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Nach Helmut Kohl – im Westen nichts Neues

Lesedauer: 5 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 11, 1998 – Seite 6-7)

POSITIONEN

Nach der Wahl schlägt zunächst nicht die «Stunde der Wahrheit», sondern die Stunde der Interpreten, die entweder phrasenreich mit den Siegern fraternisieren oder gegenüber den Verlierern wenigstens nachträglich kundtun, dass sie es schon immer besser gewusst hatten. Dabei sind allerlei konventionelle, personenbezogene Interpretationsmuster im Umgang, die hier durch ein paar Thesen in Frage gestellt werden sollen.

«Die meisten Oppositionsmänner wollen nur ihre Partei ans Regiment bringen, um dieses, gleich den Konservativen, in ihrem Privatinteresse auszubeuten. Die Prinzipien sind auf beiden Seiten nur Losungsworte ohne Bedeutung; es handelt sich im Grunde nur darum, welche von beiden Parteien die materiellen Vorteile der Herrschaft erwerbe.» Ist dies ein zynisches Nachwort zu den Wahlen in der Bundesrepublik, die Äusserung eines postmodernen radikalen Systemkritikers, der nicht so recht an die Rhetorik des Wechsels zwischen Regierungspartei und Opposition glauben will? Lesen wir noch weiter: «Der Name Konvervative ist eigentlich keine richtige Bezeichnung, da es gewiss nicht allen, die wir solchermassen benamsen, um die Konservation der politischen Zustande zu tun ist, und manche daran sehr gern ein bisschen rütteln möchten; ebenso wie es in der Opposition sehr viele Männer gibt, die das Bestehende um alles in der Welt willen nicht umstürzen möchten.» Der Kommentar ist aktuell, obwohl er vor fast 150 Jahren von Heinrich Heine in Paris geschrieben worden ist. Schon damals war es also nicht ganz klar, wer denn mit welchem Programm zu wessen Gunsten welche Strukturen konservieren bzw. ändern wollte. Schon damals drapierte sich der demokratische Kampf um die Mitte als Kampf um «die richtige Alternative», schon damals zeigte sich, dass sich die jeweilige «Neue Mitte» von der «Alten Mitte» oft nur dadurch unterscheidet, dass das Neue nicht gut und das Gute nicht neu ist.

Politiker und Medien leben in einer komplizierten Symbiose, in welcher der Wandel stets dramatisiert wird, um die Illusion der freien Gestaltbarkeit der politischen Verhältnisse durch kreative und repräsentative Einzelpersonen einerseits und den bestimmenden Einfluss ihrer Kritiker andererseits aufrecht erhalten zu können. Wenn jetzt von «Erdrutsch», von «radikalem Neubeginn» oder gar vom Ende einer Ära die Rede ist, so stellt sich dem nüchternen Beobachter die Frage, ob denn zwischen der christdemokratischen und der sozialdemokratischen Spielart des mehr oder weniger sanften wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus in Verbindung mit jenem europäischen Unionismus, der von aussen partout nicht als Führung wahrgenommen werden soll (obwohl er es tatsächlich ist), derartige Welten liegen. Die Radikalität des Wechsels wird wohl in der Bundesrepublik im Guten wie im Schlechten überschätzt. Dieser graduellen Überschätzung steht eine eigenartige Unterschätzung prinzipieller Unterschiede gegenüber. Wer nur aus Langeweile endlich «neue Gesichter» im Polittheater sehen wollte, hat sich möglicherweise verrechnet. Gerhard Schröder unterhält vielleicht besser als Helmut Kohl, (obwohl letzterer vom politischen Kabarett vermisst werden wird), ob er die Probleme besser löst, wird sich noch weisen müssen.

Nicht nur die übertriebene Dramatik eines Wechsels, auch die fahrlässige Verharmlosung ist gefährlich, und am gefährlichsten ist die unglückliche Kombination von beidem. Regierung und Opposition kreisen nicht einfach um eine vernünftige Mitte, bei der sich die jeweiligen Auswüchse durch Mannschaftswechsel minimieren lassen. Es gibt in der Entwicklungsgeschichte politischer Systeme auch Prozesse, bei denen nicht die Wahrheit in der Mitte liegt, sondern das Problem. Zahlreiche Fehllösungen und Fehlstrukturen sind auch in einer Demokratie, die den Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition kennt, kaum reversibel. Die Thatcher-Reformen im UK und die Douglas-Reformen in Neuseeland sind wohl eher als Ausnahmen bzw. als eigentliche «Reformwunder» zu deuten, und nicht als kopierfähige Modelle für Kontinentaleuropa. Beim Wechselspiel der Parteiengunst stehen meist die nur vermeintlich wichtigen Fragen der Tagespolitik und der personellen Machtteilung im Schaufenster, während das Bemühen um langfristige Nachhaltigkeit und die Vermeidung von gefährlichen Irreversibilitäten, etwa im Bereich der sozialpolitischen und der regionalpolitischen Umverteilung, wenig beachtet wird. Umverteilung ist im wahrsten Sinne suchterzeugend, weil sie stets «die Gier nach mehr» weckt und das Problem der Ungleichheit, das sie zu lösen vorgibt, mittel- und langfristig verschärft. Dass diese Gefahr ausgerechnet von den Grünen, die gegenüber der Natur bezüglich Irreversibilitäten sehr empfindlich sind, kaum wahrgenommen wird, verdient besondere Beachtung. Auch Zentralisierungen sind in der Regel kaum reversibel. Das Subsidiaritätsprinzip funktioniert allzu oft nur als Einbahnstrasse zur Zentrale. Diesbezüglich wecken die Grünen mehr Hoffnungen, auch wenn sie bisher in rot-grünen Koalitionen ihre Treue zur Philosophie der Non- Zentralität noch kaum unter Beweis gestellt haben und sich hauptsächlich als Interventionisten profilierten.

Verdrängter Nationalismus

Dass die nationalistische Rechte in den Wahlen keine Chance hatte, ist zunächst beruhigend und erfreulich. Möglicherweise wird aber damit verschleiert, dass es auch in der Bundesrepublik und speziell auch in den neuen Bundesländern den alten Nationalismus als eine «virtuelle Gruppierung» quer durch alle Parteien hindurch gibt, nicht zuletzt bei den Industriearbeitern, die ihren nationalen Arbeitsmarkt und ihre Renten nicht nur durch «Entsenderichtlinien» schützen möchten. Die Kombination von Nationalismus und Sozialismus, d. h. von Umverteilung und Solidarität unter Gleichen gegen «die Andern», «die Fremden», hat an Popularität nichts eingebüsst. Die politische Einordnung wird durch das überholte «Links-Rechts-Schema», das den Nationalismus als «rechts» und «konservativ» charakterisiert, verschleiert. Es kann sehr wohl sein, dass sich in der PDS auch die DDR-Spielart des linken Nationalismus immer breiter macht, und dass sich einmal mehr die Totalitarismen die Hand reichen. Es gibt einen starken, wohlfahrtsstaatlich-national-egoistischen Reflex, auch wenn er in keiner Partei organisiert ist. Solche Strömungen lassen sich auf die Dauer wohl kaum durch die Beschwörung europäischer Einheit unter dem Deckel halten. Wenn es zur gleichberechtigten politischen und wirtschaftlichen Integration der ehemaligen Satellitenstaaten in die EU kommt, sind an den Ostgrenzen alte Animositäten, Überheblichkeiten und Begehrlichkeiten nicht auszuschliessen. Wenn die Mittel- und Osteuropäer nur als Mitglieder mit Sonderstatus (einmal mehr: zweiter Klasse!) willkommen sein sollten, so brechen erst recht alte Wunden wieder auf. Jedenfalls haben die Wahlen 1998 diese schwelende Thematik nicht auf die Traktandenliste gebracht, und es wird ein Problem von Regierung und Opposition sein, mit einer aufkeimenden EU- und Euro-Verdrossenheit konstruktiv umzugehen.

Angst vor Reformen

«Wir müssten uns unserer schönsten Taten schämen, wenn wir deren wahre Motive kennen würden», lesen wir bei La Rochefoucault. Ich masse mir nicht an, die wahren Motive der Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik zu kennen. Vieles deutet aber darauf hin, dass sich die von Gerhard Schröder beschworene Kombination von Reformgeist und Kontinuität beim näheren Zusehen als fatale Täuschung erweisen wird. Die unbeirrten Anhänger und Fortsetzer wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung sind die Propheten des Status quo, die Strukturkonservativen. Man möchte nicht einen radikalen Wechsel, man möchte «more of the same», mehr Sozialpolitik, mehr Subventionen und sogenannte Fördermittel (die, – wir wissen es -, letztlich nur die Abhängigkeit fördern). In der Politik ist leider der Appell an offene und verborgene Illusionen, an Ängste, an Neidgefühle und Ressentiments erfolgreicher als der Hinweis auf Fakten und Zahlen, als die Transparenz zwischen Nutzen und Kosten und zwischen Entscheidungen und Folgen. Früher hat man die Boten, die unerfreuliche Nachrichten übermittelten, umgebracht, heute werden sie durch Nichtwahl bestraft, wenn es sie überhaupt noch gibt. Im Innersten spüren es die meisten, dass es mit der Gefälligkeitsdemokratie, mit dem Schuldenmachen und dem Zu-Tode-Besteuern des Mittelstandes irgendwann einmal zu Ende geht. In dieser dumpfen Ahnung möchte man gern noch ein bisschen weiterwursteln und die fiskalpolitische und sozialversicherungstechnische Stunde der Wahrheit ins nächste Jahrhundert verschieben. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern im ganzen, heute weitgehend sozialdemokratisch regierten Kontinentaleuropa. Wir befinden uns im Reformstau und haben Angst vor der opération vérité, zu welcher uns die Globalisierung zwingt. Diese Deutung mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, nach all der Rhetorik über das gemeinsame Wagnis eines Neubeginns. Politik ist einmal mehr der erfolgreiche Umgang mit verborgenen Wünschen und Sehnsüchten, «ein Derby trojanischer Pferde» und ein subtiles Spiel mit Täuschungen und Enttäuschungen. Die «neue Mitte» ist identisch mit dem alten Malaise. Die nächste Etappe der europäischen Einigung wird zwar von den «Offizieren» und ihren Stäben vorbereitet, aber die «Mannschaft» murrt und mag nicht so recht folgen. Der diffuse Wunsch nach Wechsel ist nichts anderes als die Angst vor den wirklich notwendigen Reformen. Wohlfahrtsstaatliche Strukturen, von denen man weiss, dass sie brüchig sind, sollen durch geschickte Rhetorik für eine weitere Galgenfrist repariert werden, bis der unvermeidliche Blick in die leeren Kassen die grosse Ernüchterung bringen wird.

Schweizer Monatshefte – Heft 11, 1998 – Seite 6-7

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