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Nationalstaat – Rückblick oder Ausblick?

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 11, 1996 – Seite 1)

EDITORIAL

Seit es Nationalstaaten gibt, wird auch diskutiert, ob sie für die Menschheit ein Fluch oder ein Segen seien. Während Franz Grillparzer ironisch bemerkte, der Fortschritt bewege sich von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität, hat Thomas Masaryk die Nationen als «die natürlichen Organe der Menschheit» bezeichnet. Er verwirft zwar jeden Hass gegen andere Nationen, aber er versteigt sich doch zum Slogan «Je nationaler, desto menschlicher, je menschlicher, desto nationaler.» Wer die Bestialität – mit einer gehörigen Portion Realismus — als einen Bestandteil des (Allzu)-Menschlichen erkennt, wird sogar eine Brücke finden zwischen diesen beiden konträren Äusserungen. Sie stammen wohl nicht zufällig beide aus dem Raum der Donaumonarchie.

Der Nationalstaat steht gegenwärtig angesichts der Globalisierung der Wirtschaft unter Legitimationsdruck. Nachdem die Ökonomie immer weniger nationale Komponenten hat und die Massenkultur sich über elektronische Netze ebenfalls weltweit ausbreitet, klammern sich die Nationalstaaten an den politischen Bereich. Innenpolitisch ist der Schutz der nationalen Umverteilungssysteme, Arbeitsmärkte und Sozialwerke in die obersten Ränge der Popularität vorgerückt. Sozialdemokratische Postulate bekommen dabei — gewollt oder ungewollt — eine sowohl konservative als auch eine nationale Komponente: Rettet unsern Sozialstaat, schützt unsern Arbeitsmarkt und investiert national! Vor jeder neuen Verbindung von nationalen Theorien mit sozialistischen Theorien muss mit allem Nachdruck gewarnt werden, und das Verdikt, welches Ludwig von Mises in seiner «Gemeinwirtschaft» schon 1932 formuliert hat, ist aktueller denn je: «Die nationale Theorie nennt sich organisch, die sozialistische nennt sich sozial; beide wirken in Wahrheit desorganisierend und antisozial.» Nationen sind ihrem Wesen nach kulturelle Erscheinungen. Ihre Vitalität und ihre Rechtfertigung ergibt sich aus ihrer kulturellen Produktivität. Nationen haben nur einen Sinn, wenn sie ohne den dauernden Druck eines staatlichen Zwangsapparats weiter existieren. Der Nationalstaat, der nur Nationalstaat ist, hat keine Zukunft.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 11, 1996 – Seite 1

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