Zum Inhalt springen

Ursachen der Arbeitslosigkeit

Lesedauer: 7 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 2, 1998 – Seite 30-32)

DOSSIER

Robert Nef

Causes of Unemployment

Economic stagnation and the dominance of the shareholder value principle or the over-regulation of the labour market and the turning of the tax screws too tight — much has been researched and disputed concerning the causes ofhigh basic unemployment (and its upward tendencies). The working group «Causes of Current Unemployment» shall orient itselfconcerning the facts such as the so-called productivity gap, in order to develop a new profile for the labour market on the one hand, and for the social state on the other. This shall be done by studying current models typical of the different kinds of reaction — the Anglo-Saxon «neoliberalism» and the continental European combination policy of mollification and deregulation. Job killer No. 1 in the age ofglobalisation: the machinery offorced redistribution, subsidies gone wrong, and crippling regulations.

Die Ursachen der Arbeitslosigkeit sind vielfältig, und es gibt weder unter den beteiligten und betroffenen Vetragspartnern auf dem Arbeitsmarkt noch unter den Fachleuten, noch unter den Politikern allgemein akzeptierte Deutungen und Begründungen. Genannt werden u. a. die Globalisierung, die einseitige Ausrichtung auf die Wertsteigerung für die Aktionäre (shareholder value-Prinzip), Kartellierung des Arbeitsmarktes, Überreglementierung bzw. Fehlreglementierung, zu hohes Lohnniveau bzw. zu hohe Mindestlöhne, Auswüchse des Wohlfahrtsstaates mit steigender Abgabenlast, arbeitssparender technologischer Fortschritt, Wandlungen im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft, abnehmende Massenkaufkraft, verfehlte Wirtschafts-, Konjunktur- und Geldpolitik, unzulängliche Beschäftigungs-, Bildungs- und Sozialpolitik, generelle und fortgesetzte Managementfehler, zunehmender Verteilungs- und Umverteilungskampf sowie verfehlte Einwanderungspolitik. All diese Phänomene können unterschiedlich bewertet und gewichtet werden, und die Verknüpfung von Ursachen, Wirkungen und Nebenwirkungen divergiert je nach politischem Standort bzw. nach wirtschaftlicher Interessenlage oder wissenschaftlicher Lehrmeinung. Der Arbeitsmarkt lässt sich im hochkomplexen Gefüge des Marktgeschehens und der darauf reagierenden Politik nicht isoliert analysieren. Jede Arbeitsmarktpolitik, welche mit speziellen Massnahmen und anknüpfend an traditionelle Rollenbilder auf echte und vermeintliche Störungen, Engpässe und Sackgassen im Verhältnis zwischen Arbeitsanbietern und Arbeitsnachfragern abzielt, riskiert, sich im Dickicht von ungewollten Wirkungen und Nebenwirkungen zu verlieren. Wir stehen vor dem Dilemma, dass jede segmentierte punktuelle Betrachtungsweise von Märkten bzw. von Teilaspekten ihres Geschehens realitätsfremd ist, dass es aber gleichzeitig gefährlich ist, sich eine zutreffende Gesamtschau aller wesentlichen Zusammenhänge anzumassen.

Aus gewerkschaftlicher Sicht werden bezüglich Arbeitslosigkeit die konjunkturellen Erklärungsversuche bevorzugt, die sich auch mit dem Vorwurf verfehlter oder zu wenig aktiver Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik bzw. verfehlter unternehmerischer Entscheidungen kombinieren lassen. Das auf dem Arbeitsmarkt von dieser Seite diagnostizierte Marktversagen bzw. Unternehmer- oder Managementversagen wird aus dieser Sicht durch zu wenig und durch falsche politische Interventionen und Subventionen zusätzlich verschärft. In der Schweiz, wo man weder den staatlichen Mindestlohn noch tiefe allgemeinverbindliche Arbeitszeiten kennt, können die Probleme nicht ausschliesslich bei einer Überregulierung lokalisiert werden, höchstens bei einer Fehlregulierung – speziell im Bereich der Immigration (A. Rieger).

Die Arbeitgeber sehen den heutigen Engpass vor allem begründet durch ein Politikversagen in Vergangenheit und Gegenwart. Die auf Konservierung und Konsolidierung fixierte Wirtschaftsund Sozialpolitik hat dem weltweiten Strukturwandel zu wenig Rechnung getragen. Das Bündel von grossenteils ursprünglich kriegs- und krisenbedingten, möglicherweise seinerzeit notwendigen bzw. gut gemeinten steuerlichen Belastungen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Interventionen und Korrekturen hat die An- und Abreizsysteme der Märkte verfälscht, den heute erforderlichen Lern- und Adaptationsprozess verzögert und die Entwicklung in falsche Bahnen gelenkt. «Subventionen werden nicht nur an Unternehmen bezahlt, sondern in breitem Umfang auch an verschiedene Gruppen von Haushalten, z. B. Studenten, Wohnungseigentümer, Berufspendler, Rentner, Erben von pflegebedürftigen Personen, Theater- und Konzertbesucher. Ausserdem sichert der Staat den Verteilungskampfder Arbeitbesitzenden gegen die Arbeitslosen durch gesetzliche Regelungen zugunsten der Beschäftigten ab.» (J. Eekhoff).

Die wissenschaftliche Analyse zeigt als Hauptursache der Arbeitslosigkeit die sogenannte Produktivitätslücke. Die Summe der Lohn- und Lohnzusatzkosten ist im Vergleich zur Produktivität, die bei Vollbeschäftigung erreichbar ist, zu hoch. Die Produktivität eines Teils der Ar- beitskräfte reicht nicht aus, um den festgelegten Lohn am Markt — ohne Verluste – zu erwirtschaften. Auf diese Fakten gibt es zwei Reaktionsmuster: das angelsächsische und das kontinental-europäische. Ersteres beruht auf dem Motto «Mehr Markt», welches zu einer Senkung der Arbeitslosenzahl um den Preis erheblicher Einkommensunterschiede («mehr Ungleichheit») geführt hat. Letzteres beruht auf einer Kombination von Regulierungen, Förderungsprogrammen und einem neu auszuhandelnden Stabilitätspakt unter den Sozialpartnern. Dadurch können – mindestens kurzfristig – soziale Spannungen entschärft werden, eine generelle Lösung der strukturellen Probleme ist aber nicht in Sicht. Eine sehr grundsätzliche Analyse der Ursachen zeigt, dass die Probleme allein mit einer Strategie des Wartens auf den Aufschwung, des Wahrens von Besitzständen, des wechselseitigen Nachgebens, des schrittweisen Anpassens, des einstweiligen Flickens und des konzeptionslosen Löcherstopfens (W. Scheel) nicht mehr zu bewältigen sind.

Das Hin- und Herschieben der Verantwortung und die Unterscheidung von «hausgemachten», entscheidungsbedingten Ursachen einerseits und globalen, entwicklungsbedingten Ursachen anderseits sowie die unterschiedliche Gewichtung struktureller und konjunktureller Gründe trägt wenig zur Lösung der Probleme bei. In der Diskussion wird neben den konjunkturellen und den strukturellen Gründen der Arbeitslosigkeit ein weiteres, die beiden Kriterien überlagerndes Ursachenbündel genannt, das im mentalen, sozialpsychologischen bzw. sozio-kulturellen Bereich anzusiedeln ist. Zukunftsängste, Technik-, Industrie- und Wachstumsfeindlichkeit, übertriebenes Sicherheitsdenken, Angst vor dem Risiko, fehlende Bereitschaft zur Übernahme unternehmerischer Verantwortung, Neid, Missgunst und egalitäres Denken führen zu einer Befindlichkeit, in welcher die nicht mehr gewährleistete Stabilität durch die krampfhafte Wahrung von Besitzständen herbeigezwungen werden soll. Solche Blockierungen betreffen Mentalitäten, die weder rein ökonomisch noch rein politisch erklärt und definiert werden können. Die populäre Suche nach einem «neuen Konsens» löst die Probleme nicht, sondern stabilisiert sie auf dem tiefstmöglichen Niveau. Der Rhythmus soziokultureller Veränderung ist langsamer als die Dynamik der Wirtschaft, aber die Hoffnung, man könne mit politischen und rechtlichen Instrumenten die wirtschaftliche Entwicklung bremsen und die soziokulturelle Entwicklung bis zur Synchronisation beschleunigen, wird mehrheitlich nicht geteilt. Es ist in Zukunft mit mehr Reibungsflächen aller Art und damit auch mit mehr sozialen und politischen Konflikten zu rechnen.

Die Globalisierung und die Herausforderung des Wettbewerbs auf internationalen Arbeitsmärkten wird oft zu einseitig als eine Bedrohung gesehen. Die Leitfrage lautet nicht, wie wir bestehende Arbeitsplätze und bestehende Lohnangebote erhalten und besser verteilen können, sondern wie wir die Dynamik der Dienstleistungsgesellschaft erkennen und erfassen können, damit wir als Arbeitgeber und als Arbeitnehmer das dort entstehende Arbeitspotential produktiv nutzen können. Im Rahmen des immer aktueller werdenden «Selfemployment» tritt die Bedeutung der klassischen, auf die Industriegesellschaft zugeschnittene und rechtlich-politisch festgeschriebene Zweiteilung der Rollen «Kapitalist» und «Arbeiter» in den Hintergrund. Diesem Umstand kann durch herkömmliche und neue Formen der Mitbeteiligung Rechnung getragen werden. Was ein Arbeitender bei seinem Lohn an Einbussen erleidet, muss er durch hohe Dividenden auf dem Kapitalmarkt wieder wettmachen können. Der Markt ist in diesem Umfeld keine Bedrohung, sondern eine Chance für jene Lern- und Anpassungsprozesse, für die es noch keine erprobten, planbaren und organisierbaren Verfahren und Rezepte gibt. Je non-zentraler und kompetitiver in diesem Prozess die Strukturen sind, desto eher sind allseits befriedigende und auch mittel- und langfristig zukunftstaugliche Lösungen zu erwarten. Die Kapitalmärkte setzen auch im Bezug auf Europa positive Signale.

Die optimistische «Welt des Kapitals», das heisst die global orientierte Welt der Börse, kommuniziert heute zu wenig mit jener zukunftspessimistischen «Welt der Arbeit», die noch den überholten Denk- und Verhaltensmustern der Industrie- und Gewerbegesellschaft verhaftet bleibt. Es hat eine eigentliche «Abkoppelung» stattgefunden, die zwischen «Weltmarktorientierten» und «Binnenmarktorientierten» auf beiden Seiten Missverständnisse und Frustrationen erzeugt. Zur global vernetzten «Welt des Kapitals» gehören in der Schweiz erst etwa 15 Prozent der Beschäftigten (vorab in börsenkotierten, international aktiven Unternehmen, zu denen grosse und auch kleine gehören). Gesamteuropäisch dürfte der Anteil noch geringer sein. Die übrigen 85 Prozent beklagen den Verlust der Geborgenheit in einem national, regional und lokal abgestützten Solidarmodell mit staatlich gestützten bzw. geduldeten formellen und informellen Kartellen und einem Netz von offenen und versteckten staatlichen Subsidien. Die Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik ist in Europa zu einem hoch komplexen, nicht mehr finanzierbaren und für die Betroffenen und Beteiligten auch nicht mehr durchschaubaren Dickicht geworden. Die Rollen des verantwortlichen Bürgers, des Steuerzahlers, des Subventionsempfängers, des Nutzniessers, Kunden und Klienten sind nicht mehr transparent. Der Reformbedarf geht weit über den Bereich des Arbeitsmarkts hinaus. Es ist nicht einfach, einen Ersatz zu finden für die «Nestwärme», welche das Solidarmodell, das wohlfahrtsstaatliche Giesskannenprinzip und das unübersichtliche Flickwerk sozialstaatlicher Subsidien vermittelt haben. Der Leidensdruck nimmt zu, er ist aber vielleicht noch nicht gross genug, um die notwendigen radikalen Reformen im Steuer- und Rentensystem zu bewirken.

Es besteht ein dringender Bedarf nach einer Wertediskussion, welche die Frage beantwortet, wer denn in einer von börsenkotierten Globalisten beherrschten Wirtschaft die traditionell ge- SCHWEIZER MONATSHEFTE 78. JAHR HEFT 2 31 DOSSIER DIE ARBEITSLOSIGKEIT VON HEUTE UND DIE ARBEIT VON MORGEN meinschaftlichen Aufgaben übernimmt. Ist es ein informeller Sektor mit selbstorganisierter freiwilliger Sozialarbeit (zu welcher die Bereitschaft tendenziell sinkt), oder sind es kommerzielle soziale Dienstleistungsangebote, welche durch sozialstaatliche Subjekthilfe auch für finanziell Schwache erschwinglich wären, oder ist es eine Kombination von herkömmlichen und neuen Modellen? Jedenfalls müssen neue ethische Verhaltensmuster entwickelt werden jenseits des auch bei Unternehmern populären und bequemen Lösungsmusters der Verstaatlichung aller Sozialaufgaben. Die weltmarktorientierten Unternehmen haben die Verantwortung, an der Lösung der sozialen Probleme, die sie verursachen, mitzuwirken. Dieses Postulat kann aber auch aus Überlegungen abgeleitet werden, die im weitesten und besten Sinn ökonomischer Natur sind und auf dem aufgeklärten Eigeninteresse beruhen (B. Frey). Der Staat und dessen sozialpolitische Institutionen dürfen nicht für die «Sozialisierung der Verluste» missbraucht werden. Anderseits muss das vor allem unter Intellektuellen weit verbreitete Vorurteil in Frage gestellt werden, dass der Wettbewerb auf offenen Märkten im Effekt asozial sei und die etatistischen Interventionen sozial. Empirische Untersuchungen belegen oft das Gegenteil.

Arbeit und Vollbeschäftigung lassen sich nicht durch kollektiv verordnete Umverteilung, staatliche Schutzmassnahmen und Regulierungen herbeiorganisieren, sondern kommen letztlich nur auf funktionsfähigen flexiblen Märkten zur Entfaltung (F. Jaeger). Wer sich deshalb einer Liberalisierung, Flexibilisierung und Entmonopolisierung des Arbeitsmarktes widersetzt, bringt die Gesellschaft um die Chance der Vollbeschäftigung. Mehr noch: Er wird im Zeitalter der Globalisierung zum eigentlichen «Job-Killer», weil er die Entstehung neuer, nichtindustrieller Arbeitsmöglichkeiten im Dienstleistungsbereich (z.B. Gesundheit, Bildung, Forschung, Betreuung, Kultur, Erholung, Sport und Unterhaltung) behindert, verzögert und blockiert.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer:
Präsident: Peter Jankowitsch; Kommentator: Robert Nef; Einführungsvoten: Johannes Eekhoff, Franz Jaeger*, Andreas Rieger
Heinz Allenspach, Jeanne Barras Zwahlen, Heinrich Christen, Gert Dahlmanns, Detmar Doering, Bruno Frey, Herbert Gienow, Peter Gross, Renata Huch, Michael Kohn, Yost S. Krauss, Josef Marbacher, Walter Scheel, Elisabeth Simonius, Paulus Walder, Ferdinand Zoller

*vertreten durch Ruedi Minsch, Assistent

Soziale Folgen der Arbeitslosigkeit

Stephen R. Freedman

Social Consequences of Unemployment

Unemployment as an aggregate phenomenon often pushes unemployment as an individual phenomenon offstage. Yet «The Social Consequences of Unemployment», which the working group tackled, are also decisive factors when it comes to the development of the labour market: only by analysing the financial, psychological and social trap in which the unemployed find themselves can strategies be designedfor overcoming these shackles. The after-effects range from the devaluation ofhuman capital through the loss of intellectual, social or manual competencies, all the way to spiritual and physical collapse. Moreover, in an environment full of unemployment, there is even a great danger of mental «contagion» (for example in the case of children). In order to strengthen both capabilities and the will to achieve, it is recommended that the labour market should become more flexible. This won’t solve the problem ofpoverty, but it may well cut unemployment’s destruction of the individual life cycle – and at the same time mass unemployment — down to size.

Eine Gruppe noch nie arbeitslos Gewesener auf ein Thema wie die sozialen Folgen von Arbeitslosigkeit zu fokussieren, ist vermutlich etwa gleich schwierig, wie eine Gruppe von Ärzten und Biologen für das Leiden der Kranken zu interessieren. Allzu mächtig ist der Drang, über das zu sprechen, worüber man Bescheid weiss, das heisst über Ursachen und Therapien. Da der Begriff «sozial», der in der Titelfrage auftaucht, seit beinahe zweihundert Jahren vielfältig besetzt worden ist, erstaunt es nicht, dass die provokative These, wonach Arbeitslosigkeit zunächst nicht ein soziales, sondern ein individuelles Erlebnis, eine individuelle Erfahrung sei, lebhafteste Diskussionen hervorrief. Unbestritten war zuletzt, (a) dass die Kränkungen aus Arbeitslosigkeit nur durch Individuen erlebt werden können, dass jedoch (b) Arbeitslosigkeit mitunter zur dominierenden gesellschaftlichen Umgebung bestimmter Gruppen werden kann und auf diesem Wege zu einem sozialen Problem wird.

Schweizer Monatshefte – Heft 2, 1998 – Seite 30-32

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert