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Norden – Süden, links und rechts

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1997 – Seite 1)

EDITORIAL

Lateinamerika steht mitten in einer Revolution der Privatisierung. Dieser Prozess findet in einem Umfeld statt, das geprägt ist durch die Last des kolonialen und nachkolonialen Erbes und durch traditionell unstabile politische Systeme, die den jeweiligen Regierungsverantwortlichen — seien sie nun «rechts» oder «links» — eine gefährlich grosse Machtfülle einräumen. Bis heute halten sich in Europa die Clichés und Vorurteile über eine Weltgegend, die als Eldorado der Drogenexporteure, der Umweltzerstörer, der populistischen Caudillos, der korrupten Polizeiapparate, der Machos, der Fussballstars und der lebensfreudigen Sambatänzerinnen erscheint, in welchem die Sumpfblüten des Kapitalismus gedeihen und in der aufgrund der zunehmenden Schere zwischen Arm und Reich das Potential für eine sozialistische Revolution heranreift. Diese Sichtweise ist mehr als nur eine grobe und überheblich eurozentrische Vereinfachung. Sie ist im Hinblick auf das, was sich heute in der Weltwirtschaft abspielt, einseitig und gefährlich.

Das «Modell» des Nord-Süd-Konflikts, bei dem sogenannt entwickelte nördliche «Ausbeuter» sogenannt unterentwickelten südlichen Ausgebeuteten gegenüberstehen, ist ebenso obsolet geworden wie der Gegensatz zwischen einer angeblich «progressiven» Linken und einer «konservativen» Rechten. Die ideologischen Orientierungshilfen, die an räumliche Analogien anknüpften, waren schon immer fragwürdig. Wer aber heute noch daran festhält, läuft definitiv in die Irre. Lateinamerika liefert dafür eindrückliche Beispiele. Spätestens seit Hernando de Sotos Bestseller wissen wir es: Die unsichtbare Revolution in den Entwicklungsländern trägt das Label «Marktwirtschaft von unten». Die links-etatistische Revolution ist im Vergleich zur kapitalistischen Revolution der Privatisierung nur noch Nostalgie für unbelehrbare Intellektuelle. Wer hätte dies gedacht? Der Schlüssel für die Lösung eines der grössten Probleme der OECD-Welt, der unbezahlbar werdenden staatlichen Sozialwerke, liegt ausgerechnet im «wilden Süden». Der vielversprechende «dritte Weg» der Entwicklung liegt jenseits des bankrotten Wohlfahrtsstaats (der «ersten Welt»), und jenseits des Staatssozialismus (der nicht mehr existierenden «zweiten Welt»). Er könnte tatsächlich in jenen Ländern gefunden werden, die — aus dieser Sicht mit guten Gründen — als Entwicklungsländer (der «dritten Welt») bezeichnet worden sind, nämlich weil sie Entwicklungen initiieren.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1997 – Seite 1

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