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Daten zur heutigen Schweiz – nachgeführt

Lesedauer: 2 Minuten

(Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1998 – Seite 1)

EDITORIAL

Vor 350 Jahren wurde in Münster die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft völkerrechtlich besiegelt, vor 200 Jahren erhielt die Schweiz als «Helvetische Republik» ihre erste moderne Verfassung, und vor 150 Jahren wurde der Schweizerische Bundesstaat gegründet. Solche «runde Zahlen» beruhen auf den Zufälligkeiten der Zeitrechnung, sie bieten aber doch einen willkommenen Anlass, sich auf die Entstehung und auf die Weiterentwicklung unseres Landes zu besinnen. Die zufällige Konstellation verschiedenster Daten würde es nun erlauben, dass alle nach ihren politisch-ideologischen Vorlieben das ihnen am besten zusagende Jubiläum feiern könnten. Jubilieren à la carte, kantonsweise oder in gleichgesinnten Festgemeinden, das wäre eine typisch eidgenössische Lösung. Trotzdem will bis jetzt keine richtige Feststimmung aufkommen. Die «Willens- und Lernnation» ist zur Zeit nicht festlich gestimmt. Seit der 700-Jahr-Feier im Jahre 1991, die ausgiebig zur Selbstkritik und zum Abschied von vertrauten Mythen genutzt wurde, ist die Schweiz wegen ihrer Neutralitätspolitik, ihrer Flüchtlingspolitik und ihrem Goldhandel mit Nazi-Deutschland international heftig unter Beschuss gekommen. Die Reaktionen darauf sind noch schwer diagnostizierbar. Ein Rückfall in den trotzigen Mythos des Anders- und Besserseins, eine weitere Welle von Selbstanklage und Selbstzerknirschung (in der trügerischen Hoffnung, in der Position des Reumütigen eine neue Sympathiewelle auszulösen), eine «Demutsgeste» durch zusätzliche Konzessionen und Anpassungen, eine grosszügige Spendenaktion zugunsten der Notleidenden in aller Welt oder ein Impuls durch die gemeinsame Suche nach einem «neuen Gesellschaftsvertrag»? Vielleicht ist der gemeinsame Effort um eine «nachgeführte Verfassung» symptomatisch. Kein Höhenflug, schon eher eine wenig inspirierende Hausaufgabe. Was auch immer dabei herauskommt, man sollte über das «Nachführen» nicht voreilig die Nase rümpfen. Nachführen ist in einer kontinuierlich rechtsstaatlichen Tradition stets besser als umschreiben, das gilt nicht nur für Verfassungen, es gilt auch für die Geschichte. Die Lernnation braucht nicht umzulernen, sie darf und sie muss weiter lernen, aber der selbstbewusste und nicht allzu selektive Blick in die eigene Geschichte ist oft lehrreicher als das voreilige Abgucken bei den Nachbarn. Nur nicht nervös werden…

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1998 – Seite 1

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