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Geschichte erben

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 3, 1997 – Seite 1)

EDITORIAL

Wer als Erbe der Vergangenheit den Nutzen von Tradition und Kontinuität bewirtschaftet, muss stets auch die Altlasten auf sich nehmen. Vergangenheit kann nur brutto abgerechnet werden. Die Frage nach Schuld und Unschuld stellt sich in historischer Betrachtungsweise nicht nur gegenüber Individuen, sondern auch gegenüber juristischen Personen und Staaten. Der Rechtsbrecher wird gegenüber den Opfern schuldig, ebenso der Hehler, das heisst, es besteht eine völkerrechtliche Reparationspflicht. Verträge sind auch gegenüber Erbberechtigten bindend, und anvertraute Mittel dürfen keinem Berechtigten vorenthalten werden. Offen bleibt lediglich die Frage der Verjährung, jenem Rechtsinstitut, das — je nach Situation — als Wohltat oder als Ärgernis empfunden wird. Das geschichtliche Erbe eines Staates besteht aber nicht nur aus einem Konto von verjährbaren und vielleicht auch unverjährbaren Schulden, es besteht auch aus erarbeiteten und ersessenen Aktiven und aus ererbten Vermögen, deren Höhe durch den Faktor Glück bzw. Unglück wesentlich mitbestimmt wird. Mit guten Gründen hat Jacob Burckhardt die Frage nach dem Stellenwert von Glück und Unglück in der Weltgeschichte gestellt. Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt, und der Wohlstand dieser Nation beruht — wer wollte es leugnen — auch auf günstigen Konstellationen.

Die Schadenersatzpflicht eines Schädigers gegenüber seinen Opfern kann und soll nicht bestritten werden, und auch die ordentliche Erfüllung von vertraglichen Pflichten gegenüber Erbberechtigten wird nicht in Frage gestellt. Sie ist in der Schweiz — abgesehen von bedauerlichen Ausnahmen – nach den hierfür vorgesehenen Verfahren und im Rahmen der geltenden Normen und Verträge abgewickelt worden und allenfalls noch abzuwickeln. Eine Rechtspflicht zum Ausgleich des «Faktors Glück» gegenüber allen Unglücklichen der Welt muss hingegen in aller Form zurückgewiesen werden. Barmherzigkeit kann — auch rückwirkend — nicht zum Gegenstand von rechtlichen und politischen Forderungen werden, und wer als Staat auf solche Forderungen eingeht, wird grenzenlos erpressbar und riskiert dabei, dass beide Prinzipien einen nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden: Die Chance, materielles Erbe aus Dankbarkeit für die Unversehrtheit und aus Sympathie für die Verfolgten dieser Welt einzusetzen, ist nicht vom Staat als Hort des Rechts, sondern vom einzelnen Menschen als Hort der Barmherzigkeit wahrzunehmen.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 3, 1997 – Seite 1

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