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Vergangenheit und Zukunft der Idee des Gesellschaftsvertrags

Lesedauer: 14 Minuten

(35/35 – 35/44 / Robert Nef / Reflexion Nr. 35 / September 1995)

Zum unterschiedlichen Verständnis eines Gesellschaftsvertrages bei Locke, Rousseau, Kant und Burke

John Locke und die naturrechtliche Begründung von Privatautonomie und Gesellschaftsvertrag

Ideengeschichtlicher Hintergrund

Die Idee des Gesellschaftsvertrags hat ihre Wurzeln in der Antike. Primär ging es um einen Herrschaftsvertrag, in welchem zwischen dem Herrscher und den Beherrschten die Rechte und Pflichten festgelegt wurden.

In Anknüpfung an Hobbes entwickelte John Locke die Theorie, dass die Gesellschaft sich durch einen Vertrag vom Naturzustand losgelöst habe. «It is only consent, which did or could give beginning to any lawful Government in the world». Locke unterschied, gestützt auf Pufendorf, zwei Schritte des Vertragsschlusses, den Gesellschaftsvertrag, der die Gesellschaft hervorbringt, und den Herrschaftsvertrag, welcher den Auftrag des Volks an die Regierung zum Inhalt hat. Die Regierung steht nach dieser Auffassung im Dienst des Volkes, und ihre Kompetenzen sind limitiert.

Ob John Locke mit dieser Theorie wirklich ein geschichtliches Ereignis umschreiben wollte oder ob es ihm um ein Modell ging, braucht hier nicht beantwortet zu werden. Wichtig ist, dass seine Auffassung von einer vertraglich konstituierten Gesellschaft und einer vertraglich limitierten Herrschaftsgewalt der politischen Führung losgelöst von der «historischen Plausibilität» aktuell geblieben ist. John Locke ist einer der Begründer des Liberalismus. Auch seine Vorstellung über die zwei unabhängig voneinander zuschliessenden Verträge ist im Hinblick auf einen neuen Gesellschaftsvertrag in Europa zukunftsträchtig. Sie hat ihre Nachwirkungen im liberalen Postulat der Trennung von Staat und Gesellschaft und der grundsätzlichen Limitierung des Einflusses, den man dem Staat gegenüber der Gesellschaft und insbesondere gegenüber der Wirtschaft und der Kultur einräumen will.

John Locke vertritt die für die europäische Ideengeschichte bedeutsame Auffassung, dass es zur Natur des Menschen gehört, grundsätzlich für die Besorgung der eigenen Angelegenheiten persönlich zuständig zu sein. Der Staat hat dafür die Voraussetzungen zu garantieren, indem er Leben und Persönlichkeit sowie das Privateigentum schützt (Life, Liberty, Property).

Nach diesem Menschenbild soll die ursprünglich vorhandene Autonomie des mündigen Menschen nur soweit notwendig für die gemeinsame Lösung gemeinsamer Aufgaben an das Gemeinwesen delegiert werden. Die Übertragung erfolgt zudem durch freiwillig eingegangene Verpflichtungen, welche weder total noch unwiderruflich sind.

Sie soll zudem offen sein für eine dauernde Überprüfung auf die Übereinstimmung mit den eigenen Bedürfnissen und Interessen. Der Staat ist aus dieser Sicht für die Menschen und durch die Menschen geschaffen und nicht die Menschen für den Staat. John Lockes Vorstellung vom Herrschaftsvertrag hat noch eine weitere Komponente. Der Herrscher und seine Auftraggeber sind nicht gleichberechtigt. Das Volk bestimmt über die Fortdauer oder den Entzug des Vertrauens, wenn es einen Machtmissbrauch feststellt.

These 1:
Der neue Gesellschaftsvertrag soll an die von John Locke beschriebene Zweistufigkeit der Übereinkunft anknüpfen und die Abgrenzung von Staat und Gesellschaft zu einem seiner Haupttraktanden machen. Gesellschaftsvertrag und Herrschaftsvertrag sind grundsätzlich auseinanderzuhalten, aber aufeinander abzustimmen, weil sie sich gegenseitig bedingen.
These 2:
Der Gesellschaftsvertrag basiert auf ungeschriebenen, allgemein anerkannten ethischen Prinzipien, die nicht von Staates wegen erzwungen werden können. Er ist nicht notwendigerweise zu kodifizieren.
These 3:
Der Herrschaftsvertrag, d.h. das politische Pendant zum Gesellschaftsvertrag hat die Funktion, die politische Herrschaft grundsätzlich zu limitieren und eine Vermutung zugunsten von Privatautonomie und Privateigentum festzuhalten. Er ist sorgfältig auszuhandeln und als Dokument zu verabschieden. (Beispiel: Magna Charta Libertatum).
These 4:
Der Herrschaftsvertrag muss einseitig kündbar sein, wenn das auftraggebende Volk einen Machtmissbrauch feststellt oder vermutet. Zur Diskussion des liberalen Ansatzes von Locke:
  • Menschenbild
    Das optimistische, auf einer vorbestehenden natürlichen Autonomie des mündigen Menschen basierende Menschenbild und auf seinem freiwilligen teilweisen Verzicht auf den natürlichen Egoismus zugunsten der Allgemeinheit ist nicht unbestritten. Die Auffassung, dass der Mensch eine natürliche Neigung zur friedlichen Vergesellschaftung habe, lässt sich empirisch im Lauf der Geschichte nicht nachweisen. Trotzdem kann sie als Idee eine zukünftige Wirklichkeit mitgestalten. Im Lauf der Ideengeschichte ist demgegenüber immer wieder die grundsätzliche Bedürftigkeit des Menschen nach Erziehung, nach Führung und nach Erlösung vertreten worden. Diese verleiht politischen und religiösen Institutionen die Zuständigkeit, den Menschen nach bestimmten Zielvorstellungen zu formen und gegebenenfalls einen «besseren Menschen» hervorzubringen, indem – mindestens für eine Zwischenzeit – der kollektive Zwang die Selbstbestimmung ersetzt. Allerdings ist es nie gelungen, über die Zielvorstellung des «besseren Menschen» Einigkeit zu erlangen.
  • Tatsächliche Verflechtung
    Staat und Gesellschaft sind heute stark miteinander vernetzt. Die Wirtschaft ist über das Recht, die Infrastruktur, das Fiskal- und das Sozialversicherungssystem eng mit dem Staat verflochten und umgekehrt. Auch terminologisch bereitet es Schwierigkeiten, Rechtsstaat, Volk und Nation. (Etat de droit, peuple et nation) abzugrenzen. Eine Unterscheidung und eine Trennung ist daher mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
    Sie ist umso eher möglich, als eine Entflechtung stattfindet. Das politische System (l’état de droit) sollte aus der unendlichen Komplexität von wirtschaftlichen und sozialen Organismen ausgegrenzt werden, damit seine Aufgaben definiert und limitiert werden können. Nur eine Limitierung kann ein dauerhaftes Funktionieren des Staates sicherstellen und eine strukturelle und finanzielle Überforderungskrise verhindern.
  • Überlappende Realitäten und Kriterien
    Alles, was nicht notwendigerweise Bestandteil des politischen Systems sein muss, gehört dem Bereich der Gesellschaft an. Eine sinnvolle Unterteilung des Bereichs «Gesellschaft» in wirtschaftliche, kulturelle und soziale Unterbereiche scheitert an den Überlappungen und Überschneidungen in der Realität sowie an der Unmöglichkeit, allgemein akzeptierte Unterscheidungskriterien zu finden. Letztlich ist es eine Frage der Betrachtungsweise und der ideologisch (und auch national) unterschiedlichen Optiken, was als «kulturell», als «sozial» oder als «ökonomisch» gedeutet wird und was in einem engeren oder weiteren Sinn darunter zu verstehen ist. Die Erzielung eines diesbezüglichen gesamteuropäischen Konsenses ist weder notwendig, noch möglich, noch wünschenswert und sollte darum nicht angestrebt werden.

Rousseaus totalitäre Demokratie

Ideengeschichtlicher Hintergrund

Auch Rousseau glaubt an einen vorbestehenden Naturzustand, der Ausgangspunkt seines «Contrat social» ist. Er lehnt aber die von Locke vorgeschlagene Unterscheidung von berechtigten Eigeninteressen und einer nur partiellen vertraglichen Vergesellschaftung à la carte als unmoralisch ab und bezeichnet die Unterscheidung eines Gesellschaftsvertrags und eines Herrschaftsvertrags als unmöglich.

Entscheidend ist bei ihm für das Zustandekommen des «Contrat social» die gemeinsame und totale Aufgabe seiner Rechte aus dem Naturzustand. Der Bürger geht «ohne Rest» total in den Staat ein. «Ces clauses, bien entendu, se réproduisent toutes à une exeption seule:
à savoir l’ aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute communauté. Car, premièrement, chacun se donnant tout entier, la condition est égale pour tous; et la condition étant égale pour tous, nul n’a interêt de la rendre onéreuse aux autres.»

These 5:
Das im Begriff «Contrat social» enthaltene Adjektiv «social» ist unpräzis und
missverständlich. Es kann präskriptiv und normativ einen «neuen sozialen Menschen» bzw. einen der «ursprünglichen Menschennatur» entsprechenden Menschen bezeichnen. Es kann auch deskriptiv wie die deutsche Übersetzung «gesellschaftlich», «gesellschaftsbezogen» völlig neutral aufgefasst werden. Er kann aber auch mit qualitativen Elementen angefüllt werden, die eine besondere Zuwendung zu Benachteiligten suggerieren oder eine egalitäre Zielsetzung durch Umverteilung anstreben.
These 6:
Perfektionistische und radikale und utopische Konzeptionen haben eine Tendenz zum Totalitarismus und münden bei ihrer Realisierung in den Teufelskreis der Gewalt, wenn sie zur Erreichung ihrer Ziele ( z.B. freie Gemeinschaft freier Menschen) temporär auch Mittel des Zwangs zulassen, welche angeblich durch die «edlen Zwecke» geheiligt werden.
These 7:
Das «neue Europa» soll nicht auf einen »neuen europäischen Menschen» ausgerichtet sein, den es mit politischen Mitteln «herbeizuführen gilt», sondern auf die Menschen, wie sie heute in Europa leben. Ein europäischer Gesellschaftsvertrag appelliert nicht an einen willentlichen Gründungsakt, bei dem sich vielfältige Einzelinteressen zu einer egalitären
«volonté générale Européen» vereinigen, sondern basiert auf einer naturgemäss begrenzten Bereitschaft zum begrenzten Verzicht im Hinblick auf gemeinsame Vorteile, die unter Beibehaltung und Tolerierung von Unterschieden und Vielfalt eingebracht wird.
These 8:
Ein neuer Gesellschaftsvertrag für Europa soll gegenseitige politisch bedingte Diskriminierungen durch Deregulierung abbauen, aber auf eine unnötige Harmonisierung von Rechtsnormen und Lebensverhältnissen verzichten.

Zur Diskussion des totalitären Ansatzes von Rousseau – Missbrauch des Vertragsbegriffs

Die Bezeichnung «contrat» für den kollektiven Willensakt der totalen Selbstaufgabe ist problematisch. Nach geltendem Zivilrecht wäre eine solche totale Selbstaufgabe nichtig. Pointiert lässt sich sagen, «que le Contrat Social de Rousseau n’ est ni contrat ni social.» Ursprünglich wollte Rousseau sein Werk mit dem neutralen Titel «De la société civile» versehen. Unter «société civile» versteht er allerdings etwas völlig anderes als wir heute darunter verstehen. Sie umfasst für Rousseau gerade nicht die zivilen und zivilrechtlichen Belange, sondern den ganzen Menschen, mit all seinen Aktivitäten und Bestrebungen. Der «contrat social» verbindet die Bürger mit einem allumfassenden «lien social» und stellt das moralische Verhalten ins Zentrum. Ausserhalb dieses «lien social» gibt es keine
menschlichen Aktivitäten, da letztlich alles radikal von der Politik abhängt. Der einzelne bringt die absolute Freiheit ein und befähigt damit den Staat, «in absoluter Freiheit« alles zu tun.

  • Totale Gemeinschaft, Privatheit und Privatismus
    Rousseau kritisiert jene Mentalität, die in einer abgegrenzten Privatsphäre als «bourgeois» ein persönliches Glück nach einer «volonté particulière» anstrebt. Er fordert im letzten Kapitel sogar eine vom Staat verordnete und mit Todesstrafe geschützte «religion civile» des «citoyen» und hält damit jene Zwangsmittel bereit, welche die «volonté générale» sozialverbindlich durchsetzen.

Rousseau gesteht ein, dass sein Konzept auf eine kleine Gemeinschaft ausgerichtet ist und im grösseren Rahmen nicht praktizierbar ist.

  • Evolution, Revolution
    Rousseaus Konzeption ist egalitär, revolutionär und totalitär. Er lehnt die Idee eines bereits vorhandenen unvollkommenen Vertragszustands ab und geht von einer Ausgangslage der totalen Korruption durch die Herrschenden und Reichen aus, die es mit einem willentlichen Kraftakt einer Gründergeneration total zu verändern gilt – ein Ausstieg aus einer
    verdorbenen Realität als Voraussetzung für einen gemeinsamen Einstieg in ein gemeinsames zukünftiges Glück, bei dem sich die Menschen zwar zunächst gegenseitig zur Freiheit zwingen, aber schliesslich in einen Zustand der Übereinstimmung eingehen, in dem sie nur noch den Gesetzen gehorchen, die sie sich selbst gegeben haben. «C’est à la Loi seule que les hommes doivent la justice et la liberté; c’est cet organe salutaire de la volonte de tous qui retablit dans le droit l’égalite naturelle entre les hommes et c’est cet voix céleste qui dicte a chaque citoyen les préceptes de la raison publique, et lui apprend à agir selon les maximes de son propre jugement, et à n’être pas en contradiction avec lui-même»
    (Economie politique).
  • Utopie als Heilmittel und Gift
    Der radikale Mut, mit dem sich Rousseau geweigert hat, mit dem feudalistischen status quo seiner Zeit Kompromisse einzugehen, verdient auch heute noch Anerkennung. Seine schonungslose Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und seine scharfsinnige Abrechnung mit bisherigen Therapievorschlägen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine eigenen Vorschläge voll eklatanter und gefährlicher Schwächen sind. In den Erwartungen, die er in seinen «contrat social» setzt, zeigt sich eine eigentümliche Mischung von anthropologischem und historischem Realismus und von sozialer Mystik, eine Mischung, die sich in ihrer Wirkung im Lauf der Geschichte selten als Heilmittel und häufig als Gift erwiesen hat. Rousseau ist gegenüber der Menschennatur optimistisch. Sie ist seiner Auffassung nach gut, wenn sie nicht durch verfehlte Erziehung und durch versklavende politische Strukturen verfälscht würde. Seine radikale Kritik gilt den bestehenden politischen Strukturen, die den Menschen so deformieren, dass eine totale Wiedererzeugung des ursprünglichen Menschen notwendig wird, die gemeinsam erzwungen werden soll. Diese Betrachtungsweise ist vor allem für zwei Menschgruppen attraktiv: einerseits für alle, die sich über unzulängliche Verhältnisse ärgern, die sich benachteiligt fühlen, Neid empfinden und frustriert sind, andererseits für alle, die sich über unzulängliche Mitmenschen ärgern und sich berufen fühlen, den andern beizubringen, was ihre «ursprüngliche Natur» sei, ihre «wahren Bedürfnisse» und ihr «richtiges Bewusstsein».

Rousseau gibt zu, dass seine Ideen nicht direkt umsetzbar sind und «eine Gesellschaft von Engeln» voraussetzen.

Kant: Gesellschaftsvertrag als Friedensvertrag

«Ewiger Friede» als Bedingung und Folge des kulturellen Fortschritts

Ideengeschichtlicher Hintergrund

Kant hat sich intensiv mit Rousseau befasst, und Rousseaus Portrait hing in seinem Arbeitszimmer. Was ihn an Rousseau faszinierte, war u. a. die Kritik an der absolutistischen Vorstellung eines rational konstruierten, hierarchisch aufgebauten Obrigkeitsstaates. Die «Confessions» betrachtete er als ein Dokument der mündigen und kritischen Selbstdarstellung, ein öffentliches Raisonnieren über den Ursprung der Urteile und Vorurteile. Rousseau ist aus dieser Sicht nicht ein Widerpart, sondern ein Promotor der
Aufklärung im Sinne Kants.

Für Kant steht der Rechtsstaat, der mit seinem öffentlichen Recht ein allgemeinverbindliches «ethisches Minimum» garantiert, im Zentrum. Die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung, des Privateigentums und der Privatautonomie ganz allgemein bilden die Hauptaufgabe des Staates. Das Recht kann nach Kants Auffassung als «Friedensordnung» nicht autoritär verordnet werden, es muss in einem Prozess des «öffentlichen Raisonnierens» die Gründe seiner allgemeinen Anerkennung selbst hervorbringen.

These 9:
Der Herrschaftsvertrag als das öffentlich-rechtliche «politische Kapitel» des Gesellschaftsvertrags hat die Funktion, politische Herrschaft durch das Prinzip der Öffentlichkeit und durch verfassungsmässige Rechte grundsätzlich zu limitieren und eine Vermutung zugunsten von Privatautonomie und Privateigentum festzuhalten.

Auch für Kant ist der Staat durch einen Vertrag entstanden. Die Menschen sind durch ihre «ungesellige Geselligkeit» charakterisiert. Sowohl der Hang, sich zu vereinzeln, als auch der Hang, sich zu vergesellschaften, sind positiv zu bewerten. Daher müssen alle mit allen vereinbaren, sich einem staatlichen Zwang zu unterwerfen, der die Freiheit in einem
Ordnungsrahmen garantiert, sodass die Freiheit der einen nicht die Freiheit der andern stört und zerstört. Analog zum Naturzustand ohne vereinbarte gegenseitige Rechte und Pflichten, in dem sich die einzelnen Menschen zunächst gegenübertreten, gibt es auch einen «Naturzustand» zwischen Staaten. Dieser rechtlose Naturzustand droht dauernd in Kriege überzugehen. Kriege entsprechen aber nicht dem vernünftigen Willen der Völker, und daher ist die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht von den Regierungen, sondern von den Völkern zu treffen. Um im Innern der Staaten eine friedliche Ordnung aufrecht erhalten zu können, ist es notwendig, auch eine äussere Ordnung des Friedens, idealerweise einen «ewigen Frieden», zu vereinbaren und zu gewährleisten.

Das Völkerrecht muss – wie alles allgemeinverbindliche Recht – in einem öffentlichen Prozess der Willensbildung entstehen. Der «jedem das seine» bestimmende allgemeine Wille muss allgemein publik und auch allgemein akzeptiert sein. Er darf sich nicht auf Zwangsgesetze gründen. Das Völkerrecht führt daher bestenfalls zu einer «fortwährend freien Assoziation». Ein «freier Föderalismus» setzt grundsätzlich freie, autonome Staaten voraus, deren Bund «auf keinen Erwerb irgendeiner Macht des Staates, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit… ohne dass diese sich deshalb öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben unterwerfen dürfen.»
(Kant: «Zum ewigen Frieden»)

These 10:
Der Vertrag, mit dem sich die Staaten Europas verbinden, hat ein einziges zentrales Motiv: den Frieden, d.h. untereinander und zusammen gegen andere Staaten sich im Frieden zu erhalten und keinesfalls Erwerbungen zu machen. Der systematische Aufbau und Ausbau weiterer Gemeinsamkeiten mag auf den ersten Blick erwünscht sein, kann aber früher oder später zu Differenzen führen, welche das Grundanliegen des Friedens gefährden. Die europäische Idee, die auf Vielfalt beruht, wird durch ein Zuviel an Gemeinsamkeit mehr gefährdet als durch eine Beschränkung auf das wirklich notwendig Gemeinsame.

Zur Diskussion von Kants Ansatz

Kant beurteilt zwar die Menschen kritisch, glaubt aber, dass sich das Vernünftige, Gute schliesslich durchsetzt, wenn man die entsprechenden Bedingungen schafft und Hindernisse aus dem Weg räumt. Sein Glaube an die grundsätzlich «friedliebende Natur» der Völker ist im 19. und 20. Jahrhundert erschüttert worden. Auch seine Überzeugung, dass es objektiv gar keinen Streit zwischen Moral und Politik gebe und dass der selbstsüchtige Hang der
Menschen, weil er letztlich unvernünftig sei, im Rahmen einer «immer fortschreitenden Kultur» schliesslich überwunden werden könne, entspricht nicht den Erfahrungen der
nachaufklärerischen Zeit. Gerade wenn man aber den Fortschrittsoptimismus im Bereich von Politik und Moral skeptisch beurteilt, muss man die Zurückhaltung, die selbst der
fortschrittsgläubige Kant gegenüber grossen und intensiven Staatenverbindungen hatte, besonders ernst nehmen. Kant hatte gute Gründe, bei den von ihm geforderten völkerrechtlich-vertraglichen Gemeinsamkeiten von einem Minimum auszugehen, das für ihn gleichzeitig schon das Optimum war.

Personalität, Subsidiarität, Solidarität

Ideengeschichtlicher Hintergrund

Die Abgrenzung von Staat und Gesellschaft hat neben der antiken und aufklärerischen Wurzel auch einen Ursprung in der katholischen Soziallehre, die von drei Prinzipien ausgeht: dem Personalitätsprinzip, dem Subsidiaritätsprinzip und dem Solidaritätsprinzip. Das Personalitätsprinzip knüpft an die Würde der menschlichen Person an, die nach jüdisch-christlicher Auffassung darauf beruht, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen worden ist. Die Würde des Menschen verlangt, dass er in bewusster und freier Wahl handle, d.h. personal und nicht unter blossem äussern Zwang. Die Personalität ist eine Voraussetzung für die Verantwortung des Menschen vor Gott und für die Fähigkeit, sich persönlich für das Gute oder für das Böse zu entscheiden. Das Solidaritätsprinzip appelliert an die Bereitschaft des Menschen zur Hilfe an Bedürftige. «Solidarisch sein heisst, die Last eines andern Menschen tragen.» (Josef Tischner, Ethik der Solidarität, aus dem Polnischen, Graz 1982). Solidarität im ursprünglichen Sinn erwächst aus dem guten Willen und erweckt wiederum guten Willen. Das Fundament der Solidarität ist das individuell-persönliche menschliche Gewissen, und sie kann und soll daher weder rechtlich noch politisch erzwungen werden. Die Politik kann höchstens die Voraussetzungen garantieren, unter denen das Gewissen wirksam werden kann, und sie vermag zu verhindern, dass eine kollektiv erzwungene Versorgung den Appell an das Gewissen überflüssig macht. Das Subsidiaritätsprinzip, welches zwischen Personalität und Solidarität vermittelt, setzt die Trennung von Staat und Gesellschaft voraus und formuliert das Kriterium der Abgrenzung bei der Zuweisung von Aufgaben.

In der klassischen Formulierung, dass die grössere Gemeinschaft nur Aufgaben übernehmen müsse, die von der kleineren bzw. vom Individuum nicht befriedigend gelöst werden können, ist es zu unbestimmt.

Das Subsidiaritätsprinzip weist – mit einem andern Motiv als der Liberalismus von John Locke – auf die Bedeutung einer Trennung von Staat und Gesellschaft hin und verlangt eine Abgrenzung von Individuum und Gemeinschaft.

These 11:
Der Gesellschaftsvertrag ist gegenüber privatautonomen Verträgen subsidiär. Alles, was privatautonom gelöst werden kann, darf nicht Gegenstand des Gesellschaftsvertrages werden. Im Zweifel entscheide man sich für die Privatautonomie.
These 12:
Für einen neuen Gesellschaftsvertrag ist nicht die Abgrenzung zwischen verschiedenen Stufen in der politischen Hierarchie der Hoheitsträger (Gemeinde, Region, Nationalstaat, Europäische Gemeinschaft) das Wesentlichste, sondern die Vermutung zugunsten der Privatautonomie und der Appell an eine Solidarität aus Gewissensgründen, die nicht
zwangsweise verordnet werden soll.
These 13:
Die politische Gemeinschaft, welche in erster Linie Ordnung gewährleistet, ist für die Wahrnehmung sozialer Aufgaben im Sinn des Ethischen, Mitmenschlichen ungeeignet. Der politische Teil des Gesellschaftsvertrages ist in erster Linie ein Vertrag zur Limitierung von politischer Herrschaft.
These 14:
Der neue Gesellschaftsvertrag muss sorgfältig unterscheiden zwischen der deskriptiven und der caritativen Bedeutung des Begriffs «sozial». Der caritative Kern des Sozialen wird vom persönlichen Gewissen bestimmt und kann von aussen nicht erzwungen werden.
These 15:
Das «Soziale» im Sinn der Mitmenschlichkeit ist zwar Gegenstand des allgemeinen, nicht kodifizierten Gesellschaftsvertrages, es hat aber in einem verfassungsmässigen und schriftlich fi-xierten europäischen Herrschaftsvertrag nichts zu suchen.

Zur Diskussion des christlich-sozialen Ansatzes

Solidarität wird im heutigen politischen, Sprachgebrauch nicht im individualethischen Sinn verwendet, der vom Prinzip der Freiwilligkeit ausgeht. Im Gegenteil, sie wird im Umfeld der Verteilungsgerechtigkeit angesiedelt. Damit löst sie – gewollt oder ungewollt – immer auch die Diskussion um die Gerechtigkeit aus. Diese Diskussion gehört zum Wesen der Politik, sie ist aber auch einer der Gründe, warum sich Politik oft in uferlose ideologische Polemik und Rhetorik verirrt. Seit der Mensch in organisierten Gruppen lebt, gibt es verschiedenste Auffassungen von Gerechtigkeit, und die diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten sind die Ursache von Neid, Hass und Feindschaft.

Die politischen Verfechter von «mehr» und «besserer» Gerechtigkeit vertreten ihre in einem religiösen oder politischen Glaubensbekenntnis verankerten Anliegen meist mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Allgemeingültigkeit und begründen damit einen ungerechtfertigten Anspruch auf Verbindlichkeit – auch für jene, welche diesen Glauben nicht teilen und andere Auffassungen vertreten. Die Hauptschwäche der christlichen Soziallehre ist aus liberaler Sicht nicht ihre Abstützung auf Gewissheiten des Glaubens, sondern der meist uneingestandene Einbezug der zeitgebundenen sozialwissenschaftlichen und ideologischen Moden. Diese Vermengung von «Glauben» und «Wissen» verunmöglicht auch eine logisch einwandfreie Abgrenzung von Bekenntnis und Erkenntnis, die als gleichwertigen, aber wesentlich verschiedene Bereiche anzusehen sind. Erkenntnisse können in einem öffentlichen Verfahren kollektiv überprüft werden, während Bekenntnisse auf tradierten und persönlich erarbeiteten Überzeugungen beruhen.

Burke und seine konservative Vorstellung von der gesellschaftlichen Evolution

Ideengeschichtlicher Hintergrund

Eine weitere Facette des Begriffs «Gesellschaftsvertrag» findet sich bei Burke. «Society is indeed a contract but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born. Each contract of each particular state is but a clause in the great primaeval contract of eternal society, linking the lower with the higher natures, connecting the visible and invisible world, according to a fixed compact sanctioned by the inviolable oath which holds all physical and moral natures, each in their appointed place.»

Wie bei Rousseau ist auch bei Burke die Verwendung des Begriffs «Vertrag» fragwürdig. Es fehlt das Element der bewussten willentlichen Übereinkunft zwischen real existierenden Menschen. Trotzdem ist der Ansatz von Burke zukunftsträchtig. Er macht uns auf die Dimension des historisch gewachsenen, gemeinsamen kulturellen und ethischen Erbes aufmerksam, auf die Notwendigkeit eines Grundkonsenses in der Gesellschaft, auf dem die vielen Gruppen- und Einzelverträge aufbauen. Es handelt sich um den nirgends ausdrücklich fixierten «Vertrag der Verträge», der etwa in den römisch-rechtlichen Formeln «pacta sunt servanda» und «neminem laedere», in der angelsächsischen «rule of law», in der französischen Erklärung der Menschenrechte, im amerikanischen Grundsatz «no taxation without representation», in der Regel «nulla poena sine lege» und in der strafrechtlichen Unschuldsvermutung zum Ausdruck kommt.

These 16:
Der neue Gesellschaftsvertrag kann nur Bestand haben, wenn er auf der Basis von geschichtlich gewachsenen Werten aufbaut. Das europäische Erbe an gemeinsamen Werten ist kein «ewiges Kapital», das ohne zusätzlichen geistigen Effort nur noch passiv zu konservieren und zu verwalten wäre.

Es muss in gemeinsamer geistiger Auseinandersetzung von der Elite der kooperationsfähigen und kooperationswilligen Menschen in Europa immer wieder erarbeitet werden, wobei der vorhandene historische Fundus an Erfahrungen besser zu nutzen ist.

Der Gesellschaftsvertrag wird schon bei Locke immer wieder mit dem Begriff «compact» bezeichnet (seltener mit «contract» und nie mit «treaty»). Im Wort «compact» steckt das lateinische «pactum», das sprachlich mit «pax» /Frieden (im Sinn eines gefestigten, meist erzwungenen Zustands) zusammenhängt.

Während die Französische Revolution die Freiheit in Verbindung mit Gleichheit und Brüderlichkeit postulierte und mit der Guillotine und der gewaltsamen «levée en masse» durchzusetzen versuchte, wurde unter anderem von Burke eine schrittweise friedliche Verbesserung und Transformation der Gesellschaft propagiert, welche Freiheit nicht aus Gleichheit ableitet und nicht mit Gleichheit verbindet, sondern Freiheit durch Frieden unter Vielfältigen und Ungleichen, eben durch einen «compact» hervorbringt und
weiterentwickelt. Adam Smith hat als Voraussetzung eines zivilisierten Gemeinwesens folgendes festgehalten : peace, easy taxes and tolerable justice.

These 17:
Die Freiheit kann nicht durch das Versprechen von mehr Gleichheit gefördert werden und durch einen Zwangsapparat der Umverteilung, sondern durch den Frieden unter Vielfältigen und Ungleichen, die ihre eigenen Interessen in einem friedlichen Wettbewerb verfolgen, ohne einander Schaden zuzufügen.

Zur Diskussion des konservativen Ansatzes von Burke

Der auf die Evolutionsidee abgestützte Historismus von Burke ist die Quintessenz der Kritik an der Französischen Revolution. Die Schwäche des konservativen Ansatzes ist, dass er als Ideologie der Rechtfertigung für den status quo der Machtverteilung missbraucht werden kann und immer wieder missbraucht worden ist. Der Rückblick in die Geschichte kann
einerseits wertvolle Erfahrungen und Erklärungen vermitteln, er kann aber auch gefährliche Rechtfertigungen stützen. In einer Zeit dynamischer Veränderungen kann der politische Konservativismus dazu führen, dass notwendige Innovationen und Anpassungsschritte verzögert, verpasst oder vereitelt werden.

Burke ist beizupflichten, wenn er – in Übereinstimmung mit Rousseau – feststellt, dass keine Gesellschaft und keine Nation allein durch einen bewussten Willensakt von Individuen geschaffen werden könne.

Eine zentrale Rolle spielen dabei tradierte Verhaltensmuster, das Wirken führender Persönlichkeiten und die Gunst von natürlichen, machtpolitischen und ökonomischen Konstellationen, alles Voraussetzungen die nicht rational planbar sind.

Für das Schliessen eines Vertrags braucht es definierbare Vertragspartner, die in der Lage sind, einen gemeinsamen Willen zu bilden und zu äussern. Damit ist das Problem des Zusammenhangs von Gesellschaft, Nation und Nationalstaat angesprochen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, was uns berechtigt, von «der» Gesellschaft in Europa zu reden und ob es sinnvoll sei, ihr einen kollektiven Vertragswillen zuzuschreiben. Die europäische Gesellschaft ist in hohem Ausmass heterogen und auch territorial gegen aussen schwer abgrenzbar. Ohne sorgfältige Überlegungen zu dem, was uns als Gesellschaft in Europa trennt und was uns verbindet, und zur Frage «Was gehört zu Europa?» hängt das Postulat eines neuen Gesellschaftsvertrags für Europa in der Luft. Was «die Gesellschaft» «gemeinsam will», ist wohl positiv kaum je mit genügender Präzision zu ermitteln.

Möglicherweise kann aber auch eine sehr heterogene Gesellschaft doch das artikulieren, was sie – ebenfalls gemeinsam – nicht will. Dieses gemeinsame Nichtwollen kann sowohl rationale als auch emotionale Wurzeln haben. Aus dieser Ermittlung des gemeinsam Abgelehnten könnte jene «Operation» hervorgehen, welche – trotz allen Schwierigkeiten –den Staat von der Gesellschaft und ihren nicht-staatlichen Bereichen abgrenzt. Es zeigt sich hier – mit noch einmal anderen Motiven als bei Locke und bei der christlichen Soziallehre – die Bedeutung dieser Abgrenzung.

These 18:
Die Politik steht vor der Aufgabe, auf die raschen Entwicklungen der Ökonomie und der technischen Zivilisation zu reagieren und gleichzeitig den langsamen Entwicklungen in der Kultur mitmenschlicher Beziehungen Rechnung zu tragen.
These 19:
Der neue Gesellschaftsvertrag ist auf dem Grundwert des Friedens in Vielfalt, des flexiblen kooperativen Nebeneinanders von möglichst eigenständigen gleichberechtigten Partnern und auf der Idee der Freizügigkeit und des freiwilligen Austauschs von Ideen, Waren und Dienstleistungen aufzubauen.
These 20:
Die in der deutschsprachigen Schweiz traditionell verankerte Bezeichnung für «Confédération» = Eidgenossenschaft bringt zum Ausdruck, auf welchen Elementen ein neuer Gesellschaftsvertrag in Europa zu beruhen hätte. Auf dem gemeinsamen Eid (im Sinne von Burke) über gemeinsame Grundwerte und über die Verpflichtung auf das gemeinsame historische kulturelle Erbe und auf der Idee der Genossenschaft als einer ökonomischen und ökologischen Gemeinschaft von produzierenden und konsumierenden, von kreativen, geniessenden und sich gegenseitig helfenden Menschen, welche auf eine gewaltsame Lösung von Konflikten verzichten.
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