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«Prinzenerzieher der Nation»

Lesedauer: 3 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 1998/1999 – Seite 48)

Gesammelte Aufsätze zum 90. Geburtstag von Georg Thürer

«Jeder Leser muss auf der Hut vor sich selber sein, hat er doch seine Lieblingsgebiete, die er sofort aufspürt und nur allzu leicht zu Kriterien der Gesamtleistung erhebt.»

Vor ziemlich genau 60 Jahren hat Georg Thürer in den «Schweizer Monatsheften» die Illustrierte Schweizergeschichte von E. Fischer besprochen. Die gesammelten Aufsätze1 enthalten diesen kleinen Text nicht, dafür den gerade heute besonders aktuellen Aufsatz: Vom Sinn der Zugewandten Orte. Gedanken zum Vergleich zwischen der Alten Eidgenossenschaft und dem Zusammenschluss Europas («Schweizer Monatshefte», 42, 1962, S. 217 ff).

Die eingangs erwähnte kurze Rezension bestätigt eine These, welche Georg Thürer nicht allzu fern liegen dürfte, eine These, welche auch sein Lebenswerk als Historiker und Schriftstellet prägt: Im Mikrokosmos der erwähnten Besprechung, in dieser unscheinbaren Knospe, ist schon der ganze Makrokosmos seines Lebenswerks angelegt, in welchem den grösseren Zusammenhängen von Heimat- und Weltgeschichte nachgespürt wird.

Der Sammelband, in welchem Peter Wegelin (zusammen mit Alois Riklin, Ernst Ruesch und Helen Thurnheer) 37 Beiträge aus über 60 Jahren zusammengetragen hat, btingt nur eine Auswahl aus dem umfangreichen wissenschaftlichen, publizistischen und poetischen Gesamtwerk, zu welchem auch noch eine grosse Zahl von Vorträgen und Vorlesungen zu zählen wären, die zwar weder auf dem Papier noch in elektronischen Speichern figurieren, dafür in der lebendigen Erinnerung der Zuhörer zum Bestandteil eigener Reflexion geworden sind. Wer kann denn die Langzeitwirkung eines begnadeten Lehrers und eines den freien Vortrag beherrschenden Redners messen, in einer Zeit, wo sich viele durch ein seichtes Infotainment «zappen», das dann nach quantitativen Einschaltquoten von Apparaten (nicht etwa von Gehirnen) beurteilt wird?

In der erwähnten Rezension aus dem Jahre 1938 ist auf drei Seiten schon vieles von dem angelegt, was im spätem Lebenswerk Georg Thürers so schön zur Blüte kam und so reiche Frucht getragen hat. Die drei charakteristischen Stichworte im Untertitel des Sammelbandes, «Grundrisse, Betrachtungen, Mahnungen» finden sich implizit bereits in dem kleinen Text. In einem Nebensatz lesen wir «ist doch unsere Politik zu drei Vierteln Wirtschaftsgeschichte der Gegenwart», und im selben Abschnitt: «Jede Zeit muss ja ihre Geschiebte neu schreiben, jedes Schweizergeschlecht die Kunde seiner Herkunft und seines Lebensraumes erforschen und neu formen», ein Satz, der ins Stammbuch all jener gehört, welche der Illusion anhängen, man könne nun mit einer staatlich beauftragten und mit einigen Millionen dotierten «Historikerkommission» die «definitive Wahrheit» über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg erforschen, publizieren und ad acta legen. «Oh, es braucht Mut, eine Schweizergeschichte zu schreiben, und es braucht einige Nachsicht, sie zu besprechen! Jeder Leser muss auf der Hut vor sich selber sein, hat er doch seine Lieblingsgebiete, die er sofort aufspürt und nur allzu leicht zu Kriterien der Gesamtleistung erhebt». Dies liest sich wie ein «Grundriss des Rezensierens» und wie ein Mahnwort an jene, welche sich der anspruchsvollen Aufgabe der Geschichtsschreibung widmen und immer gleichzeitig Mut, Nachsicht und Selbstkritik mobilisieren sollten. Der kleine Text endet mit einer Betrachtung, die im Jahre 1938 einen ganz besondern Stellenwert hatte, und die im selbstbewussten «Excathedra Stil» eines Jungakademikers (und in der zeitgenössischen Diktion) von jenem Lebensmut zeugt, den der heute Neunzigjährige mit dem ihm eigenen weisen und bescheidenen Lächeln auf andere zu übertragen vermag: «In einer Demokratie aber ist jeder Vater, jeder Lehrer, jedermann, der mitJugend zu tun hat, Prinzenerzieher der Nation. Denn jeder Staat, gleichviel ob Einmann- oder Volksherrschaft, taugt so viel als sein Souverän. Unser Souverän ist unser Volk, einer seiner Hauptbildungswege die Selbsterkenntnis in seiner Geschichte. Welch heikle, welch herrliche Aufgabe!» Wir danken Georg Thürer, dass er diese Aufgabe so hingebungsvoll wahrgenommen hat und immer noch wahrnimmt, und wir danken dem Herausgeber und dem Verlag, dass er uns und allen künftigen «Prinzen der Nation» den Zugang zu diesen reichen Quellen aufs Schönste ermöglicht.

1 Georg Thürer, Gemeinschaft im Staatsleben der Schweiz, Grundrisse, Betrachtungen, Mahnworte aus sieben Jahrzehnten, gesammelt zum 90. Geburtstag des Autors, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart, Wien, 1998.

Schweizer Monatshefte – Heft 12/1, 1998/1999 – Seite 48

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