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Milizprinzip und Identitätsprinzip als Pfeiler der Gesamtverteidigung im Kleinstaat

Lesedauer: 7 Minuten

24 Thesen zur Zukunft des Milizprinzips

Robert Nef

(in: Sicherheitspolitik und Wirtschaft, Festschrift für Josef Feldmann, Sicherheitspolitisches Forum, Universität St. Gallen, 10/1997, S. 37ff.)

Das Milizprinzip ist ein Problemlösungsverfahren, bei dem die Beteiligten teilzeitlich, nichtberuflich oder nebenberuflich (d.h. nicht professionalisiert und kommerzialisiert), ganzheitlich (d.h. problemadäquat sowie fachlich und sachlich tauglich) ohne Lohn, bzw. gegen geringes Entgelt und – mit wichtigen Ausnahmen im Extremfall der Landesverteidigung – freiwillig persönliche Leistungen zugunsten einer Gemeinschaft einbringen.

A. 12 allgemeine Grundsätze

1. Miliz ist als ein Prinzip und nicht als ein System zu verstehen. Systeme beruhen auf einer Kombination von Elementen, die in einer bestimmten historischen Konstellation Probleme lösen können. Sie haben die Tendenz zu veralten, d.h. Flexibilität, Lern- und Adaptationsfähigkeit zu verlieren, stur und starr zu werden, im Falle des Erfolgs zu verfetten und im Falle des Misserfolgs an Auszehrung zu leiden. Man kann zwar Systeme kontinuierlich oder in grösseren Etappen sanft oder total renovieren, ausbauen und umbauen, gesundschrumpfen oder aufpäppeln. Das Verfahren birgt aber die Gefahr, mit dem Blick auf die jeweiligen Funktionsschwächen nur die Randprobleme zu erfassen und den Blick für die wesentlichen Kernprobleme zu vernachlässigen.

Systeme verleiten zu Verfahren die zur Strukturerhaltung bis an die Grenze des Auslaufmodells (Motto: nach wie vor = Strukturkonservativismus) oder zum kopflosen und geschichtslosen Totalabbruch (Motto: Flucht nach vorn) tendieren.

Systeme rufen nach mehr Flexibilität, nach Polyvalenz, nach neuen Kombinationen und Kompromissen, nach Aufweichung und Relativierung. Systemrevisionen laufen auch Gefahr, dass die Ziele den Mitteln angepasst werden und dass in einem allgemeinen Flickwerk schliesslich die wesentlichen Elemente untergehen.

Prinzipien sind zielorientiert und gelten unabhängig von der aktuellen Akzeptanz und den tatsächlichen Widerständen, die sich ihnen entgegenstellen. Sie sind auch in wechselnden Konstellationen richtig. Sie haben den Nachteil, dass sie mit anderen Prinzipien in Konflikt stehen und uns zwingen, die Prioritäten immer wieder neu zu überdenken. Je grundsätzlicher sie sind, desto weniger unterstehen sie dem Wandel. Ihre Richtigkeit lässt sich nicht objektiv beweisen. Entweder sie bewähren sich oder sie bewähren sich nicht. Eine Prognose über eine Bewährung in der Zukunft beruht immer auf unbeweisbaren und widerlegbaren Erwartungen.

Das Aufrechterhalten von Prinzipien (=Wertkonservativismus) verlangt ein hohes Mass von Erfahrungsverarbeitung und von spekulativer Voraussicht und ist deshalb eine Aufgabe der Eliten.

Prinzipien rufen nach mehr Radikalität und Konsequenz, nach Immunisierung, Permanenz (Dauerhaftigkeit), Resistenz (Widerstandskraft) und Persistenz (Beharrlichkeit). Sie verlangen eine hohe Anpassungsbereitschaft im Bereich der Mittel, ermöglichen aber ein Festhalten an Zielen. Die meisten Prinzipien lassen allerdings eine abschliessende Unterscheidung von Zielen und Mitteln nicht zu und stellen uns vor das Problem, gewisse Prinzipien untergeordneter Bedeutung zu opfern um Prinzipien von übergeordneter Bedeutung befolgen zu können.

2. Das Milizprinzip ist ein Verfahren, das die Vor- und Nachteile eines relativ kleinen Gesamtsystems optimiert. Es versucht die Nachteile einer relativen Knappheit an Eliten und Spezialisten durch eine temporär überlappende und multifunktionelle Nutzung zu kompensieren. Wer die Zukunftstauglichkeit eines relativ unabhängigen Kleinstaats in Frage stellt, wird konsequenterweise auch den Stellenwert des Milizprinzips tiefer ansetzen.

3. Miliztätigkeit ist nicht zu verwechseln mit Laientum, Dilettantismus, Caritas. Der Begriff ist historisch mit dem Wehrwesen verknüpft, erscheint aber auch im Zusammenhang mit den nicht-professionalisierten Bereichen der Staatstätigkeit in Legislative, Exekutive und Judikative und des Dienstes für öffentliche Aufgaben im Sozial- und Kulturbereich in sogenannten Non-Governmental Organizations (NGO), und Non-Profit-Organizations (NPO).

4. Die Grenzen zwischen Miliztätigkeit und unbezahlter sozialer und kultureller Freiwilligen-Arbeit im Rahmen der „Selbstorganisation“ bzw. des „informellen Sektors“ sind fliessend und weitgehend eine Frage der Terminologie.

5. Das wichtigste Merkmal des Milizprinzips ist die Teilzeitlichkeit in Verbindung mit der Ganzheitlichkeit. Dies kommt im Bereich der militärischen Sicherheitsproduktion in einem Zitat von Divisionär Wetter zum Ausdruck.
„Die Milizarmee ist eine Berufsarmee von der Dauer eines Monats“. Dasselbe liesse sich von Geschworenengerichten, von Milizparlamenten und Miliz-Expertenkommissionen sagen, wobei mir klar ist, dass hier von einem Modell, von einem Ideal gesprochen wird und nicht von einer in jeder Hinsicht befriedigenden Realität.

6. Eine zentrale Unterscheidung, welche zum Funktionieren des Milizprinzips gehört ist die zwischen Professionalisierung im Sinn der Verberuflichung und Verbeamtung einer Tätigkeit gegen Lohn bzw. Salär, und die Professionalität, die auch auf Zeit, im Auftragsverhältnis, gegen Honorar (ursprünglich Ehrensold) beansprucht wird.

7. Milizparlamentarier sind Volksbeauftragte auf Zeit, man honoriert allenfalls ihre Leistung aufgrund des Resultats (nullum mandatum nisi gratuitum), Berufsparlamentarier sind Angestellte des Staats, denen der Staat als Arbeitgeber – unabhängig vom Resultat – jene Lebenszeit, die sie beruflich zur Verfügung stellen, d.h. die pflichtgemässe und arbeitsvertragliche Präsenz, durch einen Lohn entschädigt. Sie sind entlöhnte Staatsdiener und das Vertragsmodell das dahinter steckt, hiess richtigerweise ursprünglich auch Dienstvertrag.

Niemand wird behaupten, dass ein im Auftrag, etwa an einen Anwalt oder an einen Berater weniger professionelle Resultate hat, nur weil er zeitlich beschränkt ist und nicht in einem Anstellungsverhältnis und firmenintern erfolgt. Der heutige Trend in der Wirtschaft liegt eher bei der Flexibilisierung von Leistungen, d.h. im outsourcing als bei einer zusätzlichen Aufblähung des Apparats mit lebenslänglich angestellten professionellen Spezialisten. Miliz und Professionalität lassen sich kombinieren wie die Arbeitsteilung durch flexible externe Auftragsverhältnisse und durch interne spezialisierte Dauerstellen.

8. Die Miliz sollte sich vermehrt als ein Problemlösungsverfahren definieren, das aus einem vorhandenen Pool von Spezialisten mit grosser Flexibilität auf Zeit Problemlösungsgruppen (task forces) flexibel zusammenführt und nach der Lösung wieder voll entlastet, ein hoch komplexes Bereitschafts- und Pikettsystem „für alle Fälle“, das aber im Normalfall gar nicht beansprucht wird.

9. Das Milizprinzip ist im Zeitalter der Flexibilisierung und der Superspezialisierung keineswegs überholt, es ist besonders aktuell und es ist die einzige Möglichkeit, in einem Kleinstaat die persönlichen Ressourcen in Kriegs- und Krisenlagen sinnvoll einzusetzen ohne ausserhalb solcher Lagen eine ökonomisch untragbare Belastung zu kreieren.

10. Das Problem der Ineffizienz und Unwirtschaftlichkeit von Miliztätigkeit hängt nicht mit dem Prinzip zusammen, sondern mit seiner schlechten und fehlerhaften und zu wenig radikalen Umsetzung.

11. Das Milizprinzip muss nicht relativiert oder abgeschafft werden. Es muss radikaler durchdacht und konsequenter realisiert werden.

Die Verpflichtung bzw. das Recht als Konsequenz des Milizprinzips Milizfunktionen wahrnehmen zu müssen oder zu dürfen kann entweder individuell freiwillig, oder durch demokratisch legitimierten Zwang oder durch eine sittliche Pflicht zum „nobile officium“ geregelt werden. Die Frage nach der Freiwilligkeit bzw. nach dem demokratisch legitimierten Zwang ist eine entscheidende Weichenstellung. Über einen diesbezüglichen Erfolg oder Misserfolg des Prinzips entscheiden letztlich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten und nicht die zuständigen Behörden.

12. Ein obligatorischer Sozialdienst für das Gemeinwesen ist abzulehnen, weil damit in unzulässiger Weise in den Arbeitsmarkt eingegriffen wird und weil damit in Bereichen das Prinzip des Zwangs Einzug hält, die – ebenfalls aus ethischen Überlegungen – freiwillig bleiben müssen. Zwang zerstört die stets knappen, aber stets vorhandenen Ressourcen der Freiwilligkeit.

B. 12 Anwendungen im Bereich der Gesamtverteidigung

1. Die radikale Anwendung des Milizprinzips im Bereich der Gesamtverteidigung führt zum Identitätsprinzip, d.h. zur Forderung, dass in ausserordentlichen Lagen grundsätzlich dieselben Personen zuständig sind wie in ordentlichen. Dieses Prinzip ist nur in Annäherung durchführbar, d.h. es muss ein jeweils ergänzende Struktur vorbereitet (und möglichst auch eingeübt und eingespielt) sein, welche den Normalfall zu einem „Normalfall plus“ bzw. „Normalfall minus“ verändern.

2. Die ausserordentliche Lage sollte sich idealerweise nur graduell und nicht prinzipiell von der ordentlichen Lage unterscheiden und die stufenweise Umstellung sollte je nach Bedarf durch Veränderung entsprechender Bereitschaftsgrade erfolgen.

3. Das Identitätsprinzip muss sich konsequenterweise auf die gesamte Alters-Bevölkerungs-und Berufsstruktur abstützen.

4. Die Sicherheitsproduktion im Rahmen der Gesamtverteidigung ist restriktiv zu definieren. Sie hat heute einen hohen Bedarf an Professionalität, der in einem Kleinstaat nur durch das Identitätsprinzip mit vernünftigem Aufwand zu betreiben ist.

5. In Abweichung von der Arbeit für NGOs und NPOs und von der politischen und kulturellen Milizarbeit ist die Wehrpflicht im Rahmen der Gesamtverteidigung nicht freiwillig, weil die Bereitschaft zum Einsatz des Lebens und zum Töten für andere in kollektiver Notwehr aus ethischen Gründen nicht delegierbar ist. Im Fall eines Angriffs mit militärischer Gewalt ist der Einbezug in ein Zwangskollektiv gemeinsamer Sicherheitsproduktion nicht nur eine Pflicht, welche das diesbezügliche Trittbrettfahren erschwert sondern auch ein Recht, entsprechend ausgerüstet und ausgebildet zu werden. Ein Obligatorium verhindert auch, dass es möglich wird, in dieser Extremsituation „Geld gegen Blut zu tauschen“ und andere für sich kämpfen zu lassen. Die kollektive Zumutung des individuellenTötenmüssens um die Überlebenschancen des Kollektivs zu ermöglichen ist nur tragbar, wenn sie alle in gleicher Weise trifft. (Communism of the bodies…).

6. Wenn die „Allgemeine Wehrpflicht“ auf die Sicherheitsproduktion im Rahmen der Gesamtverteidigung ausgedehnt wird, was zu befürworten ist, so ist eine subtile Aufteilung zwischen Milizprinzip und Identitätsprinzip notwendig.

7. Dies wirft schwierige und zum Teil unlösbare Probleme im Bereich des Prinzips der sogenannten Wehrgerechtigkeit auf. Die gegenwärtige militärpolitische Lage verlangt keine kampfbereite Milizarmee von mehreren Hunderttausend Wehrpflichtigen. Das Prinzip der Wehrgerechtigkeit ist gegenüber dem Milizprinzip und dem Identitätsprinzip zweitrangig. Der Konflikt könnte zum Teil über ein verfeinertes System von Ersatzabgaben gelöst werden. Die Frage der Wehrgerechtigkeit stellt sich in ethischer Hinsicht erst im Extremfall der militärischen Verteidigung und ist in diesem Zusammenhang gesetzlich zu regeln.

8. Die „Militarisierung von Zivilpersonen zu Soldaten“, d.h. zu organisierten und ausgerüsteten Kämpfern steht im Konflikt mit dem Identitätsprinzip, da die Sicherheitsproduktion durch Kombattante in der ordentlichen Lage nur im Polizeibereich notwendig und professionalisiert ist. Immerhin unterscheiden sich in vielen und zunehmend personalintensiven spezialisierten Bereichen (Telekommunikation, Transport, Bauwesen, Versorgung, Sanität) die militärischen Tätigkeiten von den zivilen nur graduell und nicht prinzipiell.

9. Für die Funktion des kombattanten Soldaten können und sollen vor allem die noch wenig spezialisierten jüngeren Jahrgänge herangezogen werden. Die Ausbildung ist im Rahmen des von der Aufgabe gesetzten Rahmens so attraktiv wie möglich zu gestalten und sie soll professionell und nicht durch Anfänger vermittelt werden. Die Ausbildungskader können aber weitgehend auch Milizkader mit entsprechenden beruflichen Qualifikationen sein.

10. Eine Ableistung der Wehrpflicht im Rahmen der Gesamtverteidigung sollte aufgrund des Identitätsprinzips auch in späteren Lebensphasen möglich sein.

11. Der Einsatz des Instruments Milizarmee ist im Rahmen möglicher Fälle der Sicherheitsproduktion im Rahmen der Gesamtverteidigung nicht der wahrscheinlichste aber der gefährlichste Fall. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe der Elite, die Vorbereitung auf einen wenig wahrscheinlichen aber existenziell gefährlichen Fall in Phasen geringer Akzeptanz und Popularität aufrecht zu erhalten. Dabei muss auf zivile Lebensgewohnheiten angemessen Rücksicht genommen werden.

12. Das Entscheidende an einer Ökonomie der Miliz im Bereich der militärischen Sicherheitsproduktion ist die optimale Rekrutierungs- und Mobilisierungs- und Alarmierungsorganisation, die optimale personelle und materielle Infrastruktur im Rüstungs-und Ausbildungsbereich und der optimale Bereitschaftsgrad auf allen Stufen. Miliz ist – vor allem im Hinblick auf ausserordentliche Lagen, eine Pikettstellung im weitesten Sinn. Da Gefährdungen heute im gefährlichsten Fall total sind, muss letztlich in einem Kleinstaat im Verteidigungsfall – im eigenen Interesse – auch die ganze Bevölkerung mobilisierbar sein.

Nicht die Verteidigungsidee ist total und fordert damit den Einsatz aller, sondern die potentiellen Gefährdungen. Der gefährlichste Fehler wäre die Beschränkung der Verteidigungsbereitschaft auf jene Fälle, die man nach dem gegenwärtigen Stand der Unwissenheit für die wahrscheinlichsten hält. Absolute Sicherheit ist sowohl für Individuen als auch für Gemeinschaften eine Utopie. Sie ist weder technisch möglich noch finanzierbar. Die permanente Optimierung individueller und kollektiver Überlebenschancen angesichts überraschend wechselnder Bedrohungen gehört aber zu den primären Aufgaben eines Gemeinwesens. Eine möglichst hohe permanent angepasste Robustheit und eine möglichst umfassende rechtzeitige Immunisierung gegen neue Gefährdungen sind auch unter Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips realistische Ziele einer kollektive Überlebensstrategien.

Zitate:

Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Unwissenheit ernster nehmen.
F.A. von Hayek

Wir haben nicht mehr den Luxus einer planbaren Bedrohung.
Colin Powell

The first and most obvious lesson of Kuwait is the need to be ready for the unexpected.
Tom King, Brit. Verteidigungsminister

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