Zum Inhalt springen

Bürgertum und «vaterländische Gesinnung»

Lesedauer: 12 Minuten
in: Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft «Die Schweiz» 1997/98, «Grenzerfahrungen», Aarau 1997, S. 250ff.

Eine terminologische Musterung

Der Begriff «vaterländische Gesinnung» ist ergraut und verstaubt. Was damit bezeichnet wird, gehört aber zu den Grundlagen staatlicher Gemeinschaft. Möglicherweise braucht es heute neue begriffliche Hüllen, um in einer Welt des raschen Wandels dauerhafte Werte zu vermitteln und weiter zu entwickeln.

Wer bei einer Ansprache an einer Jungbürgerfeier oder bei einer Rede zu einem der 1998 fälligen nationalen Gedenktage auf das Thema «Vaterländische Gesinnung» eintreten würde, begäbe sich an den Rand des Abgrunds zur Lächerlichkeit. Der Begriff ist zunächst einmal «männerlastig», und wer ihn verwendet, kann sich als Angehöriger des männlichen Geschlechts vom Vorwurf des Sexismus nur retten, wenn er spätestens im zweiten Satz die Muttersprache und das Mutterland als gleichberechtigt oder vorrangig erwähnt oder andere weibliche Begriffe wie die Heimat, die Erde, die Welt, wofür es übrigens gute Gründe gibt, bessere als die der «politischen Korrektheit». Dass bestimmte Begriffe zu Klischees erstarren, dass sie durch Missbrauch, durch Pathos oder einfach durch allzu häufige und zu penetrant pädagogische Verwendung jede Sympathie verscherzen, ist in der Ideengeschichte ein vertrauter Vorgang, und nichts veraltet schneller als die Terminologie des alltagspolitischen Jargons und die Prosa der Parteiprogramme.

Aus wertkonservativer Sicht ist die kurze «Halbwertszeit» vieler politischer Grundbegriffen zu bedauern, denn es entsteht der falsche Eindruck einer permanenten Umwertung aller Werte, und ein solcher begünstigt seinerseits die Manipulation der sprachlichen Kommunikation durch die jeweils Mächtigen und Medienbeherrschenden. Georg Orwell hat diesen Prozess, bei dem nicht nur die Ideen der Herrschenden zu herrschenden Ideen werden, sondern auch die Sprache der Herrschenden – «Newspeak» – zur herrschenden Sprache, in seinem utopischen Roman «1984» beschrieben. Auch wenn der von ihm dargestellte Totalitarismus seit 1989 weltweit seine Faszination eingebüsst hat, ist der Kampf um terminologische Monopole immer noch aktuell. Wer selbst auf dem Feld der politischen Publizistik aktiv ist, muss sich wohl überlegen, an welchen Worten er festhalten will, weil er gleichzeitig von den dadurch bezeichneten Werten überzeugt ist, und wo er vor den Fakten des aktuellen Sprachgebrauchs kapitulieren will. Man muss sich stets bewusst sein, dass man bei der Verwendung von Begriffen – auch wenn man dies nicht will – teilhat an den Missbräuchen, die damit getrieben worden sind. Im Sprachgebrauch gibt es kein individuelles «opting out», und nur die wirklich Sprachgewaltigen können es sich leisten, eigene Wege zu gehen oder neue Wege zu beschreiten.

Nehmen wir also die Begriffe im herausfordernden Titel dieses Artikels Wort für Wort unter die Lupe. Die Frage lautet nicht, was daran – aus irgendeinem Blickwinkel – politisch korrekt oder unkorrekt sein könnte, sondern was allenfalls unter diesen begrifflichen Versatzstücken aus dem letzten Jahrhundert noch zur Kommunikation von bewährten, aktuellen und zukunftsträchtigen Ideen und Vorstellungen taugt.

Von der «Gesinnung» zum «Konsens»

Beginnen wir mit dem schwer befrachteten Begriff der «Gesinnung». Gesinnung ist das, was an Sinn gemeinsam empfunden und anerkannt wird, also etwas, das im Zeitalter des Zusammenbruchs kollektiver Wertsysteme besonders knapp und daher auch besonders aktuell ist. Der Bedarf an Gesinnung wird allerdings erst aktuell, wenn der gemeinsame Glaube an etwas Vorgegebenes, Offenbartes in Frage steht. Den Gläubigen gibt ihre tiefe Überzeugung in Zeiten des Zweifels den notwendigen Halt. Sie brauchen allenfalls die Gemeinschaft im Kreis derjenigen, die sich dafür entschieden haben, an einer bestimmten Überzeugung, an einem bestimmten Glaubensinhalt oder an einem parteipolitischen Dogma festzuhalten; sie suchen Glaubensgenossen oder Parteigenossen, aber keine Gesinnungsfreunde, denn das Gemeinsame, das Allgemeinverbindliche steht bereits fest, es muss nicht in Diskussionen gemeinsam erarbeitet und vereinbart werden.

Nicht nur Kommunitaristen aller Couleurs sind heute auf der gemeinsamen Suche nach gemeinsamem Sinn, nach Gesinnung. Friedrich Dürrenmatt hat in seiner «Dramaturgie der Schweiz» (1968/70) die Schweiz auf die Suche nach dem «neuen Sinn» geschickt. «Die Schweiz, die nicht mehr imstande ist, sich einen neuen Sinn zu geben, löst sich auf.» Er definiert dann diese Aufgabe in einer selbstbewusst wertkonservativen, fast möchte man sagen «vaterländischen» Weise, die man heute, dreissig Jahre darnach, in einem veränderten Umfeld durchaus in Frage stellen mag. «Die Schweiz ist beim Wort genommen. Ihre Aufgabe ist zu sein, was sie behauptet zu sein.»

Linke und rechte Kritiker des Individualismus bedauern heute die Privatisierung des Lebenssinns und das Vordringen eines primitiven Hedonismus, der die «Subito-Befriedigung» von Konsum- und Kommunikationswünschen aller Art ins Zentrum stellt. Eine pluralistische und zunehmend multikulturelle Gesellschaft tut sich schwer, eine allgemeinverbindliche Gesinnung und – verwenden wir hier ein weiteres begriffliches Leitfossil aus der Aufklärungszeit – an Gesittung zu definieren, zu erhalten und neu zu entwickeln. Wenn Menschen zusammenleben, sind sie auf ein Minimum an gemeinsamer Gesinnung und Gesittung angewiesen. Diese Feststellung wird kaum bestritten, aber die Formulierung erregt Anstoss. «Gesinnung» – das erinnert an den Druck kollektiv erzwingbarer Moralvorstellungen, an Gesinnungsschnüffelei und Gesinnungsdelikte, und alles, was mit Sitte und Sittlichkeit in Verbindung steht, trägt den Ballast dessen, was man einst als «unsittlich» bezeichnet hat und heute – zu Recht oder zu Unrecht – als natürlich und normal empfindet. Während die politische Rechte um die «rechte Gesinnung» besorgt ist, kämpft die politische Linke ums «rechte Bewusstsein» – «Sinn» gegen «Sein» – bzw. vermeintlicher Sinn gegen vermeintliches Sein. Max Weber hat in seiner Gegenüberstellung von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik die Gesinnung auch in der Sozialwissenschaft deklassiert. Gesinnung ist für ihn das Private, Kleinbürgerliche und damit auch Kleinkarierte, Kurzsichtige. Grund genug, um den traditionsreichen Begriff aus dem aktuellen politischen Vokabular zu streichen? Die Begriffe Gesinnung und Gesittung sind durch einen strapazierenden, zu wenig offenen Umgang mit dem, was sie bezeichnen sollten, verbraucht und verschlissen worden. Es gibt zwar noch Personenkreise, die mit guten Gründen an dieser Terminologie festhalten, aber sie zahlen den Preis, sich nur noch intern verständigen zu können, und dieser Preis ist in einer Gesellschaft, die über diese Themen und über alle ideologischen Schranken hinweg vermehrt kommunizieren sollte, vielleicht doch zu hoch.

Zwei europäische Völker sind in ihren Imperien intensiv mit dem Problem des Pluralismus und der grossräumigen bzw. weltweiten Vernetzung konfrontiert worden: die alten Römer und die Briten. Beide haben in ihrer Weise eine Mischung von gemeinsamem Selbstbewusstsein und Individualismus entwickelt, die für pluralistische und weltweit vernetzte Gemeinschaften von Bedeutung ist. (Sie hat vor dem Niedergang nicht bewahrt, aber sie trägt auch etwas dauerhaft Resistentes und in neuen Gefässen Überlebendes in sich). Ein zentraler Begriff des römischen Privatrechts ist der Konsens. Die Lehre vom Konsens ist ein Kernstück der Vertragstheorie, und diese ist ihrerseits eine wichtige Grundlage einer Gesellschaft, die auf Kommunikation beruht, auf dem Austausch von Ideen, Waren und Dienstleistungen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Sozialwissenschaften diesen Begriff aus der Rechtssprache – allerdings häufig mit der falschen Betonung auf dem «Kon» – assimiliert haben. Der Mangel an Gesinnung wird heute als Konsensbedarf bezeichnet, und das Bemühen um die gemeinsame Gesinnung ist – terminologisch – durch die Suche nach dem Minimalkonsens ersetzt worden, wobei – wörtlich übersetzt – die Bedeutung nahe beieinander liegt. Die englische Sprache kennt nicht nur den für das britische Lebensgefühl so charakteristischen Ausdruck «common sense», sie hat auch für den Inhalt dessen, was man als Minimalkonsens bezeichnen könnte, eine eindrückliche Formel gefunden: «The agreement to disagree». Der Anspruch an Gemeinsamkeit, der damit gestellt wird, ist niedrig – irgendwo zwischen Waffenstillstand und Friedensschluss, aber wer die Geschichte von Zusammenschlüssen studiert, weiss, dass sie meist an einem Zuviel an Angleichungsansprüchen gescheitert sind und nicht an einem Zuwenig. Verabschieden wir uns also – nicht ohne Wehmut – vom Begriff der Gesinnung, und machen wir uns auf die Suche nach dem – begriffsgeschichtlich verwandten, ideengeschichtlich älteren und durch seine Breite und Tiefe nicht zu unterschätzenden Konsens, auf der Minimalbasis jenes liberalen «Agreement to disagree», das ein Gespräch in Offenheit, Vielfalt und in individueller Autonomie zulässt.

Rufst du mein Vaterland?

Auch der Begriff «Vaterland» ist befrachtet und belastet, und dies nicht erst seit der Diskussion um Sprache und Sexismus. Das Hadern mit dem Thema «Vaterland» hat Tradition. Das ganz und gar nicht vaterländische «ubi bene ibi patria» – wo ich mich wohl fühle, ist mein Vaterland» – stammt aus demselben «Imperium Romanum», in welchem der Heldentod fürs Vaterland als die «süsseste» Form des Todes verherrlicht worden ist. Für den Humanisten Erasmus war das Vaterland dort, wo er seine Bibliothek hatte. Hölderlin hat in seinem «Gesang des Deutschen» das Vaterland als «heilig Herz der Völker» bezeichnet. «Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erd’/ Und allverkannt, wenn schon aus deiner/ Tiefe die Fremden ihr Bestes haben.» Die beiden Adjektive «allduldend» und «allverkannt» könnten als Überschrift über ganze Bibliotheken vaterländischer Dichtung und Literatur (unterschiedlichster Qualität!) gesetzt werden, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Beeindruckend ist auch die Fülle aktuellster Gedanken, die in Hölderlins Gedicht aufzuschlüsseln wären. Bei Dichtern finden wir sowohl das Bleibende als auch das Vergänglichste, was es zu heiklen Themen zu sagen gibt. Der Begriff des Vaterlandes verursacht nach mehreren «vaterländischen Kriegen» zunehmend Probleme. Das Vaterland hat jeweils in den Tagen und Jahren seiner schwersten und existenziellen Bedrohung seine Hochkonjunktur. Das Vaterland ruft, wenn es bedroht ist, es aktualisiert sich im Ausnahmezustand. Der «Schweizerische Vaterländische Verband» ist 1919 als Abwehrbewegung gegen die marxistischen Weltrevolutionspläne gegründet worden. In einer Broschüre des Verbandes aus dem Jahre 1935, die zur Sammlung aller bürgerlichen Kräfte aufruft und an ein «Mindestmass an vaterländisch-bürgerlicher Standfestigkeit» appelliert, findet sich die folgende Passage: «Vielleicht droht dem Bestand der Eidgenossenschaft Gefahr; sicher gehen wir noch schwereren Zeiten entgegen. Nicht erst bei einer plötzlich eintretenden Katastrophe sollen die im Schweizervolk schlummernden Kräfte zur Opferbereitschaft erweckt werden.» (Vaterländische Besinnung, herausgegeben vom Schweizerischen Vaterländischen Verband, Aarau 1935). Die ehemalige schweizerische Landeshymne von Johann Rudolf Wyss dem Jüngeren beginnt nicht grundlos mit einer Frage: «Rufst du mein Vaterland?» und antwortet dann «Sieh’ uns mit Herz und Hand» – der Rest des Textes ist wohl nur noch sprach- und ideengeschichtlich zu erschliessen, – bei Nationalhymnen kein Einzelfall. Dass man vor oder nach Hymnen ein Fragezeichen setzt, ist nichts Außergewöhnliches, aber ein Fragezeichen im Text selbst? Das Vaterland – nichts als eine Pikettstellung, eine Art Bereitschaftsgrad im Falle eines Bedarfs? Darf es Zeiten und Momente geben, in denen uns «das Vaterländli in seiner ganzen Grösse den Buckel hinaufsteigen kann», wie Robert Walser es in seinem «Gehülfen» den Melker Joseph sagen lässt?

Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, auf Abruf vaterländisch sein können um nicht dauernd vaterländisch sein zu müssen. Die Idee ist attraktiv. Sie hat Tradition, und sie ist miliz- und zukunftstauglich. Johannes von Müller hat dieselbe Konzeption so ausgedrückt: «Das ist sicher, dass wer das Vaterland liebt, es in seinen Krankheiten nicht verlässt» (Nach Gelzer, Worte der Wahrheit, 1832). Gibt es das, ein «Vaterland à la carte», gewissermassen «auf Abruf», ein Vaterland, für das auch der erste Blutstropfen ein Problem ist und nicht nur der letzte? Bei Dürrenmatt findet man im bereits erwähnten Essay folgende aufschlussreiche und brandaktuelle Passage zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg: «In einer unanständigen Zeit ist nur relativ eine anständige Politik möglich.» (Auffällig ist die mundartliche Wortstellung). «Wir bewährten uns, indem wir es nicht ganz zur Bewährung kommen liessen, wir hielten an unsern Idealen fest, ohne sie unbedingt anzuwenden, wir schlossen die Augen, ohne gerade blind zu sein. Tell spannte zwar die Armbrust, doch grüsste er den Hut ein wenig – beinahe fast nicht -, und das Heldentum blieb uns erspart».

«Rufst du mein Vaterland?» Das Fragezeichen wird bedauerlicherweise heute – wohl seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs – durch ein Komma ersetzt. Aber wen kümmert das noch? Wer singt sie noch, die alten Lieder? Und den «Schweizerpsalm», die neue, d.h. die aktuelle Landeshymne der Schweiz, die weder neu noch aktuell ist? Welche «fromme Seele» «ahnt» noch «Gott im hehren Vaterland» bevor im Fussball-Länderspiel die Stars unserer Nationalmannschaft, namens Türkilmaz, Yakin und Sforza ihre Tore für die Schweiz schiessen – oder eben nicht?

Heinrich Heine hat die Erde als sein Vaterland bezeichnet, er mag damit in dichterischer Vieldeutigkeit den Planeten Erde gemeint haben oder die Erde – eine Antwort an Hölderlin? – als Materie, als Grab und Humus, das Mutterland, das alles birgt, verschlingt und hervorbringt. Das Vaterland ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, aber der Begriff ist im letzten und in diesem Jahrhundert bis zum Überdruss gebraucht, missbraucht und verbraucht worden. Man hat damit buchstäblich immer wieder alarmiert und mobilisiert, für gute und für fragwürdige Zwecke. Der Begriff hat uns abgestumpft, so wie eine Truppe, die man zu lange in einem zu hohen Bereitschaftsgrad hält. Trotzdem zögere ich, angesichts seiner weltgeschichtlichen Bedeutung und seines auf anthropologische Komponenten abgestützten Gehalts, der auch positive Werte einschliesst, den Begriff aus dem aktiven Wortschatz der Politik für immer zu verbannen. De Gaulles «Europa der Vaterländer» ist möglicherweise zukunftsträchtiger als Delors «Bundesstaat Europa». Ein letztes, altes, aber aktuelles Zitat dazu: «Es gilt kein Prophet in seinem Vaterland. Es gilt aber der Pfennig nirgends mehr, als da er gemünzt ist» (Geiler von Kaysersberg bei Zincgref, Apophtegmata). Der Begriff «Vaterland» gehört weder auf den Misthaufen der Geschichte noch ins Museum. Er gehört ins Zeughaus, und Bürgerinnen und Bürger eines Landes tun gut daran, dafür zu sorgen, dass er nicht zur Unzeit hervorgeholt wird und dass ihn weder Rost und Grünspan noch Motten zerfressen. Kann er ersetzt oder substituiert werden durch weniger belastete Termini? Es gibt keinen adäquaten Ersatz. Unsere Identität hat eine anthropologische, eine nationale, eine regionale und eine familiale Komponente. Sie wird genetisch und sozio-kulturell zunächst durch Vater und Mutter vermittelt. Warum soll man nicht terminologisch das Land dem Vater und die Erde der Mutter zuweisen, väterliches Land und mütterliche Erde? Vielleicht ist das, was man «vaterländische Gesinnung» genannt hat, nichts anderes als jener Eigensinn, den Sinn für das gemeinsame Erb und Eigen, das, was man heute psychologisierend, «gemeinsames Selbstbewusstsein» bzw. «Identität» nennt, oder – auf der linken Seite – «Gruppensolidarität».

Vom Bürgertum zur Bürgergesellschaft

Der Begriff «Bürgertum» erscheint (nach dem Deutschen Wörterbuch von Paul) erstmals in Fichtes «Naturrecht» (1796) als Übersetzung des französischen «Bourgeoisie», und zwar mit durchaus kritischem Unterton. «Die Menschheit sondert sich ab vom Bürgertum, um mit absoluter Freiheit sich zur Moralität zu erheben.» Heine hingegen lobt (in seinen «Französischen Zuständen», 1832) am «neuen Bürgertum» als dessen Bestes – ausgerechnet – die Gleichheitsliebe, die Prunklosigkeit und die Ehrlichkeit. Der ganze Zwiespalt des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Bourgeoisie und ihrer Widersacher, des Jahrhunderts der -ismen und der Tümelei könnte anhand einer Begriffsgeschichte des Bürgertums aufgezeigt werden, wobei neben viel Fragwürdigem – auf beiden Seiten der Kontroverse – auch viel Wertvolles, Zukunftsträchtiges zu finden wäre. Die Wurzeln des Bürgerlichen als Lebensform reichen aber tiefer als bis ins 19. Jahrhundert. Wie Ernst Nolte in seiner Abhandlung «Was ist bürgerlich?» (Stuttgart 1979) aufzeigt, steht der handel- und gewerbetreibende Bürger sowohl in einem Gegensatz zum adligen Krieger, der «verächtlich auf friedliche die Beschäftigung und die sparsame Lebensführung herabschaut», als auch zum jenseitsbewussten Klerus und zum Bauernstand, «der sich der Beweglichkeit und schnellen Vermehrbarkeit des Besitzes widersetzt.» Nolte vermutet mit guten Gründen, dass «bürgerlich» ein dynamischer Begriff sei, der in erster Linie einen Prozess meine. Die «Verbürgerlichung» ist eine notwendige Begleiterscheinung der arbeitsteiligen, technisch-zivilisierten kapitalistischen Lebens-und Wirtschaftsform. In ihr manifestiert sich ein allgemeiner gesellschaftlicher Trend, der – entgegen der Voraussage der Marxisten – auch die ehemalige Aristokratie und das Proletariat umfasst und damit das Bürgertum als Klasse aufhebt. Als «bürgerliche Gesellschaft» bzw. die «Bürgergesellschaft» bezeichnet man heute nicht mehr einen Zustand, in welchem eine bestimmte Klasse, die Grossbürger, die Vorherrschaft haben. Sie ist zum Inbegriff der in der OECD-Welt «real existierenden» und weltweit als Ideal angestrebten «Wirtschaftsgesellschaft» geworden, eine Gesellschaft jenseits der nationalen Kriege und der Klassenkämpfe. Das gemeinsame Ziel einer weltweit vernetzten, in friedlichem Wettbewerb stehenden Bürgergesellschaft ist jener Friede in Freiheit, der allein die Basis der gemeinsamen Wohlfahrt bilden kann.

Pestalozzis Vision

Wer den Klischees und den ideologischen Verstrickungen des 19. Jahrhunderts erfolgreich entrinnen will, tut gut daran, in der Ideengeschichte weiter zurück zu blättern. Wie erwähnt, hat sich die Lebensform des Bürgerlichen durchaus als erfolgreich erwiesen. Ist damit ein Endpunkt, ein Höhepunkt der Entwicklungsgeschichte erreicht, kann eine verbürgerlichte Menschheit getrost ihren Tisch reservieren im Gasthaus «Zum ewigen Frieden», oder ihr Grab auf dem nahegelegenen Friedhof? Pestalozzi hat in seinen «Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts» (1797) in einer typisch eidgenössischen Weise mit der mittelalterlichen Ständelehre gehadert und abgerechnet. Die Klassifizierung der Menschen in einen Wehrstand (Adel), in einen Lehrstand (Klerus) und in einen Nährstand (Produzenten) lässt sich bis Platon zurückverfolgen, und ihr Ursprung fällt vermutlich mit dem Ursprung der Arbeitsteilung zusammen. In der Eidgenossenschaft kam es schon früh zu einer Identität von Nährstand und Wehrstand, und der Lehrstand wurde knappgehalten. Pestalozzi konnte daher von Beobachtungen ausgehen, von Beobachtungen der «einfachen Resultate, zu welchen die Erfahrungen meines Lebens mich hingeführt haben». Er fand die drei Stände in sich selbst wieder, als drei Zustände: den Naturzustand (als für sich selbst bestehendes Tier), den gesellschaftlichen Zustand (als Bürger) und den sittlichen (als «Kind Gottes»). Alle politischen und ideologischen Auseinandersetzungen werden damit zunächst auf ein internes Forum verwiesen, auf eine Auseinandersetzung mit sich selbst, welche reif macht für die Auseinandersetzung mit andern.

Es ist hier nicht der Ort, um die visionäre und originelle und im besten Sinn liberale und demokratische Konzeption im Detail vorzustellen und nachzuzeichnen. Übersetzt in eine auch heute verständliche Sprache und befreit vom zeitbedingten Ballast ist sie möglicherweise noch aktueller als Pestalozzis weltberühmt gewordene und heute mit guten und schlechten Gründen kritisierte pädagogische Methode. In unserem Zusammenhang interessiert lediglich die Tatsache, dass der bürgerliche Zustand in jenem Zwischenfeld angesiedelt wird, der zwischen dem Menschen als einem egoistischen Tier (das Pestalozzi durchaus auch positiv beurteilt) und dem vom Geist der Hoffnung, der Offenheit gegenüber dem Unbekannten, Neuen und der Lernbereitschaft beseelten und getragenen «Kind Gottes» liegt. Der bürgerliche Zustand ist gekennzeichnet vom Spannungsfeld zwischen Selbstsucht und Wohlwollen. Die Weisheit der bürgerlichen Gesetzgebung, die auf Erwerb, Eigentum und Verdienst wirkt, besteht darin, «dass sie den Menschen durch den Besitz bürgerlicher Rechte und Freiheiten zum Gemeingeist, zur Rechtlichkeit und zur Teilnehmung erhebt.»

Eine völlig andere Qualität hat die Freiheit des Menschen als «Kind Gottes». Sie ist radikal individualistisch. Um sie zu verstehen, muss man sich vom christlich-religiös gefärbten Terminus lösen und existenzialistische Deutungsmöglichkeiten mit einbeziehen. «Ich besitze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, unabhängig von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen und dieselben nur in diesem Gesichtspunkte zu verlangen oder zu verwerfen. Diese Kraft ist im innersten meiner Natur selbständig; ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgendeiner andern Kraft meiner Natur. Sie ist weil ich bin, und ich bin, weil sie ist.» Pestalozzi, der – zu Unrecht – als hoffnungsloser Altruist Karikierte, auf dem postmodernen Egotrip der Selbstverwirklichung, ein Apostel der Spontaneität und der Kreativität? Eine solche Deutung geht an der Quintessenz seines Dreistufenmodells vorbei. Jeder Mensch ist primär ein bedürftiges und triebhaftes Naturwesen, sekundär ein zwischen Selbstsucht und Wohlwollen hin und her gerissener, durch Gesetz und Verträge sozial freiwillig verpflichteter Bürger und tertiär ein «Werk seiner selbst». Was ein Mensch mit sich selbst anfängt, was er aus sich selbst macht, nennt Pestalozzi, für heutige Leser etwas missverständlich, «Sittlichkeit»; denn Recht und Sitte werden heute im gesellschaftlichen Bereich angesiedelt. «Als Werk meiner selbst fühle ich mich, unabhängig von der Selbstsucht meiner tierischen Natur und meiner gesellschaftlichen Verhältnisse, gleich berechtigt und gleich verpflichtet, zu tun, was mich heiligt und meine Umgebungen segnet.» Spontane individuelle Sittlichkeit und Gotteskindschaft als metaphysischer Bezugspunkt des natürlichen und des bürgerlichen Menschseins?

Am Ende einer terminologischen Tauglichkeitsanalyse liegen solche Grundbegriffe aus dem Fundus helvetischer Ideengeschichte auf den ersten Blick daneben. Mit dem Begriff «Kind» hat aber Pestalozzi einen weiten Horizont eröffnet und gleichzeitig an eine alte Tradition angeknüpft. Die «liberi», das sind im alten Rom die freien Menschen, es sind auch die erbberechtigten (und später wiederum erbverpflichteten) Kinder. Freiheit als Ausdruck aktueller und oft auch nur potenzieller Mündigkeit. Derselbe Begriff bezeichnet Freie und Kinder, welche die Chance der Freiheit vor sich haben, die neugierig, phantasievoll, lernbereit und lernfähig sind, und deren Zukunft offensteht. Kinder sind stets etwas mehr als nur Produkte der Natur und mehr als nur angehende Mitglieder der Bürgergesellschaft. Darin liegt wohl ihr unbekanntes Wesen, chancenreich und risikoträchtig, Evolution und Revolution, «libertas», die Freiheit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert