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Der Selbstverzicht auf Menschenrechte und seine Grenzen

Lesedauer: 17 Minuten

Beitrag für “Festschrift Watrin”

Volenti non fit iniuria

Das Thema “Selbstverzicht auf Menschenrechte” mag auf dem Hintergrund einer Realität, in welcher elementarste Menschenrechte weltweit in unerträglichem Ausmass verletzt werden, als intellektuelle Frivolität erscheinen. Eine nüchterne und kritische Beurteilung der Voraussetzungen und eine Gegenüberstellung von Ansprüchen auf Menschenwürde, durch Selbstbestimmung einerseits und durch deren fremdbestimmten Schutz andererseits, steht aber letztlich doch im Dienst der Freiheit, die ihrerseits den Kern der Menschenwürde bildet. Wenn also in diesem Beitrag eine gewisse Skepsis zum Ausdruck kommt, so richtet sich diese nicht gegen die menschheitsgeschichtliche Errungenschaft der Allgemeinen Menschenrechte und auch nicht gegen das Prinzip von deren Schutz, sondern gegen die Erwartung, allein schon die Deklaration gewährleiste deren Verwirklichung. Ein Maximum an deklarierten guten Absichten bringt kaum je das Optimum an realisierten Zielen. Deklarierte Rechte, die nicht wirksam geschützt werden, diskreditieren die Idee durchsetzbarer Ansprüche. Es gibt auch ein herausforderndes Grenzgebiet zwischen dem Ur-Menschenrecht auf Freiheit, zu dem auch das Verzichtenkönnen gehört, und anderen Menschenrechten. Taten sind beim Schutz der Menschenrechte wichtiger als Worte. In vielen Fällen ist es immerhin besser, die Dinge stehen wenigstens auf dem Papier, als nicht einmal dort.

Drei weitere Bemerkungen sind vorauszuschicken, um den Vorwurf des Zynismus zu entkräften. Wenn im Untertitel von “Selbstverzicht” die Rede ist, so geht es keineswegs darum, allenfalls auf die Respektierung von Menschenrechten Dritter zu verzichten. In Frage steht lediglich die Möglichkeit, in bestimmten Fällen auf das Geltendmachen eigener Menschenrechte zu verzichten. Das Thema betrifft auch nicht den kollektiven Verzicht einer Gruppe oder eines Staates auf Anerkennung von Menschenrechten. Dies würde der Idee der Universalität widersprechen. Es geht einzig und allein um die Diskussion der Zulässigkeit und der Voraussetzungen eines individuellen Selbstverzichts. Die Frage, wie sinnvoll es sei, über Möglichkeiten des Selbstverzichts zu debattieren, während gleichzeitig viele Menschen unter der akuten Missachtung und Verletzung ihrer Rechte leiden, darf, ja, muss gestellt werden. Sie lässt sich nicht ohne weiteres beantworten. Immerhin geht es bei der Abgrenzung von Selbstbestimmung und Allgemeinverbindlichkeit um etwas Grundsätzliches, das zwar möglicherweise zu Spitzfindigkeiten führt, das aber in der Folge aufgrund von Missachtungen und Fehldeutungen und -interpretationen sehr rasch einmal ebenfalls an die Freiheit, und damit “ans Lebendige” der Menschenrechte gehen kann.

Menschenrechte und Liberalismus

Als Leiter eines kleinen “Think tanks” mit der Bezeichnung “Liberales Institut”, werde ich immer wieder aufgefordert, den Liberalismus so kurz und so einfach wie möglich zu definieren. Hier die bisher kürzeste Fassung, als Formel, in drei Worten:

“Marktwirtschaft plus Menschenrechte”: M+M. Wem das zu lapidar ist, und wer mir noch ein paar Worte mehr kreditiert, dem schlage ich jeweils Folgendes vor: “Marktwirtschaft plus Menschenrechte plus freiwillig praktizierte Moral”: M+M+fpM. Je länger die Formel wird, desto intensiver werden die Spannungsfelder und desto mehr wächst der Erklärungs- und Interpretationsbedarf.

Eine andere, prägnante Formel für die Umschreibung des liberalen Kerngehalts geht auf Ludwig von Mises zurück, dessen Werke für den Liberalismus des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung haben. “Wo Zwang war, soll Vertrag werden”, eine Formel, die an einen andern bedeutenden Wiener anknüpft, an Sigmund Freuds “Wo Es war, soll Ich werden.” Damit ist bereits das erste Argumentationsfeld abgesteckt, auf dem das Thema abzuhandeln ist: die Willensfreiheit. Das freie Verzichten-Können, setzt ein freies Wollen voraus.

Im Mittelpunkt steht also das Spannungsfeld zwischen Zwang und Willensfreiheit. Es gibt keine einheitliche liberale Doktrin zum Thema Willensfreiheit. In Anlehnung an Molière kann man sagen: “Es gibt solche die dazu ‘Ja’ sagen (etwa Kant), es gibt solche die dazu ‘Nein’ sagen (etwa Hume) und ich sage (wie etwa J.St. Mill) ‘Ja und Nein’”. Für die Materialisten (wie etwa Karl Marx) “bestimmt das Sein das Bewusstsein” (etwa bei den Genen, oder auch beim materiellen Erbe eines Menschen). Dies kann auch aus liberaler Sicht nicht generell bestritten werden. Für die Idealisten bestimmt aber “das Bewusstsein das Sein”, (etwa im politischen Prozess oder im Bereich der Caritas), und für die Dialektiker wirken beide Bestimmungen aufeinander ein.

Bei Marie von Ebner-Eschenbach, einer intelligenten Kennerin der menschlichen Psyche, lesen wir, dass nur wer nie geliebt und nie gehasst habe, an den freien Willen glauben könne. Bei Nietzsche finden wir zum Thema Willensfreiheit folgendes Dilemma: “Wer die Unfreiheit des Willens fühlt, ist geisteskrank, wer sie leugnet ist dumm.” Die Option für das eine oder andere fällt in dieser Situation besonders schwer, und auch das sonst so beliebte “Sowohl-als-auch” drängt sich hier nicht auf.

Wer weder geisteskrank noch dumm sein möchte und trotzdem an so etwas wie einen freien Willen glaubt, sucht gern nach dem “Trost der Philosophie”. Es darf doch nicht sein, dass der Mensch nur ein Spielball von verborgenen Trieben und Mächten ist. Wäre dies der Fall, so würde die ganze Konstruktion des persönlichen Einstehen-Müssen für die Folgen von Willensakten, die Verantwortung und auch die Schuld – beispielsweise bei der Verletzung von Menschenrechten – zusammenbrechen. “Gut” und “böse” verlören ihren moralischen Sinn, und das politische Engagement würde zu einem sinnlosen Aufstand gegen die Macht des historisch- dialektischen bzw. des gottgewollten Schicksals.

Ein Blick in ein philosophisches Wörterbuch (die älteren sind meist die besseren) vermittelt Klärendes und Tröstliches. Bei den Stichworten “Freiheit”, “freier Wille” und “Determinismus” stösst man zunächst auf die Feststellung, der Freiheitsbegriff sei mehrdeutig. “In der Geschichte des Problems der Willensfreiheit hat die mangelnde Auseinanderhaltung der Mehrdeutigkeit des Freiheitsbegriffs eine grosse Rolle gespielt. Es sind drei Begriffsfelder zu unterscheiden:

  1. Der ethische Freiheitsbegriff, als die Fähigkeit durch vernünftige Motive andere Antriebe zu beherrschen
  2. Der psychologische Freiheitsbegriff: die Wahlfreiheit als die Fähigkeit des Willens, zwischen verschiedenen Motiven von sich aus zu entscheiden, d.h. unter verschiedenen möglichen Handlungen zu wählen,
  3. Der metaphysische Freiheitsbegriff als Ursachlosigkeit, als Unabhängigkeit des Willens von irgendwelcher Verursachung.” (Thormeyer P., Philosophisches Wörterbuch, 2. Aufl. Leipzig 1920)

Diesen letzten Freiheitsbegriff dürfen wir getrost beiseite lassen. Die metaphysische Freiheit eines absoluten Wesens ist ja gar nicht unser Thema. Freiheit als Unabhängigkeit von Notwendigkeiten physikalischer und biologischer Art ist den Menschen nicht gegeben. Dazu wiederum Ludwig von Mises: “Vergebens pocht der Mensch mit seiner ärmlichen Metaphysik an die verschlossenen Pforten des Wissens um letzte Dinge.” Und: “Den Begriff des Handelns erkennen wir als handelnde Menschen aus einem Wissen, das uns vor aller Erfahrung gegeben ist. Hätten wir dieses Wissen nicht schon in uns, könnten wir es durch keine Erklärung, Schulung, Belehrung und gewiss auch durch keine Beobachtung und Erfahrung gewinnen.” “Der Begriff der Wahrheit ist sinnvoll nur im Hinblick auf das menschliche Denkvermögen.” Soweit Ludwig von Mises in seinem Hauptwerk “Nationalökonomie”, Genf 1940, auf Englisch “Human Action”, und soviel als Ausrede dafür, dass hier mit dem Begriff des “freien Willens”, der bei diesem Thema zentral ist, nicht weiter gehadert wird.

Vom Ursprung des Liberalismus und der Menschenrechte

Neben der Aufforderung, den Liberalismus so kurz wie möglich zu definieren, gibt es eine zweite beliebte Fragestellung. Wer war der erste Liberale? Wann ist die Idee der Freiheit erfunden bzw. entdeckt worden?

Es gibt hier verschiedene Datierungen. Eine recht weit verbreitete und im Zusammenhang mit dem Thema Menschenrechte durchaus sinnvolle Datierung geht ins Jahr 1789 zurück. Die “Erklärung der Menschenrechte” in der französischen Nationalversammlung wird häufig als gemeinsame Geburtsstunde des politischen Liberalismus und des Sozialismus gedeutet, jene zwei sich zum Teil überlappenden und zum Teil konkurrierenden Strömungen gegen den Feudalismus des Ancien Régime. Etwas früher war – was in Europa gern “vergessen” wird – die “Virginia Bill of Rights”. Beide Dokumente werden aber zu Recht als eine Frucht der Aufklärung bezeichnet.

Diese weit verbreitet Betrachtungsweise ist wohl zu kurzfristig und zu eurozentrisch.

Sowohl die Idee der Freiheit als auch die Idee der Menschenrechte ist viel älter und viel universeller. Die Genfer Philosophin Jeanne Hersch hat vor 30 Jahren, als es darum ging, den 20. “Geburtstag” der “Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” zu feiern, ein wunderschönes Buch herausgegeben, das eine Auswahl von Texten aus verschiedensten Kulturen und Zeitaltern abdruckt, eine wahre Fundgrube, die uns als Europäer auch ein bisschen zur Bescheidenheit mahnt. ( Le droit d’être un homme, UNESCO, Paris 1968, dt. Übers. , ‘das recht ein mensch zu sein’, Basel 1990.)
Wir Europäer bzw. Amerikaner haben weder die Freiheit noch die Menschenrechte “erfunden” bzw. “entdeckt”. Sie sind angelegt im Fundus der menschlichen Kulturgeschichte, die allerdings auch die grauenvollsten Beispiele der Verletzung von Menschenrechten überliefert. Vielleicht waren es am Anfang auch die Verletzer, welche die Defensive der Nicht-verletzt-werden-Wollenden in Gang setzten? Die Entstehung der Menschenrechte aus dem immer weiträumiger geführten Kampf der freiheitsbewussten Verletzten gegen die machtbewussten Verletzer…

Eine Durchsicht dieser Dokumentation von Jeanne Hersch führt zu folgendem Schluss, – gleichzeitig eine erste Zwischenbilanz dieses Beitrags:

Die Geburtsstunde der Freiheit ist das Bewusstwerden der Möglichkeit, “Nein” zu sagen, wenn jemand anderer etwas von uns verlangt, das wir selbst nicht wollen.

Das Alte Testament verlegt dieses “Nein” gegenüber Vorschriften bereits an den Anfang der Menschheitsgeschichte, als Eva das Verbot brach, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, der es den Menschen ermöglicht, zwischen “gut” und “böse” zu unterscheiden. Wenn wir die Menschheitsgeschichte bis in die mythische Vorgeschichte hinein verfolgen, kommen wir zum Schluss, dass der erste liberale Mensch eine Frau war: Eva. Sie ist deswegen oft genug für die Vertreibung aus dem Paradies verantwortlich gemacht, verflucht und gescholten worden. Wer die Freiheit liebt, und die Unterscheidung zwischen “gut” und “böse” als Voraussetzung für die Anerkennung von Menschenrechten hält, wird zwar vielleicht nicht den Verlust des Paradieses verschmerzen, aber in Dankbarkeit der ersten Dissidentin gedenken, die gleichzeitig die “Entdeckerin” der Freiheit ist, weder Aristoteles, noch John Locke, noch Adam Smith, sondern Eva.

In der griechischen Mythologie setzt sich allerdings ein Mann, Prometheus über das Verbot des Zeus hinweg, und bringt den Menschen das Feuer, das gleichzeitig nützlich und gefährlich ist. Aber auch hier ist kreative Dissidenz im Spiel. Ein weiteres Beispiel kreativer Dissidenz verkörpert aber auch im griechischen Kulturkreis eine Frau: Antigone; für sie sind Sittengebote wichtiger als das auf Staatsraison abgestützte Recht.

Das Gefühl der Freiheit entsteht im Widerstand gegen Fremdbestimmung, gegen Pflichten, Vorschriften und Forderungen, die man weder innerlich noch äusserlich akzeptiert. Freiheit ist ein Exodus aus der Knechtschaft, eine Weigerung, abhängig zu sein.

Widerstandsrecht und Gruppenautonomie

Widerstand allein genügt aber nicht, um gleichzeitig Freiheit und Menschenrechte zu schützen. Es sei hier einem Schweizer gestattet, auf einen anderen Mythos zu verweisen, auf die Tellensage, welche dank Friedrich Schillers Drama “Wilhelm Tell” zum ausserordentlich fruchtbaren und sinnvollen Ursprungsmythos der Schweizerischen Eidgenossenschaft geworden ist, und wofür die Schweiz dem Deutschen Schiller zu ewigem Dank verpflichtet ist. Die bekannteste Szene des Dramas ist der Apfelschuss: Der Schütze Tell wird vom Tyrannen Gessler gezwungen, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen. Er verspricht dafür Tell, der sich wegen Nichtgrüssens des Gesslerhutes strafbar gemacht hat, Straffreiheit. Tell geht darauf ein und trifft den Apfel. Man hat diese Apfelschuss-Szene juristisch schon oft analysiert, und die strafrechtliche Qualifikation des Apfelschusses ist eine beliebte Prüfungsfrage. Es kann anhand der Sage das ganze strafrechtliche Instrumentarium von Schuld, Rechtfertigungsgründen, virtuellen und aktuellen Gefährdungen, von Vorsatz, Eventualvorsatz und Notstand abgehandelt werden.

Inwiefern auch eine ganze Kaskade von verletzten Menschenrechten, deren Verletzung allenfalls durch die erzwungene oder freiwillige Einwilligung wieder heilt, in Frage steht, bleibe hier dahingestellt. Sicher verletzt Gessler Tells Menschenrechte, verletzt Tell auch Menschenrechte seines Sohnes, der in die grausame Prüfung einwilligt? Heilt nun diese Einwilligung des Sohnes die Zumutung, nach dem Grundsatz “volenti non fit iniuria”? Gilt der Satz: Er hat zugestimmt, folglich liegt kein Unrecht mehr vor? Hat auch Tell “eingewilligt”, indem er auf das grausame Spiel eintrat, allerdings unter Drohung? Dahinter steht die menschheitsgeschichtlich und vielleicht auch menschenrechtlich relevante Urszene des Sohnesopfers, ein religionsgeschichtlicher Bogen von Abraham und Isaak bis Golgotha. Volenti non fit iniuria. Demjenigen der einwilligt, der sich fügt, der sich opfert, geschieht kein Unrecht? Aber wenn diese Einwilligung unter Zwang erfolgt?

Tell erschiesst später den Tyrannen Gessler und wird zum Inbegriff des gerechtfertigten Tyrannenmörders, obwohl er natürlich Gesslers Menschenrecht auf Leben verletzt. Damit stellt sich, – glücklicherweise ausserhalb des Themas “Selbstverzicht” -, die heikle Frage, ob es ein Widerstandsrecht gibt, das sich über Menschenrechte hinwegsetzt und in diesem Sinn darauf “verzichtet”, sich daran zu halten. Wenn wir “Gott mehr gehorchen müssen als den Menschen” und die Menschenrechte als Menschenwerk gedeutet werden, gefährdet dies in einer pluralistischen multikulturellen Welt die universelle Geltung der Menschenrechte, indem sie nur noch im Rahmen der jeweiligen religiösen Metaphysik zur Anwendung kommen. Man hat oft die Geburtsstunde der Freiheit mit dem Tyrannenmord und dem Widerstandsrecht gleichgesetzt, und wer die Bedeutung der Dissidenz für die Freiheit betont, unterstreicht diesen Zusammenhang. Dies ist aber nur die Hälfte der politischen Befreiung. Wer sich vom Tyrannen befreit, steht nachher vor dem Problem, gemeinsame Probleme gemeinsam beweglich zu lösen. Rechte – auch Menschenrechte – müssen nicht nur durch die Bedrohung durch Tyrannen geschützt werden, sondern als Aufgabe der Gemeinschaft, in der sich auch eine Tyrannei der Mehrheit etablieren kann. Es muss ein Minimum an politischen Zwangsstrukturen geschaffen werden, welche die Ordnung gewährleisten und die gemeinsame Verteidigung dieser Ordnung sicherstellen. Es muss auch eine Grenze für die Regierungsstrukturen dieser inneren Ordnung fixiert werden. All das haben – und dies ist nicht nur mythisch, sondern auch historisch – die auf der Waldwiese “Rütli” versammelten Eidgenossen beschlossen, beschworen und verbrieft. Daraus folgt eine weitere, allerdings nicht ohne diese Vorbemerkungen verständliche Definition des Liberalismus, ebenfalls in drei Worten: “Tell plus Rütli”, Liberalismus als Dialektik von anarchistischer Befreiung und freiwillig kommunitaristischer Verbindung. Möglicherweise finden wir in dieser Kurzdefinition einen Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen des Selbstverzichts auf Menschenrechte.

Ursprung der Menschenrechte

Doch nun sei zunächst, in Analogie zur Frage nach der Geburt des Liberalismus, die Frage nach der Entstehung der Menschenrechte beantwortet. Sie sind vermutlich als erweiterte “Fähigkeit zur Fürsorglichkeit” auch in vorhistorischer Zeit angelegt, aber zeitlich nach der Entdeckung der Freiheit.

Die Geburtsstunde der Menschenrechte ist die Erkenntnis, dass man alles, was man an Rechten für sich selbst und seine Gruppe beansprucht, grundsätzlich jedem Mitmenschen in seiner Eigenschaft als Mensch ebenfalls zugestehen sollte.

Eine solche Erkenntnis setzt schon einiges an Reflexionsbereischaft, an Erfahrung und an Reife voraus, und tatsächlich liegt die Menschheit, was die Realisierung von Menschenrechten betrifft, immer noch in den Wehen. Ein Blick in die Tageszeitung oder Tagesschau klärt uns darüber auf, wie verletzlich und wie gefährdet Menschenrechte sind, gerade auch in sogenannt “zivilisierten Ländern”. Ob man sich selbst bei der Beanspruchung von Menschenrechten ausnehmen kann und darf, ob es auch ein Recht gibt, zu Rechten Nein zu sagen, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.

Willensfreiheit contra Zwang

Die Liberalen interessiert die Willensfreiheit als das Gegenteil von Zwang, Zwang als Fremdbestimmung durch andere Menschen und Organisationen. Gegenüber Zwang können wir uns wehren, wir können ihn aber auch akzeptieren, um dadurch grössere Übel zu vermeiden. Wir können ein gemeinsames Gelten und Anerkennen von Zwang vereinbaren, beispielsweise Steuerpflicht, allgemeine Wehrpflicht oder Schulpflicht , sind aber dafür aus liberaler Sicht begründungspflichtig. Im Zweifel für die Freiheit, Freiheit im Sinn des Nicht-Zwangs.

Der Verzicht ist eine Möglichkeit des Auswählens und eine Möglichkeit, die in vielen Fällen den Weg zur inneren Freiheit und Unabhängigkeit bahnt. Ein Verzicht auf Menschenrechte ist eine Zumutung, “ein starkes Stück”, aber ein Verzicht auf Verzicht, d.h. ein Selbstverzicht auf Verzichten-Können ist noch schwerwiegender.

Genau hier liegt der Kernbereich des Themas: Volenti non fit iniuria, demjenigen der zustimmt, geschieht diesbezüglich kein Unrecht, Selbstverzicht auf Rechte muss möglich sein. Gilt dies auch für Menschenrechte? Die ganze Privatautonomie basiert auf einem Austausch und einer Bewirtschaftung von Ansprüchen und Verzichten.

Dazu sei ein weiteres MaI Ludwig von Mises zitiert: “Im Wählen” (zwischen Alternativen des Handelns und Verhaltens) “fallen alle menschlichen Entscheidungen. Im Wählen wird nicht nur zwischen materiellen Gütern und persönlichen Diensten entschieden. Alles Menschliche steht zur Wahl; jedes Ziel und jedes Mittel, Materielles und Ideelles, Hohes und Gemeines, Edles und Unedles stehen in einer Reihe und werden durch das Handeln gewählt oder zurückgestellt. Nichts, was Menschen begehren oder meiden wollen, bleibt der Ordnung und der Reihung durch die Wertskala und durch das Handeln entzogen.”

Kann und darf der Mensch einwilligen, sich zu etwas zwingen zu lassen? Wo sind die Grenzen dieser Einwilligung? Setzt er selbst diese Grenzen, oder setzen es andere, die es “besser wissen”, oder setzt es die politische Gemeinschaft, die es “besser zu wissen glaubt” als die direkt Betroffenen und Beteiligten?

“Wohl” oder “Wille”, was hat Vorrang?

Gefragt ist hier nach einer weiteren Unterscheidung, welche die Frage nach der Zulässigkeit des Selbstverzichts betrifft. Es sind vier Sätze, die einander z.T. widersprechen, und die wir gerne alle in gleicher Weise befürworten würden:

Satz 1: “Des Menschen Wille ist sein Himmelreich”, (dt. Sprichwort) oder in der säkularisierten Fassung von Schiller aus Wallenstein: “Des Menschen Wille ist sein Glück.”

Satz 2: “Jeder Mensch weiss selbst am besten, was für ihn gut ist.”

Satz 3: (Er entstammt der medizinischen Ethik und handelt vom Menschen in der Patientenrolle, wird aber häufig auf alle bedürftigen Menschen und, in der wohlfahrtsstaatlichen Denkweise, auf alle Menschen generell übertragen).
“Das Wohl des Patienten (bzw. des Menschen generell) sei das höchste Gebot. Salus aegroti (hominis) suprema lex esto.”

demgegenüber steht Satz 4: “Der Wille des Patienten (bzw. des Menschen generell) sei das höchste Gebot. Voluntas aegroti (hominis) suprema lex esto.”

Da stehen sie sich nun gegenüber: “Wohl” und “Wille”, und die These, jeder wisse selbst am besten, was zu seinem Wohl gereicht! Eine meisterhafte Abhandlung zu diesem Dilemma findet sich im Monolog des Grossinqusitors in Dostojewskijs “Brüder Karamasow”, einem grossartigen Dokument, das die Anmassung wohlwollender Fremdbestimmung anprangert.

“Schutz des Einzelnen vor sich selbst?”

Die Frage nach einer Umsetzung der Menschenrechte ins nationale Recht und nach dem Verhältnis von Staatsrecht und Völkerrecht stellt sich im Zusammenhang mit dem individuellen Verzicht auf Menschenrechte nicht. Sie ist ein anderes, ebenfalls interessantes Thema. Ist beispielsweise ein Gesetz über die Allgemeine Wehrpflicht oder über die Todesstrafe menschenrechtswidrig, weil es das individuelle “Recht auf Leben” verletzt? Zur Debatte steht hier nicht der demokratisch ermittelte Mehrheitswille, sondern das Recht auf Privatautonomie, auf individuelle Dissidenz, ein Verhalten, das nicht die Menschenrechte Dritter beeinträchtigt, ein Verhalten, das niemanden objektiv schädigt ausser allenfalls den Verzichtenden selbst.

Einen kollektiven nationalen, religiösen oder soziokulturellen Selbstverzicht auf Menschenrechte, ein menschenrechtliches “Opting out” einer ganzen Gruppe steht im Widerspruch zur Grundidee der universellen Geltung der Menschenrechte.

Es geht bei unserer Thematik um die Möglichkeit des individuellen Verzichtens, um das, was man in der polizeirechtlichen Lehre auch den “Schutz des Einzelnen vor sich selbst” nennt. Im Zentrum steht die Frage nach der Zulässigkeit des Selbstverzichts, die Frage nach dem Stellenwert der Privatautonomie.

Es geht um Bereiche, die vom Gesetzgeber allenfalls freizuhalten wären, wenn er den Schutz der Menschenrechte generell abstrakt gewährleisten will. Spitzfindigkeiten, oder grundsätzliche Fragen von praktischer Relevanz? Weiss wirklich jeder mündige Mensch selbst am besten, was für ihn gut ist? Oder ist der Mensch zunehmend ein “Orientierungswaise”, welcher obrigkeitlicher, kirchlicher oder familiärer Obhut bedarf, wenn er über menschenrechtlich geschützte Kernbereiche seiner Persönlichkeit frei verfügen will? Genügt sein jeweiliges Wissen um sein Wollen zu steuern?

Voraussetzungen des Selbstverzichts

Eines ist unbestritten: Sowohl dieses Wissen als auch das darauf abgestützte Wollen kann in vielfältigster Weise lückenhaft, gestört, unreif, beeinträchtigt oder pathologisch sein, sodass eine Vielzahl von Sonder- und Grenzfällen entsteht. Dem Juristen ist die Schwierigkeit der Abgrenzung von Rechtsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Mündigkeit und Handlungsfähigkeit bekannt und es gibt eine reiche Kasuistik dazu.

Dies führt zu einer zweiten Zwischenbilanz:

Wo das Wollen nicht auf Privatautonomie gründet, sondern auf irgendwelchen äussern oder innern Zwängen, ist auch der sogenannte Wille zum Verzicht abzulehnen.

Für einen Liberalen ist der Satz, dass das “höchste Gebot” das Wohl des Betroffenen sei und dass Vorschriften zu dessen Schutz notfalls gegen seinen Willen durchgesetzt werden dürfe, die grösste Herausforderung. Der von den Eltern meiner Generation noch oft geäusserte Satz “Wir wissen schon, was gut ist für Dich, und wir wissen es besser als Du”, ist für mich immer noch ein Ärgernis, auch wenn ich zu den Glücklichen gehörte, welche nur wenig damit konfrontiert worden sind, und – rückblickend – manchmal sogar zu Recht. Ich habe diesen Satz trotzdem selbst gegenüber meinen Kindern nie (bzw. nie bewusst und mit Absicht) benützt und ihnen schrittweise das gewährt, was das Schweizerische ZBG (Art 301) folgendermassen umschreibt: “Die Eltern gewähren dem Kind die seiner Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung und nehmen in wichtigen Angelegenheiten, soweit tunlich, auf seine Meinung Rücksicht.” So sind meine beiden Söhne – wenigstens im juristischen Sinn – mündig geworden, und ich hoffe, dass sie mir im Alter “die meiner Senilität entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung – soweit tunlich” – auch gewähren werden. Auch in der Erziehung bleibt der Freudsche Schritt vom “Es” zum “Ich” mit der Mises’schen Idee vom “Zwang” zum “Vertrag” verknüpft.

Selbstverzicht setzt bestimmt Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit voraus, und angesichts des Rechtsguts, auf das gegebenenfalls verzichtet wird, sind die Massstäbe hier streng anzusetzen. Damit sind bereits alle Fälle, in denen Kinder und Unmündige vom “Verzicht auf Menschenrechte” betroffen sind, von einem Verzicht, der stellvertretend für sie von ihren Eltern geleistet wird, mit einem grossen Fragezeichen versehen. Im Zweifel für das Menschenrecht des Kindes und nicht für das Elternrecht auf Fremdbestimmung ihrer Kinder. Dies gilt auch bei medizinischen Eingriffen, bzw. beim Verzicht auf medizinische Hilfe, beispielsweise bei Bluttransfusionen. Die Kinder müssen vor den Vorurteilen und Fanatismen ihrer Eltern geschützt werden, und selbst die Willensäusserung eines afrikanischen Mädchens “Ich will diese Beschneidung” muss auf dem Hintergrund des sozio-kulturellen Gruppendrucks in Frage gestellt werden. “Volenti non fit iniuria”, ja, aber die Fähigkeit einer autonomen Willensbildung muss gegeben sein.

Opfertod und Freitod

Im folgenden sollen einige Fälle des Selbstverzichts auf Menschenrechte angeführt werden, die heute relativ unbestritten sind, um zu zeigen, wo denn überhaupt das Problem liegt. Beginnen wir mit dem Menschenrecht auf Leben und körperliche Integrität.

Relativ unbestritten ist wohl der Selbstverzicht auf das Recht auf Leben, d.h. das Recht auf den freiwilligen Opfertod im Hinblick auf höhere Werte. Die Tellsage kennt eine Version von Tells Tod, wo der Tyrannenmörder als alter Mann bei der Rettung eines Kindes aus einem Bergbach den Tod riskiert und erleidet.

Umstrittener ist bereits das Recht auf Suizid und auf Beihilfe zum Suizid. Es geht um jene Fälle, in denen der Wille, sein Leben zu beenden auch wirklich dem Willen des Betroffenen und Beteiligten entspricht und nicht einer momentanen Störung der Willensbildung. Dass ein Selbstverzicht auf das Menschenrecht auf Leben erlaubt sein soll, kann wohl kaum bestritten werden, allerdings müssen jene Fachleute ernst genommen werden, welche eine diesbezüglich freie Willensbildung eher als Ausnahme betrachten, und die meisten Suizide und Suizidversuche als Folge einer pathologisch gestörten Willensbildung deuten.

Patientenrechte und die “Ehrfurcht vor dem geistigen Leben anderer”

Beim Recht, auf eine medizinische Behandlung zu verzichten, kann unter dem Gesichtspunkt “Volenti non fit iniuria” die übliche Argumentationsweise umgedreht werden. Die sogenannten Patientenrechte gegen Zwangsbehandlung gehören wohl zum Grundbestand des Menschenrechts auf die Achtung der persönlichen Integrität. Der Verzicht auf dieses Menschenrecht ist aber – was erstaunen mag – ausserordentlich häufig. Viele Patienten argumentieren gegenüber den Ärzten wie folgt: “Macht mit mir, was ihr für richtig hält, ihr Fachleute werdet es schon wissen…” Ich selbst gehöre nicht zu dieser Kategorie von Patienten, und ich bringe dieses Beispiel gewissermassen contre coeur. Aber: Es muss erlaubt sein, auf seinen menschenrechtlichen Anspruch, über den eigenen Körper und über den Abbruch lebensverlängernder Behandlung zu entscheiden, zu verzichten und den Entscheid darüber an Dritte, z.B. an Ärzte oder an Angehörige zu delegieren. Ein solcher Verzicht muss aber jederzeit widerrufbar sein. Ärzte berufen sich gegenüber Patienten, die ihre Rechte auf Behandlungsverweigerung geltend machen, oft auf ein Gegenrecht, gewissermassen ein “Menschenrecht”, andere zu heilen, bzw. am Leben zu erhalten. Menschenrecht gegen Menschenrecht, Patientenrecht gegen Ärzterecht? Wer so fragt, verwischt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen einem Unterlassungsanspruch (des Patienten) und einem Recht, etwas zu tun (des Arztes). Der Unterlassungsanspruch wiegt aus liberaler Sicht viel schwerer.

Selbst der Hinweis auf eine allgemeine menschenrechtliche Ethik der “Ehrfurcht vor dem Leben”, wie sie von Albert Schweitzer formuliert worden ist und die Lebenserhaltung als höchstes Ziel postuliert, begründet kein Recht, den Patientenwillen zu missachten. Lesen wir doch bei Albert Schweitzer auch den sehr bemerkenswerten Satz: “Nur wer Ehrfurcht vor dem geistigen Wesen anderer hat, kann andern wirklich etwas sein.” Dieser Satz – “Liberalismus pur” – gehört ins Stammbuch jedes professionellen Helfers und Dienstleisters. Zur Frage der Lebensverlängerung und Leidensverkürzung, der passiven Sterbehilfe und der diesbezüglichen Patientenrechte gibt es weltweit noch wenig Gerichtsurteile, weil sich die meisten Grenzfälle in der letzten Lebensphase abspielen und sich die Betroffenen nicht mehr wehren können. Wo kein Kläger mehr da ist, gibt es auch keinen Richter, und den Angehörigen fehlt meist das Motiv, ein Verfahren durchzuziehen. An der Eindeutigkeit und Konstanz des Patientenwillens, sterben zu dürfen, sollten allerdings keine Zweifel bestehen. Wenn dies nicht klar erkennbar ist, lauert die Gefahr des Missbrauchs und des Missverständnisses. Wer sich das Leben nehmen will, soll dies auch selbst durchführen. Eine Beihilfe sollte aber in jenen Ausnahmefällen erlaubt sein, wo der oder die Betroffene dazu physisch nicht in der Lage ist, diesbezüglich aber einen kontinuierlichen, klar erkennbaren Willen äussert. Eine Schmerzbekämpfung, bei welcher eine Lebensverkürzung bewusst in Kauf genommen wird, aber nicht das primäre Ziel ist, gilt, wenigstens nach der medizin-ethischen Praxis in der Schweiz, als unbedenklich.

Mit zusätzlichen Vorschriften ist das Problem kaum zu lösen, wohl aber mit dem Anspruch auf freie Arztwahl, ein Recht, das zwar als solches kein Menschenrecht darstellt, aber eine wichtige Voraussetzung bildet, dass man die menschenrechtlich fundierten Patientenrechte durchsetzen kann. Es ist umstritten, ob der Fragenkomplex der Patientenrechte überhaupt unter die Menschenrechte subsumiert werden kann und soll. Die Frage kann hier offen bleiben. Grundsätzlich wäre eine restriktive Auslegung des Katalogs erwünscht. Es bereitet aber Mühe, wenn die Grundfrage nach Lebensverlängerung wider den Willen des Patienten weniger Gewicht erhält als z.B. die Frage, ob das Recht, ein Kopftuch tragen zu dürfen, bzw. nicht tragen zu müssen, ein Menschenrecht sei.

Weitere Beispiele

Einen Sonderfall stellt der Schwangerschaftsabbruch dar. Der Verzicht auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft betrifft nicht nur die Schwangere, sondern auch den Nasciturus und allenfalls den Erzeuger. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung prallen hier aufeinander, und aus liberaler Sicht drängen sich nicht unbedingt nur jene Lösungen auf, welche man üblicherweise mit “Liberalisierung” bezeichnet. Die Frage liegt m. E. ausserhalb des Themas “Selbstverzicht”, weil ja bei einem Schwangerschaftsabbruch der Foetus nicht selbst auf sein Leben verzichtet.

Eine zunehmende Rolle spielt heute das Recht, bezüglich persönlicher Sicherheit Selbstverzicht zu üben, sprich gefährliche Sportarten wie Extremkletterei, riskante Jobs (Stuntman oder Testpilot) oder Hobbies (Abenteuerreisen) auszuüben oder besonders gesundheitsschädliche Genussmittel zu konsumieren.

Hier stellt sich die Frage, ob in Staaten mit umfassender Sozial-, Unfall- und Krankenversicherungspflicht wirklich ein Selbstverzicht auf das Menschenrecht auf Sicherheit vorliegt, oder ob ein Risiko zu Lasten Dritter eingegangen wird, das durch das Stichwort “Volenti non fit inuria” nicht gedeckt ist. Niemand will zugunsten Dritter, die auf eigenen Wunsch besonders riskant leben, eine höhere Zwangsprämie entrichten.

Die Lösung dieses Problems liegt aus liberaler Sicht nicht bei zusätzlichen Fragezeichen gegenüber solchen Selbstverzichten auf Sicherheit, sondern bei einer freieren Gestaltung der Sozialversicherung und einem grösseren Spielraum für Selbstbehalte und massgeschneiderte Policen, mit andern Worten um einen freiheitlichen Umgang mit dem “Menschenrecht auf Sicherheit”.

Es fehlt hier der Raum, um den ganzen Katalog von Menschenrechten auf die Berechtigung von Selbstverzichten abzuklopfen. Je mehr sich der Katalog in die Niederungen der sozialpolitischen Ansprüche begibt, desto unproblematischer wird der Verzicht. Wer es sich leisten kann, darf auf sein “Recht auf Arbeit” verzichten.

Es war wohl – hoffentlich – nie die Absicht, auf globaler Ebene eine allgemeine Arbeitspflicht zu etablieren. Möglicherweise ist die Selbsverzichtbarkeit sogar ein Kriterium für bzw. gegen den menschenrechtlichen Kerngehalt. Je leichter ein Verzicht wiegt, desto weniger zentral ist das menschenrechtliche Anliegen.

Zur Weiterentwicklung der Menschenrechte

Zum Schluss seien unter dem Gesichtspunkt der dosierten Möglichkeit auf Selbstverzicht noch ein paar Stichworte zur Weiterentwicklung der Menschenrechte festgehalten. “Niemand hat ein Recht auf alle Rechte”, lesen wir in Goethes Reflexionen und Maximen, und damit ironisiert er in feiner und liberaler Weise das Pochen auf immer mehr “Rechte auf”. Die Verlängerung und die Ergänzung des Katalogs durch Annexe, etwa durch das “Recht auf Liebe”, das jedem Kind gewährleistet sein soll (von welcher Instanz?), verwässert die Grundidee, sich auf das gemeinsam Fundamentale und Realisierbare zu beschränken. Die erheblichen internen Spannungsfelder (Antinomien) zwischen den drei “Generationen” von Menschenrechten (Abwehrrechte, Beteiligungsrechte und Sozialrechte) werden in der Menschenrechtsdiskussion unterschätzt oder verdrängt, können doch sowohl die Beteiligungsrechte als auch die Sozialrechte dazu missbraucht werden, die Abwehrrechte zu relativieren und auszuhöhlen. Eine klare interne Priorität, eine Abgrenzung der “Generationen” und eine Regelung, was im Zweifelsfall Vorrang hat, bleibt ein – möglicherweise unerfüllbares – Desiderat.

Privatautonomie als Kern der Menschenwürde

Eine Erweiterung auf “kollektive Menschenrechte” ist abzulehnen. Sie schaffen neue Grenzfälle und wirken sich letztlich gegen die individuellen Menschenrechte aus.
Eine Kodifizierung von Menschenpflichten in einem politischen und völkerrechtlichen Dokument ist ebenfalls abzulehnen, weil dadurch auf dem Weg der Interpretation eine totalitäre Ordnung eingeführt werden kann. Dazu noch einmal Goethe:
“Es ist besser, dass Ungerechtigkeiten geschehen, als dass sie auf ungerechte Weise gehoben werden.”

Das Schlusswort sollen zwei Staatsskeptiker haben, ein Franzose und ein Engländer: Bei Buckle lesen wir: “Die wertvollsten Gesetze sind die Abschaffungen früherer Gesetze.” Es gibt m.E. einen menschenrechtlich motivierten Deregulierungsbedarf, wenn man der Privatautonomie, welche ein Kern der Menschenwürde ist, wieder zum Durchbruch verhelfen will. Wem als liberaler Befürworter von Menschenrechten die Menschenrechte in ihrem Kern wichtig sind, sollte diese vor der sozialrechtlichen Überwucherung schützen. Wir sollten uns vor den enthusiastischen Anhängern mehr fürchten als vor den Skeptikern.

“Was die soziale Ordnung nicht stört, sollte das Gericht nicht kümmern”, lesen wir beim französischen Moralisten Vauvenargues. Dieser Satz ist entscheidend, wenn es darum geht, jene Menschen zu beurteilen und allenfalls nicht zu verurteilen, welche auf eigenes Risiko und ohne Dritte zu behelligen und zu belasten auf Menschenrechte verzichten. Jemandem, der in etwas einwilligt, geschieht diesbezüglich kein Unrecht. Je mehr kollektive “Rechte auf” zu Lasten Dritter postuliert werden, desto wichtiger wird das individuelle Recht auf Verzicht, das Recht Nein zu sagen zur Fremdbestimmung, und sei sie auch noch so gut gemeint. Kümmern wir uns lieber vermehrt darum, den Schutz in jenen Notsituationen auch tatsächlich zu gewährleisten, in denen es wirklich not-wendig ist!

Robert Nef , Jahrgang 1942, hat in Zürich und Wien Rechtswissenschaft studiert und als lic.iur. abgeschlossen. Seit 1979 leitet er das Liberale Institut in Zürich, eine Stiftung zur Weiterentwicklung liberaler Gedanken. Er redigiert die Vierteljahresschrift “Reflexion” und ist seit September 1991 verantwortlicher Redaktor für Politik und Wirtschaft der “Schweizer Monatshefte” und seit 1997 deren Mitherausgeber. Wichtigste Publikationen: “Sprüche und Widersprüche zur Planung” (Zürich 1975), “Wege in die Freiheit” (Liberales Institut, Zürich 1992) “Contending with Hayek”, zusammen mit Christoph Frei (Peter Lang, Bern 1994).

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