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Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus

Lesedauer: 10 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1996 – Seite 6-9)

POSITIONEN

Robert Nef

Fünf Thesen zum «Schweizer Wirtschaftswunder» nach 1848

Die Schweiz ist heute eines der reichsten Länder der Welt, obwohl sie ein Binnenland ist, keine sprachlich, kulturell und konfessionell homogene Bevölkerung hat, praktisch keine Bodenschätze besitzt und über keine wirtschaftliche Autarkie verfügt. Es fehlen ihr also die meisten wesentlichen Merkmale, die man im 19. Jahrhundert als Voraussetzung der nationalen Eigenständigkeit definiert hat. Die Schweizerische Eidgenossenschaft ist das Resultat einer historischen Entwicklung, die – mindestens zum Teil — unter atypischen Bedingungen abgelaufen ist. Wir halten also unser Land mit guten Gründen für einen Sonderfall, der sich kaum als Modell für Dritte eignet. Darum tun wir gut daran, beim Erteilen von Ratschlägen zurückhaltend zu sein und in der Diskussion um Grundwerte wie Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus auf jede Anmassung zu verzichten. Jedes Land ist aufgrund seiner unverwechselbaren Geschichte etwas Besonderes, Einzigartiges. Dies ist allerdings kein Grund, um auf den Austausch von Erfahrungen zu verzichten.

Der Wohlstand der Schweizer reicht in die Gründungszeit der Urschweiz vor gut 700 Jahren zurück. Vielleicht hat die Schweiz ihre ersten 500 Jahre nur überlebt, weil sie relativ arm war und für potentielle Eroberer eher unattraktiv. Machiavelli nannte die Schweizer «liberissimi e armatissimi» (die Freisten und die militärisch am besten Gerüsteten), und das war wohl – neben der Armut – der Grund, weshalb die Versuche, die widerspenstigen demokratischen Gebirgsvölker zu erobern und in ein grösseres Reich einzugliedern, militärisch und diplomatisch gescheitert sind.

Freiheit und materieller Wohlstand

Der Ursprung des Reichtums der Schweiz liegt erst 150 Jahre zurück, und er fällt mit der Gründung unseres liberalen und demokratischen Bundesstaates zusammen. Damit wird die Angelegenheit im Zusammenhang mit dem Thema «Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus» spannend. Könnte es sein, dass zwischen Demokratie, Menschenrechten und Liberalismus auf der einen Seite und materiellem Wohlstand auf der anderen Zusammenhänge bestehen, die nicht einfach auf historischen Zufällen beruhen? Als Ergänzung der Dreierformel im Thema unserer Gesprächsrunde möchte ich als Viertes den materiellen Wohlstand beifügen. Damit soll eine Brücke gebaut werden vom Reich der Ideen zu den harten Fakten der ökonomischen Realität. Die Suche nach einer Verbindung von ideellen Werten und materiellem Nutzen ist vielleicht etwas typisch Schweizerisches, aber auch anderswo ist ein Interesse an solchen Verknüpfungen nicht unbekannt. Dies führt uns zur ersten These:

«Eine politische Gemeinschaft hat eine ideelle und eine materielle Basis, und sie ist nicht zukunftstauglich, wenn sie nicht beide in gleicher Weise berücksichtigt.»

Diese These kommt in der offiziellen Bezeichnung symbolisch zum Ausdruck, die wir in der Schweiz verfassungsrechtlich verankert haben: «Schweizerische Eidgenossenschaft». (Der Terminus ist schwer übersetzbar.) «Eid-» erinnert an eine gemeinsame, im Glauben verankerte Verpflichtung gegenüber einem historischen und kulturellen Erbe, «Genossenschaft» an den gemeinsamen wirtschaftlichen Nutzen. Unsere Staatsverfassung kann also als Gründungsvertrag zum gemeinsamen Schutz gegen aussen und zur gemeinsamen wirtschaftlichen Wohlfahrt im Innern gedeutet werden. Die wirtschaftliche Komponente der «Genossenschaft», die gemeinsame Selbsthilfe, lässt sich übrigens ohne schwerwiegende Probleme auf grössere Zusammenschlüsse übertragen, währenel das sozio-kulturelle, körperschaftliche Band eines Eides der politischen Integration in suprastaatlichc Einheiten im Wege steht.

Das Bekenntnis zum Liberalismus ist für Liberale im klassisch-europäischen Sinn mit einem Bekenntnis zum «freien Markt» verknüpft. Freiheit bedeutet zwar mehr als wirtschaftliche Freiheit, sie hat aber sehr viel mit der Garantie der «Self-ownership» und des Privateigentums zu tun, denn diese Garantien halten den Menschen auch jene Spielräume offen, die sie vor materieller Abhängigkeit bewahren. Persönlichkeitsrechte, Privateigentum und Vertrag bilden die Basis der Privatautonomie, welche Verbindlichkeiten nicht nach dem Mehrheitsprinzip schafft und kollektiv erzwingt, sondern im Einverständnis der jeweils Betroffenen und Beteiligten flexibel, «massgeschneidert» und meist zeitlich befristet gestaltet. Je komplexer die Bedürfnisse miteinander vernetzt sind, desto eher eignet sich die vertragliche Selbstbestimmung als Basis wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen. Das Bekenntnis zum Liberalismus reicht, wie bereits erwähnt, über das Bekenntnis zu freien Märkten hinaus. Es ist in subtiler Weise mit einem Bekenntnis zut Garantie von Menschenrechten verbunden, was in einer zweiten These festgehalten werden soll:

«Liberalismus kann — vereinfachend — mit der Formel offener Markt plus Menschenrechte) charakterisiert werden.»

Demokratie – ein Mittel, kein Ziel

Demokratie als «Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk» geniesst zu Recht weltweit höchste Akzeptanz und Popularität. Der Begriff wird heute als Synonym gebraucht für einen Freiheit, Menschenrechte und Wohlfahrt garantierenden Rechtsstaat. Dies sollte uns aber nicht davon abhalten, auch ihre Schwachstellen zu erkennen. Mehr Mitbestimmung ist nicht dasselbe wie mehr Selbstbestimmung, denn Mitbestimmung kann sehr wohl auch fremdbestimmend sein, beispielsweise für Minderheiten und für künftige Generationen. Das demokratische Mehrheitsprinzip führt dazu, dass Minderheiten von annähernd der Hälfte fremdbestimmt werden können, gleichsam als Opfer einer «Diktatur der Mehrheit».

Gerade weil man Demokratie als Grundwert in der Regel zu weit definiert, die Nachteile verdrängt und dafür — zu Unrecht – das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit miteinbezieht, sollten wir auch die Demokratiekritik ernst nehmen. «A perfect democracy is the most shameless thing in the world», hat Edmund Burke festgestellt. Es lässt sich also als dritte These folgendes festhalten:

«Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips ist ein formelles Verfahren der Willensbildung, das keine Garantie für wissenschaftlich richtige oder ethisch gerechte Resultate enthält. Demokratie garantiert ‹aus sich heraus› weder Menschenrechte noch liberale Werte.»

Die historischen Erfahrungen mit dem Mehrheitsprinzip sind ambivalent, ist doch beispielsweise auch Hitler von demokratischen Mehrheiten gewählt worden, allerdings unter Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien. Trotzdem ist das historische «Sündenregister» der Demokratie weniger lang als das der autoritären Regime, vor allem wenn man einen bescheidenen Massstab anlegt bei der Frage, was eine Regierung positiv zu leisten habe. Für den Philosophen Popper hat ein politisches Organisationsmodell Folgende Frage zu beantworten: «Wie sollen politische Institutionen organisiert werden, damit verhindert werden kann, dass schlechte oder inkompetente Regierungen zu viel Schaden anrichten?» Die Demokratie ermöglicht immerhin einen unblutigen Wechsel, allerdings ohne ihn zu garantieren. Das ist nicht besonders viel, aber mehr als nichts.

Als Idealisten sind wir aufgerufen, Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus optimal zu kombinieren. Als Realisten sehen wir uns aber weltweit mit der Tatsache konfrontiert, dass eine solche Optimierung schwierig ist. Sie konfrontiert uns immer auch mit der Aufgabe, inhaltliche und zeitliche Prioritäten zu setzen, denn wir können nicht alles gleichzeitig und nicht alles im gleichen Ausmass erreichen. Das Beifügen des materiellen Wohlstands als vierten Wert hat das Unterfangen noch komplizierter gemacht. Das «magische Dreieck» wird in ein «magisches Viereck» verwandelt, aber vielleicht sind wir damit den Herausforderungen der Realpolitik etwas näher gekommen. Die vierte, im Hinblick auf die Diskussion absichtlich provokativ formulierte These befasst sich mit den Prioritäten im Zeitablauf von Reformprozessen.

«In einer Realität, in der wir zu wenig Demokratie, zu wenig Menschenrechte und zu wenig Liberalismus (im engen Sinn von garantierter Privatautonomie und garantiertem Privateigentum) haben, müssen wir simultan in allen drei Bereichen Fortschritte erzielen und, wenn dies nicht möglich ist, in umgekehrter Reihenfolge vorgehen. In erster Linie Liberalismus und Menschenrechte, in zweiter Linie Demokratie.»

Demokratie und Wirtschaftswachstum

Die Geschichte des «Schweizerischen Wirtschaftswunders» im 19. Jahrhundert scheint diese Prioritätenordnung zu bestätigen. Die liberale, föderalistisch strukturierte Schweiz wurde 1848 geschaffen, die Perfektionierung der direkten Demokratie erfolgte erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Der eindrückliche wirtschaftliche Aufschwung wurde von der Zwischengeneration aufgrund von viel Liberalismus und weniger Demokratie geleistet. Die Erfolgsgeheimnisse waren und sind einfach. Man kann sie schon bei Adam Smith nachlesen. «Peace, easy taxes and tolerable justice.» Demokratie wird nicht speziell hervorgehoben. Vermutlich hat damals auch in der Schweiz kaum einer der Handwerker, Bauern, Gewerbetreibenden und Händler die klassischen Texte des Liberalismus wirklich gekannt bzw. gelesen. Diese Menschen waren notgedrungen auf Arbeit, Fleiss und Sparsamkeit konzentriert, und sie dachten mehr an sich selber und ihre Nächsten als an irgendwelche Theorien und Bücherweisheiten. Aber das ist ja gerade einer der grossen Vorzüge des Liberalismus bzw. eines freien Marktes. Er offeriert eine «Schule ohne Lehrer» und beruht auf anthropologischen Grundlagen, die potentiell bereits vorhanden sind und die nicht erst durch Schaffung von «neuen Menschen» über politische Strukturen und pädagogische Massnahmen erzwungen werden müssen.

In neuester Zeit ist die Frage des Zusammenhangs von Demokratie und Wirtschaftswachstum Gegenstand umfangreicher Forschungsprogramme. Der in den Vereinigten Staaten lehrende und forschende Ökonom Barro vertritt die Auffassung, dass kein signifikanter Zusammenhang zwischen Demokratie und Wirtschaftswachstum bestehe und dass «mehr Demokratie» nicht der Schlüssel zum Wirtschaftswachstum eines Landes sei. Er folgert daraus, dass die entwickelten Länder sich mehr um die ökonomische Entwicklung ärmerer Nationen zu kümmern hätten als um die Reform ihrer politischen Systeme in Richtung Demokratie.

Von Anthony de Jasay, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Theoretiker des Liberalismus in Europa, stammt der in seiner Prägnanz an Adam Smith erinnernde Satz: «Property breeds liberty». Ob dieses Brüten genügt, und ob der Phönix «Freiheit» aus dem Ei schlüpfen kann, wenn nur das Eigentum genügend wirksam geschützt wird, mag hier offenbleiben. Sicher ist eine wirksame Eigentumsgarantie eine conditio sine qua non, möglicherweise braucht es aber noch weitere differenzierte Voraussetzungen. Vermehrte empirische und historische Befunde zu diesen Fragen wären sehr erwünscht. Auf ein weiteres historisches Faktum aus der Jüngern Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates ist im Hinblick auf unser Thema noch besonders hinzuweisen.

Parasitäre Bürokratie

1848, nach seiner Gründung, startete der Schweizerische Bundesstaat mit einem minimalen Apparat von weniger als zwanzig professionellen Beamten, ohne direkte und indirekte Bundessteuern und mit einem Minimalbudget, das sich nur auf Zölle stützte. Wir hatten also die Chance, tatsächlich als Minimalstaat anzufangen, auf der Basis einer hohen kantonalen und lokalen Autonomie und mit funktionierenden politischen Mikrostrukturen, die allerdings – gerade auf lokaler Ebene – eher paternalistisch waren als demokratisch. Diese Strukturen entsprangen nicht einem gemeinsamen Willen zum lean government, sondern der Tatsache, dass für alles andere schlicht und einfach die Mittel fehlten: kein Geld in der öffentlichen Kasse, keine Beamten, keine zentrale Bürokratie. Wir taten das Richtige, weil wir die finanziellen und personellen Mittel nicht hatten, das Falsche zu tun. In der schwach entwickelten bundesstaatlichen Zentrale herrschte aufgrund des nicht professionalisierten «Milizprinzips» eine Mischung von Improvisation und Konfusion, ein «Laissez-faire», bei dem beispielsweise der zentrale Zolltarif mangels entsprechender Fachleute nicht von Beamten, sondern von der Wirtschaft selbst formuliert werden musste (und darum wohl auch entsprechend wirtschaftsfreundlich ausgestaltet war). Vereinfachend und etwas salopp ausgedrückt ist das schweizerische «Wirtschaftswunder» des 19. Jahrhunderts weder eine Frucht des verfassungsrechtlichen Liberalismus noch der Demokratie, sondern eine unbeabsichtigte Folge eines Minimums an zentralen bundesstaatlichen Strukturen und dem damit verbundenen politischen Dilettantismus, der anstelle der in andern Staaten üblichen professionellen «klassischen Staatsverwaltung» praktiziert wurde. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts war fortschrittlich, weil ihr politisches System – gemessen an den damaligen Kriterien – besonders «rückschrittlich» war. Das Subsidiaritätsprinzip funktionierte, weil private, lokale und kantonale Strukturen tatsächlich personell und finanziell besser in der Lage waren, öffentliche Aufgaben wahrzunehmen als die chronisch «unterdotierte» Zentralverwaltung. Dies war der Hauptgrund für die Absenz jener Wirtschaftspolitik (gibt es eine andere?), die mit national-ökonomischen Vorwänden zugunsten der Einflussreichen und Mächtigen interveniert und damit Strukturen konserviert und die spontanen Kräfte eines Aufschwungs hemmt und lahmlegt… Staatliche Neugründungen bieten offensichtlich auch der Wirtschaft gute Startchancen, aber weniger wegen der Qualität ihrer Strukturen als wegen des «leichten Gepäcks» im Bereich der zentralen Staatsapparate und wegen der in einer Startphase limitierten Möglichkeit fiskalischer Ausbeutung. Leider ist heute weltweit diese Idealsituation fast nirgends gegeben. Überall dominieren die Altlasten über die Kräfte des Neubeginns. Wir kennen alle zwar die eine Seite des Problems: kein Geld in der Staatskasse, aber in der Regel gibt es bereits Heerscharen von Beamten und Funktionären auf lokaler, gliedstaatlicher und nationaler Ebene, sei es als Erbe des Feudalismus, der Kolonialherrschaft oder als Erbe sozialistischer Experimente.

Ob es angesichts solcher bereits vorhandener Fehlstrukturen genügt, den Reformbedarf des politischen Systems einfach zu ignorieren (wie Barro dies empfiehlt) und unbesehen in bestehende — zum Teil politisch fehlgesteuerte — Wirtschaftssysteme zu investieren, ist fragwürdig. Politik, d. h. bestehende Machtstrukturen, spielen auch für die Wirtschaftsentwicklung eine wichtige Rolle. Wer politisch eine totalitäre Herrschaft ausübt, unterliegt häufig auch der Versuchung, intervenierend und umverteilend in den Markt einzugreifen und damit längerfristig – ohne dies zu beabsichtigen – das Wachstum des Wohlstands für alle zu hemmen und zu vereiteln . . .

Vielleicht hat man in der Diskussion der Thesen von Barro zu sehr den Gegensatz von «autoritär» und «demokratisch» beachtet und zwei weitere Kategorien übersehen, die Kategorie des «Parasitären» (in negativer Hinsicht) und des «Minimalstaatlichen» (in positiver Hinsicht). Parasitäre bürokratische Strukturen gibt es in autoritären und in demokratischen Systemen, und ein Minimalstaat braucht nicht unbedingt demokratisch zu sein. Die Gegengifte zum parasitären Zentralapparat sind weder die Demokratie noch die Menschenrechte, denn in der Regel legitimieren sich die Apparate gerade mit Vorliebe durch die Behauptung, sie würden die Menschenrechte besonders wirksam schützen. Das beste Mittel gegen parasitäre Bürokratien ist die Einschränkung jener Umverteilungsbürokratie, die letztlich vorwiegend in die eigene Tasche umverteilt.

Ob der Liberalismus in Verbindung mit Demokratie tatsächlich Heilmittel gegen die wachsenden zentralen Staatsapparate und die bevormundenden, in Zukunft nicht bezahlbaren wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen bereithält, muss er erst noch beweisen. Ich habe aufgrund der schweizerischen Erfahrungen, die wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit wachsenden Staatsapparaten, Staatsaufgaben und Staatsausgaben gemacht haben, keine Patentrezepte anzubieten, höchstens Warnungen. Selbst unsere direktdemokratischen, föderalistischen Strukturen mit ihrer Vorliebe fürs Non-Zentrale und mit ihrem «Wettbewerb der Systeme» haben sich gegen das Überborden zentralisiertet wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung nicht als immun erwiesen. Unsere Staatsquote liegt nahe bei 45 Prozent und die Quote der öffentlich Bediensteten bei über 15 Prozent, wenn man alle öffentlichen Arbeitgeber und die wichtigsten parastaatlichen Betriebe mitrechnet. Im europäischen Durchschnitt stehen wir damit – einmal mehr dank dieser «Rückständigkeit» — relativ gut da, aber das ist ein schwacher Trost . . .

Vordringlichkeit einer Steuer- und Finanzreform

Ich komme damit zu meiner fünften und letzten These:

«Ob eine Kombination von Demokratie, Menschenrechten und Liberalismus Wirtschaftswachstum und Wohlstand gewährleistet, hängt von zwei weiteren Faktoren ab: Es muss gelingen, den tendenziell wachsenden Staatsapparaten und Staatsquoten institutionelle Grenzen zu setzen: limited government and limited taxation.»

Das Ziel dieser These ist erfahrungsgemäss nur dann erreichbar, wenn es gelingt, politische Macht nicht nur durch die Trennung der Gewalten, sondern durch eine Konkurrenz lokaler und regionaler Steuerhoheiten zu entgiften. «The power to tax is the power to destroy», sagte Churchill. Trotzdem gibt es keinen Staat ohne Steuern. Eine der zentralen politischen Aufgaben, vor der wir alle stehen, ist die Erfindung eines Steuersystems, das nach oben begrenzt ist und bei dem der Zusammenhang von öffentlichen Aufgaben und öffentlichen Ausgaben, von Nettozahlern und Nettoempfängern, von taxpayers und taxeaters für alle Bürger und Steuerzahler nachvollziehbar ist. Nur so ist es möglich, dass die Finanzierung des politischen Systems ihre legitime Basis durch die Einsicht in die Notwendigkeit immer wieder erneuern kann und nicht unter dem Druck von stets mehr fordernden Mehrheiten zusammenbricht. Wird dieser Teufelskreis von Demokratie und Wohlfahrtsstaat nicht unterbrochen, so heisst es schliesslich «alles für alle», und das ist bekanntlich weder finanzierbar noch ökologisch verträglich. Bei einem Staatsbankrott brechen nämlich nicht nur die Staatsfinanzen zusammen, es werden auch Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus vital gefährdet, womit ein weiterer Beweis erbracht wäre für den subtilen und labilen Zusammenhang von Ideen und materiellen Werten.

In den USA wird zurzeit diskutiert, ob Bürger und Parteien vor der Aufgabe eines «Reinventing Government» oder eines «Deinventing Government» stehen. Den Staatsapparat neu erfinden oder abschaffen? Sicher kann in komplexen, technisch zivilisierten Gesellschaften auf handlungsfähige Regierungen nicht verzichtet werden. Sie sind zuständig für Recht und Ordnung als Voraussetzung eines friedlichen Zusammenlebens – nicht mehr und nicht weniger. Im Zentrum des Neuerungsbedarfs stehen in der Schweiz und in den meisten europäischen Staaten die Staatsfinanzen. Hier sind sowohl Theoretiker als auch Praktiker herausgefordert, weil hier der akuteste Revisionsbedarf manifest wird und weil hier die aktive Politikergarde am liebsten ausweicht. Solche Revisionen müssen mit dem notwendigen Weitblick und ohne Rücksicht auf Popularität und Wahlerfolge angepackt werden. Ein blosses Bremsen, Konservieren und Flicken genügt hier nicht, und das Versprechen auf «Umbau» und «Ausbau» zu Lasten der «Reichen» oder der «nächsten Generation» ist gefährlich und verlogen. Es gibt auch keine unreflektierte Rückkehr in irgendwelche «guten alten Zeiten», obwohl dort sehr wohl Impulse für Neuerungen zu finden sind. Vermutlich braucht es aber auch wirklich «neue Erfindungen» für die Etablierung eines limitierbaren Steuersystems, das staatliche Macht, staatliche Apparate, staatliche Aufgaben und staatliche Ausgaben so einschränkt, transparent macht und aufeinander abstimmt, dass Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus auch in Zukunft eine Chance haben.


Überarbeitete und erweiterte deutschsprachige Fassung eines Referats, das an der «Convention on Liberal Values» der Friedrich-Naumann-Stiftung am 5./6. Januar 1996 in Neu Delhi gehalten worden ist.

Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1996 – Seite 6-9

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