(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1996 – Seite 1)
EDITORIAL
«Hinten, weit, in der Türkei» war noch zu Goethes Zeiten der Inbegriff des Fernliegenden, Fremden. Heute ist die Türkei näher gerückt. Sie hat eine wichtige Brückenfunktion zwischen Europa, dem Mittleren Osten und Zentralasien. Ob am Bosporus und in Kleinasien ein «kranker Mann», eine Militärdiktatur mit Foltergefängnissen oder ein politisch und wirtschaftlich erstarkender Supermann sitzt, ist von weltpolitisch entscheidender Bedeutung. Den Europäern erscheint der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs immer noch als unbequemer und unerwünschter Beitrittskandidat für die EU. Die USA setzen in ihren Nato-Partner hingegen grosse — vielleicht zu grosse — weltstrategische Erwartungen. Hat die Regierungsbeteiligung der Islamisten den Türkei- Skeptikern in Europa neue Argumente geliefert, oder ist sie ein erster Schritt für den Abbau der weltweiten Islamismus-Ängste? Das türkische Parteiensystem hat — im guten wie im schlechten – durchaus moderne Züge, d. h. die Parteien sind Machtkartelle und Wahlmaschinerien mit stark personalistischen Zügen und nicht ideologisch verfeindete Volksgruppen. Der unblutige Machtwechsel — nach Popper das entscheidende Merkmal der Demokratie — ist möglich, gerade weil das Geld dabei eine Rolle spielt und die Koalitionen in einem eigentlichen Markt um politische Machtanteile, sowie wirtschaftliche und militärische Einflussmöglichkeiten ausgehandelt worden sind: Politik als Basar der Macht, aber nicht als Abschaffung des Basars. Man mag darin eine besonders primitive oder eine besonders fortgeschrittene Form politischer Ökonomie sehen: Macht wird dadurch auf jeden Fall relativiert und das Risiko eines Umkippens ins Irrationale, Totalitäre verkleinert, wenn auch nicht eliminiert. Händler und Vermittler sind auf Frieden angewiesen. Brückenbauer verbinden zwei Ufer und bilden nach Möglichkeit einen Brückenkopf. Ob die Türkei zum Europa zugewendeten Brückenkopf in der islamischen Welt wird oder zum islamistischen Brückenkopf an Europas Südostflanke, hängt nicht allein von den Türken ab. Es gilt, den Wandel sorgfältig zu beobachten und schrittweise die Vorurteile abzubauen, die das Bild — positiv oder negativ — verzerren.
ROBERT NEF