der Politik im Sinn des politischen Systems auch mit dem Rückzug aus der Machtpolitik zu tun hat.

Die grundsätzliche Bereitschaft, auf aussenpolitische und wirtschaftspolitische Macht zu verzichten ist vermutlich der wiksamere Garant für das fundamentale Prinzip des «Limited Government», wirksamer als alle anderen Bremsen wie etwa die Gewaltentrennung und -hemmung und das Referendum im Sinne des Volksvetos.

Keine Bevölkerung ist gegenüber den Versuchungen der Macht immun. Macht kann auch von Kollektiven durchaus als lustvoll erlebt werden, selbst wenn sie, wie alles, auch ihre Kosten hat, die möglicherweise bald einmal die von den politischen Machthabern gepriesenen Nutzen übersteigen. Eine Bevölkerung muss lernen, dass internationale Macht auch ihre Schattenseiten hat, Neid und Begehrlichkeiten weckt, und damit Unsicherheit bewirkt. Auch Nicht-Macht, hat, – richtig dosiert – ihren diskreten Charme, wenn sie nicht zur Ohnmacht wird. «Pour vivre bien, vivons cachés», heisst die entsprechende Maxime auf Französisch. Die Franzosen haben ja in ihrer Geschichte – wie die Deutschen – mit dem zwiespältigen Phänomen der Macht durchaus auch zwiespältige Erfahrungen machen müssen. Die Schweiz hat ihren eigenen Weg der Selbstverwirklichung durch Selbstbegrenzung und durch Machtverzicht nicht etwa durch besonders weise Führer oder durch besonders aufgeklärte Mehrheiten gefunden. «Limited government» und «Limited Taxation» in Verbindung mit «Minderheitenschutz» und «Konkurrenz der Systeme» haben uns Erfolg gebracht. Wir haben diese Prinzipien weder entdeckt noch erfunden, sie sind uns aufgrund glücklicher Konstellationen und schmerzlicher Erfahrungen zuteilgeworden. Sie sind keine Frucht besonderer politischer Reife, Einsicht und Aufgeklärtheit. Wäre dies der Fall, so würden wir heute weniger fahrlässig damit umgehen.

Von einem Lesebuch-Gedicht über den «Rückzug von Marignano» ist mir nur noch die erste Strophe präsent:

«Von Marignano zogen sie her
Das Antlitz heimwärts gewendet
Die Schwerter schartig, zerkrümmt der Speer
Und die Ehre, die Ehre geschändet».

Die Kämpfer auf dem Rückzug liessen die Verwundeten nicht etwa im Stich, sondern trugen sie mit, gestützt auf jene zwei Grundsätze der Soldatenmoral, die sich in Kriegen als intelligenteste Form des Egoismus bewährt hat: «Überleben und die Kameraden nicht im Stich lassen». Man sollte die Maxime auch beim Rückzug aus dem Wohlfahrtsstaat im Auge behalten. Ein «Sauve qui peut!» könnte nämlich unabsehbare und verheerende Folgen haben, und dies nicht nur bei den im Stich Gelassenen…

Was soll dieser historische Exkurs? Für mich ist die Entdeckung dieses Prinzips die eigentliche «Trouvaille» des heutigen Referats. Ich bin nicht der erste, der auf die kulturhistorische Bedeutung dieses Misserfolg- und Wendeerlebnisses hinweist.

Jedes Volk, jede Gruppe, jede Organisation, ja, jeder Mensch hat sein «Marignano», der Ort an dem er seine Grenzen erkennt und sich zurückzieht ohne zu fliehen und ohne zu endgültig zu resignieren. Häufig wird diese Wende zum Neubeginn eines besser fundierten Erfolgs, zum Abschied von der Hybris, zur Entdeckung des Prinzips von «Versuch und Irrtum», zum Lernen durch Erfahrung und zur Adaptation der innern Kräfte an die äussern Herausforderungen.

Als Motiv für die Fresken in der Haupthalle, des sogenannten «Waffensaals» des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich, (in welcher die Heldentaten der Vorväter gefeiert werden), wählte der Maler Ferdinand Hodler ausgerechnet den Rückzug von Marignano und porträtierte sich in einem der geschlagenen und verwundeten Krieger selbst.

Sein Fresko mit dem Titel «Einmütigkeit», eine Apotheose der Demokratie befindet sich in Hannover und sein «Auszug der Jenenser Studenten», eine Allegorie der «Wehrbereitschaft und des Milizprinzips» in Jena. Die Wahl des für den Nationalstolz nicht gerade förderlichen Motivs, stiess natürlich auf Widerstand.

Man wusste damals noch nicht, wie publikumswirksam gerade die bildliche Darstellung von Katastrophen, Tragödien und Extremsituationen sein kann. («Titanic», einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, ist – fast ein Jahrhundert nach dem eigentlichen Ereignis – zum Symbol für einen Wendepunkt geworden, ein «Marignano» der Seefahrt. Über den technologischen Sicherheits- und Fortschrittswahn triumphiert der ewige Hang zur Sentimentalität…) War dies der Grund, warum man Hodler schliesslich gewähren liess, weil man ahnte, dass die Darstellung des Scheiterns letztlich attraktiver ist als die Glorifizierung des Erfolgs? Ich vermute etwas anderes. Wahrscheinlich war das Honorar schon vereinbart, und man scheute weitere Ausgaben – ein gutes Beispiel für den Segen einer knauserigen Kulturpolitik.

Was ist nun die überzeitliche Bedeutung des «Marignano»- Prinzips?

Ich meine, dass es mehr als nur die Entdeckung (nicht Erfindung) der Neutralität als Überlebensprinzip eines kleineren relativ unabhängigen heterogenen Subsystems bedeutet.

Neutralität ist ein hoch komplexes häufig missdeutetes Überlebensprinzip eines Nicht-Mächtigen, der seine Eigenständigkeit wahren möchte. Das Prinzip hat viel mit innen- und aussenpolitischem Machtverzicht einer Regierung zu tun. Es beruht auf einer Art Macht-Abstinenz, die eine sehr markante radikal-liberale Komponente hat, die meines Wissens von Staats- und Wirtschaftstheoretikern noch wenig beachtet worden ist. Ein aussenpolitisch neutraler Staat hat weniger Probleme auch innenpolitisch, auch wirtschaftspolitisch machtabstinent zu sein.

Auch Europa hat sein «Marignano». Ich meine die beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts, welche auch die Entkolonialisierung bewirkt haben bzw. davon bestimmt worden sind. Ein schmerzlicher und nicht immer geordneter Rückzug… Verglichen mit der globalen Entwicklung ist Europa ein Subsystem geworden, das sich – im eigenen Interesse – nicht allzuviel Weltmachtpolitik anmassen sollte.

In der Schweiz sind es dieselben Kreise, welche sich nach einer starken und innovativen Regierung sehnen, die dem tumben Volk endlich zeigen soll «wo’s lang geht», welche auch die als schmähliche Position des Abseitsstehens gedeutete Neutralität so schnell wie möglich auf den Misthaufen der Geschichte werfen möchten. Ich gehöre nicht zu diesen Kreisen. Neutralität im Sinne von militärischer und politischer Interventionsaskese hat für mich etwas eminent Liberales. Wer sich politisch nicht in fremde Händel mischt, wird auch eher bereit sein, sich nicht in die privaten Angelegenheiten seiner Bürgerinnen und Bürger und der wirtschaftlichen Unternehmungen einzumischen. Neutralität als aussenpolitische Maxime bürgt zwar nicht automatisch für «limited government», aber es schafft günstige Voraussetzungen dafür.

Macht-Verzicht gegenüber aussen und innen darf nicht mit dem Verzicht auf wirksame Verteidigung verwechselt werden. Ich weiss, dass jede Art von militärischer Sicherheitsproduktion leicht in ein Aggressionspotential umschlagen kann, doch gibt es durchaus technische und organisatorische Vorkehrungen, welche ein militärisches Machtinstrument strategisch angriffsuntauglich machen.

Was hat nun das alles mit dem geordneten Rückzug aus dem Wohlfahrtsstaat zu tun, und mit einer Exemplifikation im bildungs-, kultur- und sozialpolitischen Bereich. Auf den ersten Blick sehr wenig, auf den zweiten Blick etwas mehr.

Über Sinn und Unsinn der Neutralität als sicherheitspolitische Maxime im Europa des 21. Jahrhunderts zu meditieren haben wir hier keine Zeit. Ich gehöre unter der den Intellektuellen und auch unter den Reserveoffizieren zu jener Minderheit, die an der sicherheitspolitischen Neutralität der Schweiz festhalten möchte. Der Sitz des IKRK, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, sollte auf neutralem Boden liegen, dies ist mein Hauptargument, das ich nicht allein auf Gruppenegoismus stütze. Im überigen zweifle ich daran, dass es altruistische und solidarische Staaten gibt. Wir sind nicht die Einzigen, welche ihre kollektiven Interessen optimieren, wobei klar ist, dass es auch hier intelligentere und dümmere Verfahren gibt und das landläufig als egoistisch bezeichnete nicht unbedingt das Intelligentere ist. Das «breite Volk» mit seiner traditionellen Angst vor aller Veränderung, möchte mehrheitlich an der Neutralität festhalten. Einmal mehr bin ich im gleichen Boot, in dem die von den Intellektuellen Verachteten, sogenannt Rückständigen sitzen, was mich aber in keiner Weise stört.

Die Neutralität als übergeordnetes Prinzip des politischen Systems gegenüber Wirtschaft und Kultur, gegenüber religiösen und sozialen Gruppen schätze ich als Prinzip der Selbstbegrenzung und Selbstbescheidung bezüglich jeder Art von Machtausübung sehr hoch ein. Das vielbeschworene und häufig missverstandene Prinzip der Subsidiarität ist engstens mit dieser Art der Interventionsaskese verknüpft.

Ein geordneter Rückzug aus dem Wohlfahrtsstaat ist nichts anderes als die konsequente schrittweise Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in die einzig richtige Richtung: Vom Zentralen zum Nonzentralen, vom Grossen zum Kleinen, vom Öffentlichen zum Privaten, vom Kollektiven zum Individuellen. Die Regierung des Wohlfahrtsstaats, das ganze politische System, muss von seinem Eingriffs-, Interventions-, Leistungs-, Lenkungs- und Unterstützungswahn befreit werden. Nur wenn dieser Rückzug stattfindet, kann auch auf der anderen Seite die Sucht nach solchen Interventionen, ganz im Sinn einer Art Entwöhnungskur, geheilt werden.

Nietzsche hat den Schenkenden, den Schaffenden und den Lehrenden als Vorspiele des Herrschenden bezeichnet (Fragmente aus dem Nachlass). Dies trifft gewiss im individuellen Bereich zu, und ist sogar recht optimistisch formuliert. Im Bereich der Politik wird das Herrschende durch staatliches Schenken, Schafen und Helfen nicht zur Vorstufe sondern zum Grundprinzip des Gesamtsystems.

Es kommt zu einer verhängnisvollen Verwechslung der beiden Moralsysteme, wenn man der anonymen Grossgesellschaft durch den Staat jene Vernetzungen erzwingen will, welche man der «face-to-face-Moral» von Kleingruppen nicht mehr zutraut und zumutet.

Das «Marignano» des Wohlfahrtstaates hat bereits stattgefunden, und zwar sowohl im materiellen Bereich des Nicht-mehr bezahlbar-Seins als auch im immateriellen Bereich der mitmenschlichen und sozialen Atrophie in der Kleingruppenmoral. Es ist Zeit für einen geordneten Rückzug. Allerdings gibt es kein «Zurück» in eine gute alte Zeit.

Wir stehen vor der Herausforderung, jene politische Neutralität zu etablieren, damit sich die kapitalistische Moral der anonymen Grossgesellschaft mit der anthropologisch und traditionellen Kleingruppenmoral der «face-to-face» Gruppen zu einer neuen, in dieser Form noch nie dagewesenen Synthese verbinden kann.

Dies tönt alles sehr abstrakt. Ich leite darum über zu meinem dritten Beispiel, das illustriert, wie ich mir das konkret vorstelle.

Drittes Beispiel: Der Coffee-Shop, als Gemeinschafts-und Kulturzentrum

Im Anschluss an eine Konferenz von «Free-market-think-tankers» in San Francisco hatte ich Gelegenheit, drei Tage bei einem Verwandten meiner Sekretärin in den Suburbs von San Francisco zu verbringen. Wer diese Vorstädte, diese riesigen, amorphen Agglomerationen von Einfamilienhäusern kennt, in denen die «Lower Middleclass» lebt, weiss, dass sich dort ausser den üblichen Shopping-Centers, Tankstellen, Schulen und eventuell noch Sportanlagen, kaum irgendwelche Infrastrukturen befinden, die sozialen oder kulturellen Zwecken dienen. Auch die gemütliche Kneipe sucht man vergebens, und um in irgendein Steak-house zu gelangen oder in ein «französisches Restaurant», muss man zunächst gegen eine Stunde Auto fahren. Eine soziale und kulturelle Wüste über die jeder wohlfahrts-und kulturstaatlich verwöhnte Europäer die Nase rümpft und bei der jeder sozial- und kulturpolitische Aktivist einen ungeheuren Bedarf an staatlichen Aktivitäten wittert.

Der erste Blick trügt – wie so oft.

«Die Wüste lebt». Ich habe dort ein erstaunliches Beispiel von kleinunternehmerischer Initiative erlebt, bei der sich die bei uns immer noch üblichen Kriterien von ökonomischen, sozialen und kulturellen Angeboten vielfältig überlappen. Mein Gastgeber, ein sehr durchschnittlich intelligenter Amerikaner ohne College-Ausbildung, dessen Lektüre bei Kriminalromanen beginnt und aufhört und der mit der kulturellen Unkost des amerikanischen Fernsehens durchaus zufrieden ist, hat zusammen mit seiner wesentlich intelligenteren Frau, die aus den Philippinen stammt, einen Kleinbetrieb aufgebaut, der für einen wohlfahrtsstaatlich deformierten Durchschnittseuropäer erstaunliche Perspektiven eröffnet.

Mein Gastgeber, nennen wir in Mike hat mir demonstriert, wie sich der Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren auch bei uns entwickeln könnte, wenn er nicht durch Regulierungen aller Art und – vor allem – durch staatlich finanzierte Kultur- und Sozialangebote verfälscht würde.

Mike hat vor fünf Jahren einen Coffee-Shop eröffnet. Er hat dafür ein baufälliges Eckhaus gemietet und mit Freunden – improvisiert, aber gegen Entgelt, umgebaut.

Die Idee, verschiedene Kaffees und kaffeeähnliche Trendgetränke zu vermarkten genügt nun allerdings nicht für einen nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Auf diese Idee kommen auch noch ein paar andere. Mike hat – dank seiner mit asiatischer Klugheit gesegneten Ehepartnerin (die möglicherweise auch nach diesen Kriterien «evaluiert» worden ist) und einem kleinen verschworenen Kreis von Kumpeln, die alle auf flexible zusätzliche Kleinjobs angewiesen sind, seinen Kleinbetrieb aufgezogen, der neben und wegen seiner ökonomischen Ziele im Mikrobereich eminent wichtige soziale und kulturelle Aufgaben wahrnimmt.

Zunächst einmal ist sein «Coffee-shop» eine ökonomisch fundierte Selbstorganisation für Randständige. Seine «Crew» ist bunt zusammengewürfelt und besteht keineswegs aus «Spitzenkräften». Mike ist der Boss, aber er muss seine Kumpel mit grösster Flexibilität und Rücksichtnahme behandeln. In Fällen von Krankheit, Schwangerschaft, sozialen Problemen basieren die Lösungen auf wechselseitiger Loyalität, durchaus nach der egoistischen Kriegerethik: «Überleben und die Kameraden nicht im Stich lassen». Das ist der kleinste Nenner des aufgeklärten Selbstinteresses. Wenn einer schummelt oder sonstwie negativ auffällt, fliegt er – aber dies ist ein seltener Ausnahmefall. Man kann es sich allerseits ökonomisch nicht leisten, asozial zu sein.

Die Rollen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer verlieren sich in einem unendlich komplexen Netz von mehr oder weniger flexiblen Abhängigkeiten, in welcher, dies sei zugestanden – auch die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen Kaliforniens und der USA eine Rolle spielen mögen. Sie werden gleichzeitig unterlaufen, missachtet und genutzt: «A la carte…»Es würde zu weit führen, hier das ganze Soziogramm seiner Belegschaft von 5 – 10 teilzeitlich Beschäftigten darzustellen.

Bei den minimalen Investitionen hat die Frau mitgeholfen, die dank ihrem Job in der Telekommunikation und ihrem familiären Netzwerk kleine Kredite locker machen konnte. Sie spielt mit Erfolg den Finanzminister des Kleinbetriebs und der Kleinfamilie, eine Lösung, die in vielen Partnerschaften in der Unter- und Mittelklasse die Regel und nicht die Ausnahme bildet.

Im Laufe der ersten drei Geschäftsjahre hat Mike nicht nur die «ökonomische Selbsthilfegruppe» und die «gleichberechtigte Partnerschaft» für sich «erfunden» bzw. «entdeckt» sondern eine ganze Reihe anderer kulturelle und sozialer Errungenschaften, die ich hier nur noch stichwortartig aufzähle:

Mikes «Erfindungen»:

  • Die sich selbst ergänzende unentgeltliche Quartierbibliothek
  • Die Gratis-Ludothek und die Begegnung von Alt und Jung bei verschiedensten Würfelspielen
  • Das Kammerkonzert, in dem abwechslungsweise Pop- und Klassik zu hören sind, und in dem eine grosse Zahl von Coffee-shop Besuchern – wie auch der Boss selbst -, wohl erstmals mit Klassikern wie Bach und Vivaldi konfrontiert in Kontakt kommen. Sie finden es «fun» und wollen oft mehr davon… Also ereignet sich – auf ganz kommerzieller Basis auch ein «Kleinprojekt der Musikerziehung».
  • Die sozialmedizinische Beratungsstelle durch den Musiker, der gleichzeitig auch Musiktherapeut ist und nur gegen Trinkgeld spielt, weil er im Coffee-shop seine Schüler und Klienten acquiriert.
  • Die Quartiergalerie zur Förderung von jungen Künstlern

Alle diese Netze von kleinen sozialen und kulturellen Dienstleistungen hat er nicht etwa aus besonderer Menschenfreundlichkeit geknüpft sondern um mehr Kunden zu haben und seinen Gewinn zu steigern, oder «Profit zu maximieren». Seine gewinne sind nicht besonders gross. Er wird noch mehr gute und originelle Ideen haben müssen (und noch besser auf die Ratschläge seiner Frau hören müssen!) bis er dann seinen zweiten «Coffee-shop» eröffnen kann, der nach demselben Muster gestrickt sein soll, aber natürlich ein bisschen anders. Ich glaube nicht, dass Mike zum «Californian King of Coffee-shops» avanciert, dazu ist er zu wenig clever und zu bequem. Aber zum Überleben seiner kleinen Unternehmung die rein wirtschaftliche Motive hat, aber gerade deswegen auch nachhaltige positive und soziale und kulturelle Folgen zeitigt, wird es vermutlich reichen. Ich hoffe es wenigstens. Übrigens: Wo bleibt da die Unterscheidung vom Shareholder- und vom Stakeholder-value?

Das Beispiel lässt natürlich viele Fragen offen und gibt strategisch für unsere Situation auch nicht das her, was wir eigentlich brauchen würden. Die kalifornische Wildnis der sozialen und kulturellen Unterversorgung und ihre beginnende Bewirtschaftung durch Kleinpioniere ist nicht mit der Wüste vergleichbar, welche der bankrotte Wohlfahrtsstaat in Europa hinterlassen wird. Das Beispiel zeigt aber, dass in offenen ökonomischen und sozialen Systemen einer Dienstleistungsgesellschaft die «Wüste» zu Leben beginnt, wenn man die innovativen Kräfte des Marktes nur frei spielen lässt.

Es lohnt sich bestimmt, solche Kleinexperimente zu studieren, und zu überlegen, wo es denn bei uns «klemmt», wenn sich in Europa – wenigstens nördlich der Alpen – Ähnliches, Vergleichbares nicht zwangsloser und häufiger ereignet. Dann landen wir wieder bei der klassischen Formel des «Abolish» oder – in der anschaulichen Sprache eines Kindergebets: «Wirf ab, Herz, was Dich kränket, und was Dir bange macht.»

Sie haben mich mit der heutigen Thematik auf ein «Quest», auf eine lange abenteuerliche Reise geschickt, die ich unmöglich heute abschliessen kann. Wer solche Fragen beantworten will, ist auf die Hilfe Vieler angewiesen, denn auch hier kann nur der Markt, ein Markt von Ideen und Experimenten, wirklich weiterhelfen. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und freue mich auf Ihr feed-back in der Diskussion.

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