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Zentralistischer «Föderalismus» im ehemaligen Ostblock

Lesedauer: 5 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1997 – Seite 24-26)

DOSSIER

An einer vom Europarat unterstützten Konferenz der in Dänemark domizilierten Stiftung für internationale Verständigung wurde im September 1996 in Odessa das Thema «Regionalismus» diskutiert. Am Rand der Konferenz kam es zum informellen Gedankenaustausch mit Fachleuten und Journalisten aus zahlreichen Ländern Mittel- und Osteuropas.

In der internationalen Diskussion um die Begriffe «Föderalismus» und «Regionalismus» hat die Verwirrung seit 1989 zusätzliche Nahrung bekommen. Mit gutem Grund wurde das Postulat einer Klärung der Begriffe und der Ermöglichung adäquater Übersetzungen auch in der Schlussrunde der oben genannten Konferenz deponiert. Der für die Konferenz zentrale Begriff «Föderalismus» war offenbar seinerzeit in der Sowjetunion konsequent für die Betonung der zentripetalen Kräfte gebräuchlich. Der Appell an den «föderativen Geist» war identisch mit dem Appell an die Solidarität unter den «Brudervölkern». Die Tendenz war unmissverständlich und klar: Es ging beim «Föderalismus» um mehr Kompetenzen bei der Zentrale in Moskau, um eine stärkere Betonung des gemeinsam Verbindenden und des allgemein Verbindlichen. Ein «Föderalist» ist und bleibt daher nach diesem Sprachgebrauch ein Befürworter zentralisierender Kräfte. Selbst in der vor allem im russischen Macht- und Wunschdenken verankerten «Gemeinschaft unabhängiger Staaten» (GUS) hat der Begriff mit dieser zentralisierenden Bedeutung nicht ausgedient. Er steht dort für die Betonung des bündischen, gemeinschaftlichen Elements und als Gegenbegriff zur umfassenden nationalen Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten. Ob man angesichts dieser Wortwahl wertend von einem terminologischen Missbrauch reden will oder ob man einfach feststellt, dass sich hier im Sprachgebrauch eine in der Wort- und Begriffsgeschichte angelegte Tendenz einseitig weiterentwickelt hat, bleibe dahingestellt. Wichtig ist nur, dass dieser grundlegende Unterschied zwischen dem mittel- und ost¬ europäischen Wortgebrauch einerseits und dem speziell in der Bundesrepublik und in der Schweiz historisch verankerten Verständnis von «Föderalismus» tatsächlich wahrgenommen wird. Wer in einer engagierten Debatte darauf hinweist, die heiss diskutierten «Differenzen» könnten unter Umständen semantischer oder übersetzungstechnischer Natur sein, macht sich zwar selten beliebt, er nimmt aber eine nützliche Funktion wahr. Es gibt keinen Grund, auf die Klärung von Begriffen zu verzichten.

Regionalisierung und Transformation

Die am Subsidiaritätsprinzip ausgerichtete Vorstellung eines Stufenbaus der Kompetenzen, bei welcher die Beweislast bei den Befürwortern der Zentralisierung liegt und bei welcher das Bestreben zum Ausdruck kommt, die Autonomie so dezentral bzw. non-zentral wie möglich wahrzunehmen, wird in Mittel- und Osteuropa häufig mit dem Begriff «Regionalismus» bezeichnet. Dabei wird oft übersehen, dass zwischen dem schrittweisen Aufbau einer Konföderation bzw. einer Föderation ursprünglich autonomer Körperschaften von unten nach oben und der systematischen Dezentralisierung eines ursprünglich politisch und ökonomisch zentral verwalteten Systems von oben nach unten ein wesentlicher Unterschied besteht. Beide Prozesse können mit «Regionalisierung» umschrieben werden. Bei der Umsetzung zeigen sich fast unüberwindliche Schwierigkeiten, vor allem wenn die Illusion aufrechterhalten wird, man könne die Vorzüge beider Vorgehensweisen kombinieren. In der Praxis ist nämlich die unbeabsichtigte Kombination von Nachteilen häufiger…

Im Prozess der real ablaufenden Transformationen gibt es noch eine dritte Variante: Der ungesteuerte Zerfall offizieller Strukturen als Folge der Zahlungsunfähigkeit der Zentrale in Verbindung mit der «Urzeugung» bzw. der Wiederbelebung lokaler, nachbarschaftlicher und familiärer Kleinstrukturen. Es handelt sich hier um spontane Prozesse der Gemeinschaftsbildung in kleinen und kleinsten Einheiten. Praktische Beispiele liefern etwa jene Schulen, in welchen Elterngemeinschaften in improvisierter Weise die «Institution Schule» aufrechterhalten, indem sie die vom Zentralstaat nicht mehr entlöhnten Lehrer weiterbezahlen. Die Bezeichnung «Regionalisierung» ist für diese Art der Selbstorganisation nicht angebracht, da es sich um ungeplant entstehende, meist informelle horizontale Vereinbarungen und Tauschbeziehungen handelt. Das Subsidiaritätsprinzip spielt hier wieder in seiner ursprünglichen Bedeutung: als Abgrenzung zwischen spontanen bzw. organisierten privaten Strukturen auf der einen Seite und von öffentlichen Institutionen, die hoheitliche Gewalt beanspruchen, auf der andern. Der Begriff De-Zentralisierung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls unzutreffend, da es ja keine handlungsfähige Zentrale gibt, welche bewusst Kompetenzen «nach unten» verschiebt, sondern nur das Chaos des Zerfalls der Autorität und das Überhandnehmen von teils korrupten und teils kreativen Privatinitiativen, von schwarzen, grauen und legal funktionierenden Märkten. In einem solchen Prozess wuchern nicht nur terminologische Missverständnisse. Handelt es sich hier wirklich um Spielarten der «Regionalisierung» oder «Föderalisierung», oder geht es einfach um Manifestationen der Privatautonomie?

Es geht um Neugewinnung und Rückgewinnung von Autonomie und um jene Eigenständigkeit und Selbständigkeit, welche Voraussetzung jeder Kooperation im grösseren Rahmen ist.

In der Schweiz herrscht im Zusammenhang mit «Regionalismus» die Vorstellung vor, dass gewisse öffentliche Aufgaben nicht im Rahmen der herkömmlichen kommunalen Grenzen, sondern grenzüberschreitend, interkommunal oder interkantonal, in Grenzregionen auch international wahrgenommen werden müssten: die Region als Alternative zur kleinräumigen lokalen Lösung. Die Idee der grenzüberschreitenden Kooperation steht dabei im Vordergrund. Anders wird die Situation in Regionen wahrgenommen, die Bestandteil grösserer Nationalstaaten sind und die sich aufgrund ihrer Geschichte oder ihrer Bevölkerung nach mehr Autonomie sehnen wie etwa die Schotten im UK, die Bayern in der BRD und die Norditaliener in Italien. Regionalismus ist dort die Alternative zum tendenziell zentralistischen Nationalstaat. Eine ähnliche Spielart des Regionalismus ist im Umfeld von bankrotten, bisher zentralverwalteten Subsystemen des ehemaligen Sowjetimperiums anzutreffen. Dort geht es ebenfalls nicht um das Thema «Grenzüberschreitung» und «Kooperation», sondern um neue Abgrenzungen. Es gibt diesbezüglich zwei Stossrichtungen: die der Reformer, welche an eine schrittweise Sanierung und Reorganisation der bisherigen zentralen Strukturen glauben, und diejenige der radikalen Neuerer, welche eine Lösung nur in der umfassenden Abkoppelung von einer nicht mehr zahlungs- und funktionsfähigen zentralen Bürokratie sehen. Technokratischer Machbarkeitswahn auf der einen Seite – Vertrauen in die schöpferische Kraft spontaner Tauschprozesse auf der andern. Das eigentliche Problem ist in diesem Zusammenhang der friedliche Vollzug von durchaus notwendigen Teil-Sezessionen, welche eine neue Autonomie durch neue Abgrenzungen gegen oben und gegen aussen zum Ziel haben. Der Begriff Sezession hat für uns einen negativen Beigeschmack. Aber wie sollen wir denn einen Prozess bezeichnen, bei dem sich das Subsidiaritätsprinzip neu von unten nach oben aufbaut, indem es zunächst einmal konsequent alles Zentrale grundsätzlich in Frage stellt, ohne die Notwendigkeit gemeinschaftlicher Einrichtungen zu negieren? Es geht um Neugewinnung und Rückgewinnung von Autonomie und um jene Eigenständigkeit und Selbständigkeit, welche Voraussetzung jeder Kooperation im grösseren Rahmen ist. Im Brennpunkt dieses Prozesses steht der Zusammenbruch des herkömmlichen Systems der Staatsfinanzierung und der Versuch, schrittweise ein neues Verfahren der Finanzierung von öffentlichen Aufgaben zu erfinden, zu testen und einzuführen. Es handelt sich hier nicht um geplante Reformprozesse, sondern um ein spontan ablaufendes Experiment auf der Basis von «Versuch und Irrtum», von wild wuchernden Märkten als «Schulen ohne Lehrer». Regionalisierung wird dabei zum Bestandteil eines umfassenden Entstaatlichungsprozesses, der im wesentlichen spontan und chaotisch abläuft und mit dem Stichwort «Privatisierung» und «Deregulierung» nur unzulänglich charakterisiert werden kann. Der Prozess wird durch die zaghaften und zum Teil realitätsfernen offiziellen Privatisierungsprogramme der nur noch teilweise funktionsfähigen Verwaltungsapparate überlagert, verstärkt oder gestört. Die Unterscheidung zwischen beabsichtigten Wirkungen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen, zwischen schwarzen, grauen und weissen Märkten einerseits und Verwaltungszweigen andererseits ist dabei kaum mehr möglich. Korruption ist in vielen Fällen die Lösung und nicht das Problem. Bestechung ist in solchen Verhältnissen oft das einzige Mittel, um sich von absurden und obsoleten Vorschriften «loszukaufen» und um konfiskatorische Steuern zu vermeiden.

Viele Entwicklungsprozesse nehmen einfach ihren Lauf und werden dann nachträglich kausal gedeutet oder als Folge von Programmen interpretiert. Was wir Westeuropäer etwas überheblich im ehemaligen Ostblock als Zerfall politischer Autorität und als wirtschaftlichen Ruin wahrzunehmen pflegen, ist bereits das Heraufdämmern neuer flexibler Strukturen, die auch für uns in absehbarer Zeit aktuell werden könnten, wenn die nicht mehr funktionierende und unbezahlbar gewordene bürokratische Megamaschine unseres umverteilenden Wohlfahrtsstaats zu ersetzen und zu entsorgen sein wird.

Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1997 – Seite 24-26

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