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Leise Töne

Lesedauer: 6 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1996 – Seite 29-31)

Michael Wirth / Robert Nef

«Lesen ist ein Akt, mit dem das Individuum die Zugehörigkeit zu seiner kulturellen Gemeinschaft erwirbt, immer wieder aufs neue bestätigt und vertieft», liess kürzlich der französische Schriftsteller Philippe Sollers in einem Interview verlauten. Texte stehen in der Tat am Eingang zu allen wichtigen Lebensabschnitten. Bibel, Thora und Koran definieren das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen in den grossen Weltreligionen, das gute alte Schullesebuch bringt den ersten Kontakt mit dem Literaturkanon. Zeitschriften aber vermitteln jene unverzichtbaren Analysen der Erscheinungen und Phänomene einer Zeit, die durchaus im Sinne Sollers’ für das Verständnis der eigenen und der Nachbarkulturen wesentlich sind. Wer keine Zeitungen liest und sich nur durch elektronische Medien informieren lässt, läuft Gefahr, die Zusammenhänge in einer arbeitsteiligen, globalen Industrie- und Kulturgesellschaft nicht mehr wahrzunehmen und zu verstehen. Journalistische Reflexion, welche die Vorkommnisse der Welt klarer durchschaut, besser darstellt, intelligenter kommentiert ist heute wichtiger denn je. Der vom Tagesgeschehen abgehobene, aber doch hart an der Aktualität bleibende Kommentar einer Monatszeitschrift entspricht dem Bedürfnis nach vertiefender Analyse, nach Orientierung im besten Sinne.

Angesichts zunehmender multimedialer Präsenz und einer nahezu uneingeschränkten Vorherrschaft des Bildes wird das Lesen und der mit ihm verbundene psychologische Prozess der Wahrnehmung in den Hintergrund gerückt. Wer diesen in Erinnerung ruft, versucht auch ein Porträt seiner Leserschaft zu skizzieren, die aktiv an den Debatten einer demokratischen Gesellschaft teilnimmt. Denn wer liest, katapultiert sich aus der Situation, in der er liest, heraus, um das, was er liest, auf der Bühne seines inneren Auges noch einmal und nicht selten anders erstehen zu lassen. Diese Leserschaft besitzt die Bereitschaft zur Eigenaktivität, zur Deutungsarbeit, zum konstruktiven Zweifel. Der Filter der individuellen Erfahrung wird zum Generator von Gegenrede und Infragestellung.

Politik, Wirtschaft und Kultur

Bei der Gründung der «Schweizer Monatshefte» war der Themenkreis mit «Politik und Kultur» umschrieben, die «Wirtschaft» wurde erst in den fünfziger Jahren in der Mitte eingefügt — gelegentlich als Mittelpunkt, aber doch häufiger als Bindeglied. Die Unter Scheidung wurde, getreu der liberalen Tradition der Zeitschrift, nie verwischt, das Verbindende stand aber eher zur Debatte als das Trennende, was vielleicht zum typisch Schweizerischen dieses Periodikums gehört. Die Politik hat in der Reihenfolge der Themenkreise und auch der neuen Heftgestaltung seit 1994 ein gewisses Primat beibehalten. Aber das von der Tageszeitung her vertraute Schema, Aussenund Innenpolitik als Hauptmenu, Wirtschaft, Kultur und Sport als notwendige – teils angenehme, teils unvermeidliche – Zugabe und Manövriermasse, trifft für die «Schweizer Monatshefte» nicht zu. Die drei Bereiche stehen grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander. Es teilen sich zwar zwei Redaktoren die Arbeit, der eine mit Schwergewicht «Politik und Wirtschaft», der andere mit Schwergewicht «Kultur», aber mit grössern überlappenden Zuständigkeiten bei historischen und philosophischen Themen. Seit je – und speziell in der Ära Bondy/Krättli — wurden politische und wirtschaftliche Themen unter besonderer Berücksichtigung ihrer zeitgeschichtlichen und kulturellen Komponenten abgehandelt. Dieser Trend wird auch von der heutigen Redaktion fortgesetzt. Jedes Heft beginnt zwar mit der Rubrik «Positionen», in welcher vorrangig das Zeitgeschehen kommentiert wird. Aber schon in dieser Rubrik werden immer wieder Themen aus dem Kulturbereich aufgegriffen. Das «Dossier» behandelt ein Schwergewichtsthema und versucht in aller Regel die Bereiche zu vernetzen. Verfolgen wir mit dieser Verbindung ein veraltetes bildungsbürgerliches Konzept, das im Zeitalter der Spezialisierung wie ein erratischer Block wirkt? Ist es ein schlechtes Zeichen, wenn die Kioskverkäuferinnen nicht wissen, ob sie das Heft nun unter «Politik», «Wirtschaft» oder «Kultur» einreihen sollen? Die Fähigkeit und die Bereitschaft zum vernetzten Denken, zum Erkennen grösserer Zusammenhänge wird in Zukunft immer wichtiger sein. Fachzeitschriften und fachübergreifende Publikationen sind keine Alternative, sondern ergänzen sich gegenseitig, und die Beschränkung auf das rein Fachliche kann manchen Spezialisten von den kleinen Teilwahrheiten in den grossen Irrtum führen.

Reflexionen aus 75 Jahren

Der in der Aufzählung der Themenbereiche und in der Heftgestaltung feststellbare Vorrang der Politik bestätigt sich beim genaueren Hinsehen weder im Rückblick noch in der Gegenwart. Die Auswahl von 75 Beiträgen für diese Jubiläumsnummer dokumentiert eindrücklich den hohen Stellenwert der Kultur, denn alle Beiträge, welche als Zeugen des Zeitgeists auch über die eigene Zeit hinaus Geltung beanspruchen dürften, sind der Kultur in einem weiteren Sinn zuzuordnen. Auch die Ökonomie, die seit den fünfziger Jahren immer wieder durch grundlegende Beiträge in unserer Zeitschrift vertreten war, ist in einem weiteren Sinn Bestandteil der Kultur. Diese Erkenntnis ist für uns auch ein Auftrag, welcher unsere Vorstellung über die künftige Gestaltung der Zeitschrift bestimmt: Das Politische und Wirtschaftliche aus einer Perspektive zu würdigen, welche die Kultur im weiteren Sinn in den Mittelpunkt stellt. Der «homo politicus» und der «homo oeconomicus» haben nur eine Überlebenschance, wenn sie sich als «homo cultivans» bewähren und entwickeln.

Fanny Brügger (1886-1970), Lesendes Kind, 1916, Öl auf Leinwand, Bündner Kunstmuseum, Chur.

Die anspruchsvolle Aufgabe der Auswahl, des Lesens und Auslesens in den alten Jahrgängen war für die Redaktion unter anderem auch darum aufschlussreich, weil die Frage «was bleibt?» ja auch eine Richtschnur für die Zukunft sein kann. Das Kriterium der längerfristigen Aktualität, der Dauerhaftigkeit (die zwar stets eine relative ist) darf allerdings auch in einer Monatszeitschrift niemals verabsolutiert werden. Es kann sehr wohl sein, dass das richtige Wort zur richtigen Zeit ein vergängliches zeitgebundenes ist, das seine Wirkung tut und fast gleichzeitig auch wieder obsolet wird. Mancher Beitrag mag auch eine unsichtbare und unwägbare Weiterwirkung entfalten, indem seine Informationen, Ideen und Formulierungen in andere, neue Konstellationen integriert werden, so dass dadurch eine Spielart der Dauerhaftigkeit entsteht, welche vielleicht sogar zählebiger ist als die Textkonserve in einem Sammelband.

Trennendes und Verbindendes

Man mag in dieser Betonung des Kulturellen nun doch ein Abweichen vom Prinzip der Gleichrangigkeit der drei Bereiche Politik, Wirtschaft und Kultur sehen. Dies wäre eine zu enge Interpretation der redaktionellen Ziele. Eine weitere Erfahrung, die wir bei der selektiven Lektüre gewinnen konnten, bestand darin, dass in literarischen Texten und in historischen Essays eine Fülle von Erkenntnissen enthalten sein kann, die dem Verständnis politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge dienen. Ein Beispiel möge hier genügen. Biaise Cendrars hat in der Geschichte vom Tod des kleinen Schäfers zwei Grundformen des menschlichen Verhaltens gegenübergestellt, die pflegende, im umfassenden Sinn verbindende Zuwendung der mütterlichen Frau, die sich um den Schwerverletzten kümmert, und die scharf analysierende, mit dem Messer schneidende rationale Behandlung des berühmten Chirurgen, dessen fachmännische Operationsdemonstration schliesslich zum Tod führt (vgl. S.62 dieses Hefts). Verbindliches, spontan Vereinbartes, Verträgliches auf der einen Seite und der Kampf mit dem Messer und bis aufs Messer auf der andern. Da sind wir nicht mehr weit von dei These des berühmten Ökonomen Ludwig von Mises, dessen Botschaft – in Anlehnung an Sigmund Freud — wie folgt charakterisiert werden könnte: Wo «Gewalt» war, soll «Vertrag» werden (vgl. S.81 dieses Hefts). Im staatspolitisch-verfassungsrechtlichen Bereich finden wir den Gegensatz der beiden Methoden bei Walther Burckhardt wieder, wenn er das Ungenügen der individuell-konkreten, auch emotional gesteuerten Privatautonomie dem Ungenügen einer rational vereinbarten zwingenden Kollektivlösung gegenüberstellt (vgl. S. 110 dieses Hefts).

Nischen des Kulturjournalismus

Dem Rummel der Ereignis-Kultur die kalte Schulter zu zeigen ist Teil der Selbstdefinition, der sich die Kulturseiten der «Schweizer Monatshefte» immer verpflichtet haben. Zugegeben: Eine Monatszeitschrift hat es leichter, die Klippen des in den sechziger Jahren in Gang gebrachten Kulturbooms zu umschiffen, dessen Ströme seit Jahren in die Redaktionen einbrechen. Dass Standfestigkeit in Zeiten steten Wandels angesichts der Sirenenklänge modischer Kulturberichterstattung auch und gerade für eine finanziell schwach ausgestattete Publikation so natürlich nicht ist, sei allerdings auch erwähnt. Die Optionen der «Schweizer Monatshefte» zeichnen sich dadurch aus, dass sie im wesentlichen konsequent vertreten werden: keine aktuelle Berichterstattung, sondern Hintergrundanalysen, gezielte Kritik gängiger Meinungen. Pflege des traditionellen Schwerpunkts: Literatur-, Kunst- und Sachbuchkritik. Wider den Trend zur Kurzlebigkeit bringen die «Schweizer Monatshefte» regelmässig ältere Werke in Erinnerung: die Wiederholung als Form einer Neubewertung, als Bekenntnis des Heutigen zu seinen Wurzeln.

Tatsächlich beruhen viele Positionen des redaktionellen Konzeptes der Zeitschrift auf Überlegungen, wie mit der hemmungslosen Flut an Kulturinformationen umzugehen sei. Moden sind aus der Distanz zu beobachten im Wissen, dass das Substantielle ganz ohne Selbstbespiegelung auskommt. Doch das allein reicht nicht aus, um dem drohenden «Realitätsverlust» zu begegnen: Dazu bedarf es auch der nie erlahmenden Bereitschaft der Autorinnen und Autoren, seien sie Journalisten oder Universitätsprofesso¬ ren, zur kritischen Reflexion des eigenen Tuns. Man mag dies auch als Wille zur «Weltbeobachtung» bezeichnen – eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich Autoren und Redaktion nicht von der «Dynamik» der Routine fortreissen lassen, ist es allemal.

Die «Schweizer Monatshefte» pflegen die Nischen des Kulturjournalismus. In ihnen findet sich das Interesse für Themen, welche erst noch solche zu werden versprechen ebenso wie diejenigen, die woanders bereits «abgehakt» wurden. Zum Nischenbewusstsein gehört auch das Selbstverständnis, einerseits eine Zeitschrift am Rand des deutschen Sprachraums zu sein, andererseits in einem Land zu erscheinen, das am Schnittpunkt grosser europäischer Kulturen liegt. Ränder nach innen zu biegen, sie nicht zu Randerscheinungen verkommen zu lassen, ein Forum des Austausches zu sein, hat zu keiner Zeit die Beiträge derjenigen ausgeschlossen, die das geistige und kulturelle Leben in Europa, schwergewichtig freilich im deutschsprachigen Raum, bestimmen. Bei den Interpretationen des von aussen nach innen Strebenden, der Wege mithin, den alle Gedanken nehmen, welche ihre Zeiten prägen, schlagen die «Schweizer Monatsheften» leise Töne an.

Schweizer Monatshefte – Heft 7/8, 1996 – Seite 29-31

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