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Vom Überleben des Sozialismus im Wohlfahrtsstaat

Lesedauer: 7 Minuten

(NZZ – ZEITFRAGEN – Samstag/Sonntag , 29./30. August 1998, Seite 85-86)

Gründe für das anhaltende Hoch der Linksparteien nach 1989

Von Robert Nef*

Der Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 markierte auch das Ende des real existierenden Sozialismus. Eine politische Theorie und ein politisches System waren an der Praxis gescheitert. Doch dies hat der Popularität dieser Ideen keinen Abbruch getan. Ein Grund dafür ist, dass der Sozialismus das Bedürfnis vieler Menschen nach einer obrigkeitlichen Führung befriedigt, ein anderer, dass er den Neid auf das (bessere) Schicksal des andern anspricht.

«Wer im Alter von zwanzig Jahren nicht Sozialist ist, hat kein Herz, wer es mit vierzig Jahren immer noch ist, hat keinen Verstand», soll der französische Staatsmann Georges Clemenceau einmal gesagt haben. Dieser oft und mit unterschiedlichen Quellenangaben zitierte Aphorismus könnte eine Erklärung dafür sein, warum sich der Sozialismus trotz seinen eklatanten und seit 1989 endgültig offensichtlichen Misserfolgen weiterhin einer hohen und teilweise sogar zunehmenden Popularität erfreut und – mindestens als Utopie – auf der Traktandenliste der Politik beziehungsweise der politischen Philosophie immer noch an prominenter Stelle figuriert. Das «Ende des Sozialismus» ist so wenig absehbar wie das immer wieder vorausgesagte «Ende des Nationalismus» oder das «Ende der Geschichte».

Jugend hat Zukunft, und jugendliches Fühlen und Denken sollte ja Hoffnungen wecken und nicht unter der Last von Erfahrungen und Resignation erdrückt werden. Liegt darin das Geheimnis des Überlebens einer durch die Geschichte und auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse der Ökonomie widerlegten Theorie? Sind wir als Hoffende, Träumende alle ein wenig Sozialisten, und erwachen wir erst mit zunehmender Erfahrung in der «kalten Realität» der Marktlogik, welche unsern Verstand zwar überzeugt, unser Herz aber mit dauerndem Heimweh nach den Utopien unserer Jugend bewegt?

Je älter, desto herzloser?

Man kann im Wohlfahrtsstaat eine Art Reservat sehen für alle Jugendträume von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, von einem Paradies, aus dem man sich nicht gern vertreiben lässt. Wir haben zwar inzwischen die Früchte vom Baum der Erkenntnis konsumiert, und die meisten wissen eigentlich, dass man nur das verteilen kann, was vorher produziert worden ist, und dass es so etwas wie eine Gratismahlzeit auf die Dauer nicht gibt. Aber dieses Wissen vermag die Hoffnung darauf nicht zu vertreiben. Die Botschaft, dass das Paradies nicht als etwas Verlorenes hinter uns liege, sondern als etwas Verheissenes vor uns, ist von Ernst Bloch in seinem Werk «Das Prinzip Hoffnung» wortgewaltig verkündet worden, und er hat damit eine grosse Zahl von Intellektuellen inspiriert und über die gegenwärtigen Miseren und Missverständnisse des «real existierenden Sozialismus» hinweggetröstet.

Sind Sozialisten aller Altersklassen folglich einfach jung gebliebene «Vorwärtsträumer» beziehungsweise – polemisch ausgedrückt – ewig pubertierende Realitätsverweigerer? Oder steckt dahinter auch viel politpsychologisches Machtkalkül, bei dem die «Rattenfänger von Hameln» jene Musik spielen, von der sie wissen, dass man damit die Masse der Jungen und der Mündigkeitsverweigerer wirksam mobilisieren kann? Obwohl diese Erklärung, «Sozialismus als Jugend-Utopie», einige Plausibilität hat, taugt sie nicht zur abschliessenden Begründung dafür, dass der Sozialismus auch nach der weltweiten Pleite real existierender sozialistischer Systeme eine bleibende und teilweise sogar zunehmende Attraktivität hat. Für eine Idealisierung der Jugend als einer Bevölkerungsgruppe, bei welcher das «gute Herz» und das uneigennützige Einstehen für die Schwachen und Hilfsbedürftigen im Zentrum stehen, gibt es heute wenig Anlass. Auch die populärpsychologische Behauptung, im Lauf der individuellen Entwicklung käme es mit zunehmendem Alter zu einem schrittweisen Abbau von Idealismus, Optimismus und Altruismus, kurz, zu einem Verlust von «Herz», kompensiert durch mehr Reife und Realitätssinn in notwendiger Verknüpfung mit Gefühlskälte und Egoismus, lässt sich empirisch nicht nachweisen.

Als «Prinzip Hoffnung» wendet sich der Sozialismus sicher speziell an junge Menschen, an Idealisten, Utopisten und Intellektuelle. Da er mehr Verteilungsgerechtigkeit verspricht, appelliert er aber auch wirksam an das weit verbreitete Grundgefühl des Neides und findet daher bei Benachteiligten aller Art besonderen Anklang. Zudem kann er in Europa an der gewerkschaftlich und sozialpolitisch disziplinierten Vorstellungswelt des strukturkonservativen Industriearbeiters und der zahlreichen Bürokratie-Abhängigen im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich anknüpfen.

Gerechtigkeit und Neidgesellschaft

Die Attraktivität sozialistischer Ideen hat folglich auch eine ziemlich materialistische Wurzel, von der sich die meisten Menschen lebenslänglich nie ganz befreien: die Sehnsucht nach Verteilungsgerechtigkeit, welche die Ursachen des Neides beseitigen oder mildern soll. Neid entsteht beim vergleichenden Blick auf jene, denen es – echt oder vermeintlich – besser geht, deren Wohlstand man in irgendeiner Weise Tür nicht gerechtfertigt hält und an dem man durch eine «gerechtere Verteilung» teilhaben möchte.

Vielleicht bleiben wir in mancher Beziehung tatsächlich während des ganzen Lebens ein wenig kindlich und auch ein wenig kindisch, aber das ist wohl nicht unser «bestes Teil». Wer sich bemüht, nicht nur älter, sondern auch reifer zu werden, muss dabei nicht einfach alle seine Ideale begraben oder verraten. Die individuelle wie auch die kollektive menschliche Entwicklung führt nicht vom Egoismus des Kleinkindes über den Altruismus des Jugendlichen zum Egoismus des Erwachsenen und schliesslich zum Starrsinn der Alten. Es gibt den anspruchsvollen Weg, der über das aufgeklärte Selbstinteresse schrittweise zu einer positiven Bewertung gemeinschaftlicher und sozialer Werte führt. Meine persönliche Utopie ist die liberale Hoffnung auf den «mündigen Menschen», der in dem Sinn unabhängig ist, als er seine Abhängigkeiten aktiv mitgestaltet, dass er freiwillige Bindungen eingeht, Verträge schliesst und hält, die Verantwortung für sein Tun und Lassen übernimmt, und der das Wohlergehen anderer aus freien Stücken zu seinem Hauptanliegen macht, weil es auch die ideelle und materielle Basis seines eigenen Wohlergehens ist, sein «aufgeklärtes Selbstinteresse».

Der Wohlfahrtsstaat rechnet demgegenüber gerade nicht mit dem «mündigen Menschen». An seinem Ursprung kann man zwei Wurzeln sehen, eine üble und eine gut gemeinte. Die üble Wurzel ist, wie Gerd Habermann in seinem Buch «Der Wohlfahrtsstaat, Geschichte eines Irrwegs» (Frankfurt a. M. 1997) schlüssig nachgewiesen hat, die Lust des obrigkeitsstaatlichen Herrschens über gehorsame und gefügige Untertanen, welche auf die kontinuierlichen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen derart und dermassen angewiesen sind, dass man ohne Übertreibung von einer Sucht reden kann. Süchte sind durch das gesundheitsschädliche Verlangen nach «immer mehr» gekennzeichnet und durch die Entzugserscheinungen nach dem Absetzen der Droge. Beide Erscheinungsbilder können analog auch bei allen Versuchen, den Wohlfahrtsstaat zu reformieren, beobachtet werden.

Schuld sind immer die andern

Die andere, die «wohlmeinende» Wurzel des Wohlfahrtsstaats ist vielleicht die gefährlichere. Sie geht von einer temporären Schutz- und Führungsbedürftigkeit einer Mehrheit von Menschen aus, die man schrittweise – durch positive Massnahmen, Hilfeleistungen und Unterstützungen – in einen Zustand grösserer Freiheit führen möchte. Diese «emanzipatorische» Spielart des Wohlfahrtsstaates ist unheimlich attraktiv, weil sie im Gewande der Freiheitsfreundlichkeit daherkommt. Theoretisch müsste sie zu einer schrittweisen Selbstaufhebung und zu einer dauernden Verkleinerung des Umverteilungsapparates tendieren. Praktisch werden aber die Misserfolge dieser «sanften Gängelung» in Richtung Freiheit dadurch erklärt, dass man einfach behauptet, es sei noch zu wenig des Guten getan, um die tatsächliche Wende hin zu einer wirklich freien und selbstverantwortlichen Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern herbeizuführen.

Diese Taktik des dauernden Vertröstens und Hinausschiebens war auch ein Kennzeichen der sozialistischen Praxis. Sie musste in ihrer totalitären Ausprägung ohne innenpolitischen Gegner auskommen. Der wohlfahrtsstaatliche Etatismus hat es in pluralistischen Systemen leichter als der Sozialismus im Einparteienstaat. Er kann das Ausbleiben von Erfolgen oder das Unbezahlbarwerden seiner Rezepte zumindest teilweise jenem politischen Gegner anlasten, der gerade am Ruder ist oder der als Opposition den wohlfahrtsstaatlichen Endausbau durch Steuerwiderstand immer wieder vereitelt. Was ist denn das charakteristische Kennzeichen des Sozialismus, das ihn im Biotop des Wohlfahrtsstaates überleben und bis zu dessen – hoffentlich nicht allzu bittern – Ende sogar gut gedeihen lässt? Es ist – wie bereits erwähnt – das Versprechen, mehr Verteilungsgerechtigkeit zu bewirken, welches eine populäre Antwort auf urtümliche Neidgefühle erteilt. Neid ist zunächst einmal etwas ganz Persönliches, Egoistisches, er kann sich aber wandeln und auch «sozial veredelt» werden, wenn man mit den Neidgefühlen anderer sympathisiert und in der Folge gemeinsam etwas unternehmen möchte, das den Grund, neidisch zu sein, auch bei andern vermindert. Damit ist die Grundidee der Umverteilung geboren, eine Idee, die als solche noch nichts Sozialistisches an sich hat, sondern auch mit der christlichen Idee des individuellen Teilens von Lasten und Gütern in Verbindung gebracht werden kann.

Am meisten profitiert der Staat

Umverteilung ist in höchstem Mass populär, vor allem, weil sich die meisten auf der Nutzniesserseite sehen, was – längerfristig – eine Illusion ist. Zunächst geht die Umverteilung von den Reichen zum Apparat und von diesem zu den Bedürftigen beziehungsweise zu jenen, die als politische Klientel Mehrheiten liefern. Schliesslich degeneriert der Prozess, und die Steuergeldströme gehen von den Reichen in den Apparat, versickern dort und fliessen zu jenen Einflussreichsten zurück, welche die besten Beziehungen zur «classe politique» pflegen. Der Staat kann folglich auch als ein Apparat gedeutet werden, der den Reichen und den Armen Geld wegnimmt, beides unter dem Vorwand, die einen vor den andern zu schützen . .

Politischen Sprengstoff erlangt die Idee des Umverteilens erst, wenn sie kombiniert wird mit der Idee der Allgemeinverbindlichkeit, d. h. mit staatlichem Zwang. Dahinter steckt eine weitere, nicht nur kindliche, sondern auch allgemeingültige Befindlichkeit. Es schmerzt, sich benachteiligt zu fühlen, es schmerzt, andere Menschen als Benachteiligte wahrzunehmen, und es schmerzt, selbst etwas wegzugeben, um diesen Schmerz zu lindern. Der Teufelskreis des sozialen Engagements, der bei Neid und Selbstmitleid beginnt, zum Mitleid und zur Opferbereitschaft veredelt wird und letztlich doch die Schadenfreude braucht, dass andere auch etwas opfern müssen – wenn möglich noch ein bisschen mehr -, ist damit in Gang gesetzt. Die erzwungene Umverteilung als Gegengift zum Faktum der materiellen Ungleichheit ist der Motor des Wohlfahrtsstaates, und die progressive Besteuerung in Kombination mit einem Finanz- und Lastenausgleich ist jene Substanz, die man als Vitamin, als Medikament und schliesslich als suchterzeugende Droge dieser Institution deuten kann. Die hier skizzierte sozialpsychologische Erklärung für das Überleben des Sozialismus im Wohlfahrtsstaat hat eine handfestere materielle und empirische Basis als die eingangs erwähnte Verknüpfung von Sozialismus mit jugendlichem Vorwärtsträumen.

Fixiert auf die Industriegesellschaft

Ein dritter, wohl zentraler Grund für das Überleben des Sozialismus im Wohlfahrtsstaat liegt nicht in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas. Wir Europäer sind im Lauf der letzten zweihundert Jahre alle von Bauern und Handwerkern zu Industriearbeitern, Angestellten, Beamten und Rentnern geworden, und unsere Vorstellung von «Arbeit» ist geprägt von der Fabrik, von der Mentalität des gewerkschaftlich organisierten «blue collar worker» und vom betriebstreuen lebenslänglich Angestellten mit Normkarriere.

Diese Art von Tätigkeit wird in Zukunft weitestgehend durch elektronisch gesteuerte Maschinen oder durch Computer ausgeführt werden, welche allerdings eine Überwachung durch qualifizierte Fachkräfte voraussetzen. Dass am Ende des Industriezeitalters gleich auch das Ende der Arbeitsgesellschaft vorausgesagt wird, zeugt vom mangelnden Vorstellungsvermögen der soziologischen Propheten, denn der Bedarf an Dienstleistungen, an Information und Kommunikation, d. h. an einer Verbesserung, Erleichterung und Verschönerung der Lebensverhältnisse ist kaum jemals für alle befriedigend zu erfüllen. Eine offene Gesellschaft bietet auf offenen Märkten (insbesondere in den Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheit, Betreuung, Erholung, Unterhaltung und Kultur) auch in Zukunft Arbeit für all jene, welche die Bereitschaft zum Dienen und Leisten haben. Die durch automatische Steuerung und durch elektronische Vernetzung überflüssig gewordenen Arbeitnehmer müssten jedoch in einem neuen Umfeld, das teilweise durch staatliche Monopole und Quasimonopole besetzt, blockiert und unterversorgt ist, vielfältige Dienstleistungen entdecken und anbieten. Doch für diesen grundlegenden Wandel fehlen innere und äussere Impulse und Anreize und zum Teil auch die Mentalität und die Ausbildung.

Zahlreiche Exponenten der Sozialwissenschaft und der Politik, die sich selbst als «fortschrittlich» definieren, stemmen sich gegen die notwendigen Veränderungen und siedeln den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft ausserhalb des Arbeitsmarktes an. Daraus resultiert die Forderung, Arbeitsplätze zu erhalten und an einer strukturkonservativen wohlfahrtsstaatlichen Sozial- und Bildungspolitik festzuhalten. Dies ist eine wesentliche Ursache der «europäischen Krankheit», für die man den zutreffenden Ausdruck «Reformstau» geprägt hat. Die Therapie dieser europäischen Krankheit ist anspruchsvoll. Der geordnete Rückzug aus wohlfahrtsstaatlichen Fehlstrukturen ist kein Sonntagsspaziergang. Die Entwöhnungskuren werden mit Schmerzen aller Art verbunden sein und auf durchaus schmerzungewohnte, verwöhnte Klienten und Abhängige treffen. Was wir in dieser Situation alle brauchen, ist das – nicht zuletzt – durch Angebot und Nachfrage im Markt und in der Praxis vermittelte und geförderte gute Einfühlungsvermögen, welches die Gratwanderung zwischen dem notwendigen Leidensdruck und der ebenfalls notwendigen Schmerzlinderung erfolgreich bewältigt.


* Leiter des Liberalen Institutes in Zürich.

NZZ Samstag/Sonntag, 29./30. August 1998, Seite 85-86

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