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Der Wohlfahrtsstaat und seine Arbeitslosen

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 2, 1998 – Seite 1)

EDITORIAL

Ein Gespenst geht heute um in Europa, das Gespenst der Arbeitslosigkeit. Es grassiert die Angst, man werde am Arbeitsplatz wegrationalisiert, wegfusioniert oder gar wegglobalisiert oder man finde als Einsteiger überhaupt keine Stelle. Das Dossier dieses Heftes ist einem Symposium des «Vereins Bürgergesellschaft» zum Thema Arbeitslosigkeit gewidmet, an dem ein prominenter internationaler Teilnehmerkreis einen umfassenden Meinungsaustausch pflegte. Im Zentrum stand die Auseinandersetzung zwischen der angelsächsischen Deregulierung des Arbeitsmarktes und dem kontinentaleuropäischen Dogma einer staatlichen Arbeiterschutzpolitik, die an das sozialkonservative Modell Bismarcks anknüpft. «Geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, geben Sie ihm Arbeit, solange er gesund ist, sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm Versorgung, wenn er alt ist.» (Rede vom 5. Mai 1884). Da wir im weiteren Sinne heute alle Arbeiter sind, sind wir auch alle zu Objekten wohlfahrtsstaatlicher Sozial- und Arbeitsmarktpolitik geworden. Nur eines wird dabei gern vergessen bzw. verdrängt. Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts mit seiner nationalen Industrie, seiner Nationalarbeit, seinem nationalökonomischen, -politischen und -kulturellen und auch militärischen Wettstreit ist heute kontinental und global vernetzt. Wohlfahrtsstaatlich beschäftigte, geschützte und betreute Nationalarbeiter sind daher Objekte ohne Subjekt. Ihre Versorgungsansprüche steigen, das Substrat, aus dem die Sicherheit garantiert werden sollte, schwindet, und der Adressat für «Arbeitsplatzbeschaffung» wird immer unzuständiger. Das Garantieren sozialstaatlicher Sicherheit wird früher oder später als Lüge entlarvt werden; denn Verteilung und Umverteilung setzt Produktion voraus, und im Bereich der Produktion haben sich etatistische Organisations- und Betriebsformen weder auf nationaler noch auf transnationaler Ebene bewährt. Auch privatwirtschaftliche Produktion kann nichts schaffen, nichts hervorbringen, was nicht schon da wäre. Jeder Mensch ist in der materiell fassbaren Welt nur Umgestalter und Dienstleister. Dies ist zwar wenig schmeichelhaft, aber doch auch tröstlich, denn es eröffnet uns allen ein weitgehend freies Feld, um Möglichkeiten zu entdecken, für andere in der Weise nützlich zu sein, dass sie bereit sind, etwas dafür zu bezahlen. Den Staat braucht es dazu nicht, wohl aber Phantasie, Einfühlungsvermögen und Risikobereitschaft.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 2, 1998 – Seite 1

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