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«Unsere Studierenden sind unwahrscheinlich initiativ»

Lesedauer: 10 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1998 – Seite 17-21)

DOSSIER

Georges Fischer, geboren 1935, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule St. Gallen, wo er 1963 auch doktorierte. 1972 habilitierte er sich an der HSG und wurde als Professor für Raumordnung und regionale Entwicklung gewählt. Seit dem 1. April 1993 ist er Rektor der Universität St. Gallen, seit 1995 auch Präsident der Schweizerischen Hochschul rektorenkonferenz (SHRK) sowie Vizepräsident der Schweizerischen Hochschulkonferenz (SHK).

«Im Blick auf den heutigen Zustand der Hochschulen muss man sich wohl fragen, ob es auch nur einem Teil der massgebenden Persönlichkeiten klar ist, wie sehr wir uns oft durch ein gefälliges Eigenlob für die Qualität unserer Institutionen und durch den Stolz auf vergangene Leistungen, über unser Ungenügen hinwegzuschwindeln versuchen und so eine klare Erkenntnis der tatsächlich alarmierenden Entwicklung verbauen.»
Uli Steinlin (1962)

100 Jahre HSG St.Gallen, von der Handelsakademie zur Universität. Ein Gespräch mit Georges Fischer, Rektor der Universität St. Gallen

Ist Uli Steinlins Alarmruf aus der kleinen Schrift «Hochschule wohin?», die der in den USA lehrende St. Galler Astronom vor über dreissig Jahren verfasst hat, noch aktuell? Georges Fischer beantwortet Fragen von Robert Nef und beweist, dass sich Selbstbewusstsein, Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Herausforderungen und Selbstkritik durchaus verbinden lassen.

In einer Analyse der aktuellen Situation in den Schweizer Wirtschaftsstudiengängen hat der Zürcher Betriebswirtschafter Ruedi Volkart Studierende zur Reputation ihrer Universitäten befragt. 78 Prozent der St. Galler Studierenden bewerteten die Reputation der HSG als «sehr gut», 22 Prozent als «überdurchschnittlich», niemand hat sie als «unterdurchschnittlich» oder «nicht gut» bezeichnet. An den ebenfalls untersuchten Universitäten Fribourg, Lausanne und Zürich lagen die Prozentzahlen im Feld «sehr gut» nur gerade zwischen 3 und 30 Prozent. Das heisst natürlich nicht, dass diese Bewertung auch objektiv «richtig» sei, aber es belegt, dass die St. Gallet Studierenden mit Abstand am meisten Selbstbewusstsein zeigen. Selbstbewusstsein gehört zu den Qualitäten von Führungskräften. Es muss aber stets gekoppelt sein mit Sachkenntnis, Mut, Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein und sozialer Kompetenz. Wenn eine Hochschule zur Elite zählen will, und die Universität St. Gallen gehört in Lehre und Forschung durchaus zur «Champions League», so muss sie an sich selbst besonders hohe Ansprüche stellen. Der Reformdruck ist heute hoch und wird noch mehr steigen. Äusserlich manifestiert sich dies in neuen gesetzlichen Grundlagen, wie sie in verschiedenen Hochschulkantonen bereits beschlossen sind. Man spricht zu Recht von einer eigentlichen Revolution des Bildungswesens.

Robert Nef: Die Universität St. Gallen lehrt und forscht ja seit Jahren auch im Bereich der Innovationsfähigkeit. Konnte sie die dabei gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen auch an sich selbst erproben?

Georges Fischer: Von aussen spüren wir einen starken und zunehmenden Konkurrenzdruck. Wir müssen darauf als öffentliche Institution genau gleich reagieren wie eine wirtschaftliche Unternehmung, und wir können jene betriebswirtschaftlichen Strategien, die an unserer Universität erforscht und gelehrt werden, am eigenen Beispiel direkt anwenden. Das heisst: Wir müssen uns positionieren, wir müssen anders und besser sein als andere, wir müssen ein eigenes, unverwechselbares Profil gewinnen. Intern ist die Mittelknappheit das grösste Problem. Die finanziellen Ressourcen werden reduziert und die Studentenzahlen steigen rapide. In den nächsten 5 Jahren wird eine weitere Zunahme von 20 bis 25 Prozent prognostiziert. Die Ausbildung von immer mehr Studierenden bei immer weniger finanziellen Mitteln führt unweigerlich zu einem Qualitätsverlust. Auf die Dauer muss dies schiefgehen.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Teufelskreis von Quantität und Qualität?

Ich sehe nur eine Lösung: Die Hochschulen müssen eine eigene Befugnis zur Selektion vor Studienbeginn bekommen. Die Bestimmung, dass ein Maturitätszeugnis automatisch die Aufnahme an einer Universität garantiert, kann m.E. weder in der Schweiz noch in Europa aufrechterhalten werden. Wir versuchen in St. Gallen, die Selektion so früh wie möglich vorzunehmen. Die Universität St. Gallen hat für Ausländer einen Numerus Clausus bei 25 Prozent, und wir haben dort die Möglichkeit einer hochschulinternen Selektion, die sich sehr bewährt, und die wir im Prinzip auch zur Vergebung von Studienplätzen an Studierende aus der Schweiz vornehmen könnten, wenn die gesetzlichen Grundlagen dies erlauben würden.

Die Lösung ist gut, aber sie widerspricht dem gesamteuropäisch hochgejubelten Prinzip der Gleichbehandlung und ist damit nicht eurokompatibel.

Früher oder später müssen für die Zulassung zum Studium sowohl auf schweizerischer als auch auf europäischer Ebene neue Lösungen gefunden werden, und ich hoffe, man wird sich dabei an die qualitätsfördernde Idee des Wettbewerbs erinnern.

«Sonderfall St.Gallen»

Die in den sechziger und siebziger Jahren von Studenten lauthals erhobenen Schlagworte einer Hochschulreform waren «Mitbestimmung» und «Demokratisierung». Konsensbildung ist oft mühsam und braucht Zeit. Praktisch haben sich solche Experimente häufig als «Fortschrittsbremse» ausgewirkt. Gibt es diesbezüglich einen «Sonderfall St. Gallen»?

Die Universität St. Gallen hat mit einer sinnvollen Mitbestimmung gute Erfahrungen gemacht. Am Tage, als in Zürich und Basel die Studierenden auf der Strasse gegen Mittelkürzungen demonstrierten, hat die organisierte Studentenschaft in St. Gallen einer Erhöhung der Studiengebühren zugestimmt. Sie taten dies zwar widerwillig, aber aus der Einsicht, dass die Erhaltung der Studienqualität trotz sinkender Subventionen letztlich im Interesse der Studierenden liege, und dass es zur Zeit unter den gegebenen Randbedingungen keine Alternative gebe.

Ich gestehe, dass ich immer wieder begeistert bin von der Initiative und vom hohen Motivations- und Leistungsniveau unserer Studierenden.

Am Tage, als in Zürich und Basel die Studierenden auf der Strasse gegen Mittelkürzungen demonstrierten, hat die organisierte Studentenschaft in St. Gallen einer Erhöhung der Studiengebühren zugestimmt.

Ich gestehe, dass ich immer wieder begeistert bin von der Initiative und vom hohen Motivations- und Leistungsniveau unserer Studierenden. Natürlich denken sie an sich selbst und an die Optimierung ihrer beruflichen Chancen. Aber sie scheinen zu spüren, dass sich ein aktives Engagement für gemeinsame Anliegen und eine Mitwirkung in studentischen Initiativen durchaus lohnt. Unsere Studierenden wollen so rasch als möglich einen erfolgreichen Abschluss. Wir kennen das Problem der «Langzeitstudierenden» nicht. Es ist kein Geheimnis, dass sich — bedingt durch die strenge Selektion und durch den guten internationalen Ruf — in der Gruppe der Ausländer auch immer wieder besonders aktive und begabte junge Leute hochschulintern profilieren.

Dies wäre ja ein weiterer empirischer Belegfür die Auffassung, dass sich eine strenge Selektion am Eingang der Universitäten in jeder Beziehung lohnen würde. Der Leistungsdruck kommt ja heute in Form von Anreizen und Herausforderungen immer mehr von den Benutzern und von den Randbedingungen in der Arbeitswelt, und er müsste daher gar nicht künstlich geschaffen oder gestützt werden, sofern die Studierenden mit ihrer Nachfrage tatsächlich das Angebot mitbestimmen. Aber sind wir nicht beim geltenden Finanzierungsmodus noch weit davon entfernt?

Die Studierenden werden zunehmend mobiler und selektiver und wählen nicht mehr unbedingt jene Universität, die vor der Haustüre liegt, sondern jene mit dem – in verschiedenster Beziehung — attraktivsten Angebot. Es gibt eine Form der «Mitbestimmung», die man nicht unterschätzen sollte: die Wahl der Universität durch die Studierenden in ihrer Benützer- bzw. Kundenrolle.

Gibt es an der Universität St. Gallen nicht auch Probleme und Frustrationen, beispielsweise im Doktorandenstudium? Dieses wird gelegentlich als «wenig effizient» und «unattraktiv» bezeichnet.

Das Doktorat sollte für den wissenschaftlichen Nachwuchs offenstehen. Wenn Mittelmässige abgeschreckt werden, so ist dies durchaus erwünscht. Das heisst aber natürlich nicht, dass man diesem qualifizierten Segment nicht grösste Aufmerksamkeit schenken müsste. Die Zukunft gehört der forschungsorientierten Zusatzausbildung, die an den grösseren Instituten durch eigentliche Graduiertenkollege gewährleistet werden soll. Auf Bundesebene werden solche Lösungen vorbereitet, wir haben sie schon weitgehend realisiert.

Internationale Konkurrenzfähigkeit

Und die Hauptprobleme im Lehrkörper? Nachwuchssorgen? Inzucht? Berührungsängste der Etablierten mit originellen, innovativen Köpfen? Umgang mit Stars? Mehr Praktiker, mehr Theoretiker, mehr Frauen? Soll man Spitzenleute mit Sonderkonditionen anlocken, zu halten versuchen, «ziehen lassen»?

Man darf diesen wichtigen Bereich nicht verreglementieren. Entscheidend ist auch hier die internationale Wettbewerbsfähigkeit, und diese wird durch überdurchschnittliche, herausragende Forscherund Lehrerpersönlichkeiten mitbestimmt. Auch hier gilt die Strategie des Profilierens und Positionierens. Man kann nicht überall Spitze sein, und wir haben daher auf Abteilungsebene Forschungsschwerpunkte formuliert. Persönlich wäre ich für flexiblere Sonderkonditionen, um einen ausserordentlich begabten Lehrer oder Forscher zu gewinnen bzw. zu halten, aber die gesetzlichen Bestimmungen setzen hier klare Limiten. Ein ungelöstes Problem ist die Zwangsjacke unseres Pensionskassensystems. Häufig fallen gute Wahlen und Berufungen ausser Betracht, weil Kandidaten, die über 45 Jahre alt sind, durch die hohen Einkaufssummen abgeschreckt werden, da kein Fonds für Sonderlösungen bereitsteht.

Eine Universitätsleitung steht im Spannungsfeld zwischen den Hochschulbehörden, den Studenten und dem Lehrkörper. Dazu kommen heute zwei weitere Gesprächspartner: die Sponsoren und die Öffentlichkeit, welche die Finanzen mitbestimmen. Wo liegen die Hauptprobleme der «Zukunftswerkstatt Universität»

Die beste Universität ist jene, welche durch ihren Lehrkörper und ihre organisatorische und technische Infrastruktur für die Studierenden am attraktivsten ist. Diese Attraktivität wird eben nicht nur an den Annehmlichkeiten des Studienbetriebs und am Leistungsaufwand zur Erlangung der Diplome gemessen, sondern auch an den Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Eine Mehrheit der Studierenden ist durchaus in der Lage, hier die Chancen abzuschätzen und mit andern Angeboten zu vergleichen. Die Abnehmer der Absolventinnen und Absolventen und die Auftraggeber privater Forschung und Beratung wissen in der Regel auch, was sie wollen. Sie erwarten von der Universität Transparenz und Effizienz.

Die Zukunft gehört der forschungsorientierten Zusatzausbildung durch eigentliche Graduiertenkollege.

Jean Arp, Schalenbaum, Universität St. Gallen.

Ein ungelöstes Problem ist die Zwangsjacke unseres Pensionskassensystems.

Finanzierung und Autonomie

Wie steht es mit dem allzu bekannten Ruf: «Gebt uns mehr Geld, so liefern wir bessere Lehre und Forschung»? Ist die Qualität wirklich nur eine Geldfrage? Ist die «Politik der hohlen Hand» die einzige Problemlösungsstrategie?

Die öffentlichen Träger, seien sie nun auf kantonaler oder auf nationaler Ebene, sind mit dem Problem der Mittelknappheit konfrontiert. Man kann dies bedauern und über die komplexen Ursachen debattieren, aber wegdiskutieren kann man es nicht. Natürlich setzen wir uns dafür ein, dass der Anteil der Bildungssubventionen (eigentlich sind es ja Investitionen in die Zukunft der Wissensgesellschaft), nicht abnimmt, ja, mittel- und langfristig aufgestockt wird. Die Meinung, dass diese Quellen in absehbarer Zeit reichlicher zum Fliessen gebracht werden können, geht an der politischen und wirtschaftlichen Realität vorbei.

Ohne Drittmittel, die nicht vom Steuerzahler finanziert werden, kann ich mir eine künftige Finanzierung der Universität nicht vorstellen. Von den 95 Millionen unseres Jahresbudgets werden 35 Millionen in den Instituten durch Forschungs- und Beratungsaufträge drittfinanziert. Das Sponsoring muss als «dritte Säule» unbedingt ausgebaut werden, so dass längerfristig ein «Fifty-fifty»-Modell praktiziert werden kann, etwa nach der Formel: 50 Prozent öffentliche Mittel, 35 Prozent Auftragsfinanzierung und 15 Prozent Sponsoring (projektbezogen und personenbezogen, d.h. als Lehrstuhl, der von einem Sponsor oder mehreren Sponsoren finanziert wird).

Beklagt wird in letzter Zeit auch das Verhältnis von Universität und Öffentlichkeit. Man betrachtet die Hochschule als eine Institution, bei der viele hineingehen und wenig herauskommt.

Die Universität wird heute in der Öffentlichkeit tatsächlich als eine Institution wahrgenommen, die in erster Linie viel Geld verschlingt. Man weiss, was sie kostet, wird aber zu wenig darüber informiert, was sie wert ist. Wir vermitteln immer noch das Bild des Elfenbeinturms. Zum Teil liegt die Schuld bei den Universitäten. Es fehlt das Vertrauen. Wir müssen unsere Anliegen allgemeinverständlich darstellen und vermitteln können.

Wie autonom, kann und soll eine staatliche Universität sein?

So autonom wie möglich, aber so «eingebunden» in eine Rahmenordnung als nötig. Ich ziehe den Begriff des «New University Management» dem Modebegriff des «New Public Management» vor. Der Freiraum muss durch eine Leistungsvereinbarung (nicht: Leistungsauftrag) abgesteckt werden, der ein Globalbudget entspricht. Autonomie darf nicht mit dem Verzicht auf Transparenz und Effizienz und mit der Abwesenheit von wirksamem «Controlling» verwechselt werden. Was uns grosse Probleme verursacht, ist die Verpflichtung auf den beim Staat üblichen einjährigen Budget-Rhythmus. Wir sollten ein mehrjähriges Globalbudget haben.

Zur Aufgabe einer Universität gehören neben der Vermittlung von qualifiziertem Allgemeinwissen und Fachwissen an die Absolventinnen und Absolventen auch die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung, die Beratung und die Weiterbildung der höheren Kader. Gibt es in diesem vielfältigen Pflichtenhefi Prioritäten?

Die Universität St. Gallen möchte sich ganz klar als Forschungsuniversität profilieren. Wo erfolgreich geforscht wird, steigt auch die Attraktivität für Studierende, für den Mittelbau, für die Auftraggeber und Sponsoren und letztlich auch für die breite Öffentlichkeit.

Ohne Drittmittel, die nicht vom Steuerzahler finanziert werden, kann ich mir eine künftige Finanzierung der Universität nicht vorstellen.

Wenn Sponsoring transparent und effizient realisiert wird, erleidet weder die Lehr- noch die Forschungsfreiheit bleibende Schäden.

Eliten und die Zukunft der Arbeitswelt

Ist die Universität eine «Pflanzschule für Eliten» oder werden darin einfach die künftigen Funktionäre der Wirtschaft und des Staates herangezüchtet? Niemand kennt die genauen Anforderungsprofile in einem künftigen Arbeitsmarkt bei verantwortungsvollen Tätigkeiten. Das Thema «Zukunft der Arbeit» war Gegenstand einer Veranstaltung unseres Jubiläumsprogramms. Studentische Initiativen haben in letzter Zeit die Vorbereitung auf selbständige Unternehmertätigkeit vermehrt ins Blickfeld gerückt. Wenn «Elite» für eine Universität bedeutet, innovativ zu sein, rasch auf die Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft zu reagieren und den Entwicklungen in Wissenschaft und Ausbildung eher voraus zu sein als hinterherzuhinken, dann bekennen wir uns gerne zum Ziel der Eliteschulung. Den neuen Herausforderungen der Globalisierung begegnen wir mit verstärkter Internationalisierung der Dozentenschaft, der Lehrveranstaltungen und der Zusammenarbeit in der Forschung. Begabten Studierenden werden Austauschsemester ermöglicht, die mit einem sehr begehrten europäischen Lizentiat abgeschlossen werden können. Zur Zeit präsidiert die Universität St. Gallen die «Community of European Management Schools» (CEMS), und im Rahmen einer weiteren internationalen Vernetzung von Weiterbildung und Forschung besteht die Absicht, in Zukunft auf der Lizentiatsstufe eine durchgehend englischsprachige Studienrichtung «Master of International Management» einzurichten.

Kann eine in verschiedenster Hinsicht abhängige Institution eine Staats-, wirtschaft- sund gesellschaftskritische Funktion erfüllen? Kann der Staat gleichzeitig Finanzträger, Aufsichtsbehörde, Kunde von Gutachten und Gegenstand der wissenschaftlichen Kritik sein?

Ob die Universität ihre Fähigkeit zur freien Kritik wahrnehmen kann, hängt von der Lauterkeit, von der moralischen Qualität ihrer Exponenten ab. Das in der Frage erwähnte Dilemma existiert. Überall, wo Menschen am Werk sind, sind wir vor Fehlern, Befangenheiten und Irrtümern aller Art nicht gefeit. Wissenschaftler sollten sich im eigenen Interesse an eine Art Ehrencodex halten. Im übrigen sorgt die Öffentlichkeit, die Kritik durch Kollegen, Studierende und durch die Medien schon dafür, dass einer dauernden Verbreitung von «lukrativen Gefälligkeitsgutachten» und «nützlichen und populäten Irrtümern» Grenzen gesetzt sind.

Die Universität St. Gallen war zunächst eine Handelsakademie, dann eine Handelshochschule mit engem Bezug zur Praxis — kurz: eine Fachhochschule. Dies führt nach der bundesrechtlichen Aufwertung und dem Zusammenschluss der Fachhochschulen zu Abgrenzungsproblemen. Was unterscheidet heute die Universität St. Gallen für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften von einer Fachhochschule für Wirtschaft und Verwaltung?

Wir sind auch für die wissenschaftliche Forschung und für die Qualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses zuständig und bilden unsere Studierenden nicht ausschliesslich im Hinblick auf ein praktisches Berufsziel aus. Wir engagieren uns für eine enge Zusammenarbeit, möchten aber verhindern, dass die Fachhochschulen als Vorstufe zum Universitätsstudium missbraucht werden. Die Absolventinnen und Absolventen der Fachhochschulen sollen mit ihren Diplomen dann auch wirklich den Anschluss an jene Berufspraxis finden, auf die ihr Studium ausgerichtet ist.

Die Handelshochschule war eine gemeinsame Gründung des privatautonomen «Kaufmännischen Directoriums» (Handelskammer) und der Stadt St. Gallen. Die Trägerschaft wurde später kantonalisiert und wird heute – wie alle kantonalen Universitäten – auch durch Bundesmittel mitfinanziert. Die privaten Geldgeber spielen aber — vor allem aufInstitutsebene und in der Weiterbildung — eine zunehmend wichtige Rolle. Hat man seinerzeit mit dem Schritt zur weitgehenden Verstaatlichung die Option einer nichtstaatlichen Universität verpasst? Gibt es heute ein «Privatisierungspotential»?

Ich bin überzeugt, dass es in naher und fernerer Zukunft auch in Europa zur Neugründung zahlreicher privater Universitäten und universitätsähnlicher Bildungsstätten kommt. Wir werden dann, wie in den USA, ein duales System haben, wobei ich persönlich hoffe, dass die öffentlichen Universitäten unter dem Druck der Konkurrenz ihre Qualität nicht nur halten, sondern steigern können. Ein Absinken in ein «Zweiklassensystem» mit durchwegs schlechteren öffentlichen Universitäten wäre m.E. kein Fortschritt. An eine vollständige Privatisierung bestehender öffentlicher Universitäten glaube ich, was die Schweiz und unsere europäischen Nachbarn betrifft, nicht. Es sei denn, es käme in absehbarer Zeit zu einer völligen Umstellung des Finanzierungsmodus von der Subventionierung der Institutionen zu einer Subjekthilfe an die Studierenden in Form eines breit abgestützten Stipendien-, Gutschein- oder Darlehenssystems. Dies könnte zu einem wirksamen Wettbewerb um Studierende und um Forschungsbeiträge führen, welcher den Staat aus seiner bildungspolitischen Verantwortung nicht entlassen würde, aber die Verteilung der Mittel effizient und leistungsbezogen durch die Nachfrager bestimmen liesse. Ich halte aber ein solches Szenario für eher unwahrscheinlich, obwohl ich es als Ökonom gegenüber dem jetzigen Zustand vorziehen würde.

Wissenschaftler sollten sich im eigenen Interesse an eine Art Ehrencodex halten.

Den neuen Herausforderungen der Globalisierung begegnen wir mit verstärkter Internationalisierung der Dozentenschaft, der Lehrveranstaltungen und der Zusammenarbeit in der Forschung.

Da bei einem solchen System Unbemittelte wirksam und gezielt in den Genuss von staatlicher Subjekthilfe kommen, wäre immerhin der Vorwurf die Finanzierung der Universität durch Studiengelder sei asozial, unberechtigt. Zudem wäre der Finanzausgleich zwischen Kantonen mit und ohne Hochschule elegant lösbar, da die Kantone sich auf die Subjekthilfe an die Studierenden aus ihrem Kanton beschränken könnten. Ist dies nicht doch das Zukunftsmodell für unsere Universitäten im nächsten Jahrhundert?

Ich glaube eher an das «St. Galler Modell» einer Mischfinanzierung, das ich skizziert habe. Die Weiterbildungsstufe ist bei uns vollständig selbstfinanziert und selbsttragend. Einzelne Forschungsinstitute haben bereits einen hohen Grad an finanzieller Eigenständigkeit. Mit den «drei Säulen» «öffentliche Mittel», «Drittfinanzierung durch Aufträge» und «Sponsoring» hat unsere hundertjährige Institution ein durchaus zukunftstaugliches Konzept.

Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1998 – Seite 17-21

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