(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1995 – Seite 21-24)
DOSSIER
Robert Nef
Die Verteilung und Umverteilung von Gütern und Dienstleistungen steht in einem engen und oft spannungsgeladenen Zusammenhang mit der Ausübung von politischer Herrschaft. Es geht in den folgenden Ausführungen darum, aufzuzeigen, warum dieser Zusammenhang vor allem in einer Demokratie fatal werden kann.
Wer aus politischer und aus sozialer Sicht als Kritiker der Umverteilung auftritt, kann mindestens drei Motive haben: Er kann, erstens, die Auffassung vertreten, dass Umverteilung durch den Staat ein falsches Ziel sei. Diese Auffassung ist ihrem Wesen nach ideologisch. Sie ftagt nach der moralischen Berechtigung, nach der Gerechtigkeit: «Is it right?», «is it just?» Er kann, zweitens, die Auffassung vertreten, dass das Ziel zwar richtig sei, dass aber die Mittel, die bis heute bekannt sind und angewendet werden, nichts taugen und allenfalls sogar kontraproduktiv wirken. Diese Auffassung ist ihrem Wesen nach finanztechnisch, d. h. technokratisch. Sie fragt: Funktioniert es?, «Does it work?» Er kann, drittens, die Meinung vertreten, dass die politischen und sozialen Kosten, die mit det Verfolgung des Ziels verbunden sind, höher seien als der allfällige Nutzen. Diese Auffassung ist ihrem Wesen nach ökonomisch. Sie fragt: Zahlt es sich aus, lohnt es sich? «Does it pay?»
Die erste, vorwiegend ideologische Frage soll aber hier nicht einfach ausgeklammert bleiben, obwohl die beiden andern Fragen auch unabhängig davon diskutiert und beantwortet werden können.
Spontane oder erzwungene Hilfe?
Wirtschaftliche Umverteilung als Bestandteil einer persönlichen Hilfe halte ich für eine gute Sache. Eine grosse Zahl von Menschen ist spontan bereit, Schwächeren zu helfen und die eigenen Kräfte und Finanzen auch im Dienste Bedürftiger einzusetzen. Die Bereitschaft ist um so grösser und um so sicherer, als es sich um Familienmitglieder, um Nachbarn oder um persönlich Bekannte handelt.
Institutionalisierte Umverteilung durch Steuern beruht auf staatlichem Zwang, und dieser ist als Mittel der Vergesellschaftung problematisch. Der Staat kann zwangsweise bestenfalls sozialschädliches Verhalten bestrafen, versagt aber, wenn es darum geht, auf die Dauer Nützliches und Gutes zu erzwingen. Was spielt sich bei der Umverteilung durch den Staat wirklich ab? Der Staat nimmt aufgrund einer politischen Kompetenz reicheren Personen Teile ihres Einkommens bzw. ihres Vermögens weg und verteilt sie direkt oder in Form von Vergünstigungen aller Art an bedürftigere Personen.
Beteiligt sind an diesem Prozess drei Personengruppen: die Gruppe derjenigen, denen etwas weggenommen wird, die Gruppe derjenigen die etwas erhalten und die — entscheidende aber oft übersehene — Gruppe des Apparats, der die Verteilung vornimmt: Politiker und Bürokraten.
Vielfältige und zweifelhafte Motive
Das echte oder oft auch nur vorgegebene Motiv der Umverteilung ist die Verbesserung der Gerechtigkeit, also ein soziales Motiv. Das soziale Motiv ist in Gesellschaften mit grossen Gruppen von echt Bedürftigen deutlich sichtbar. Je höher der allgemeine Lebensstandard steigt, desto mehr geht es nur noch um relative Armut und um den Ausgleich relativer Ungleichheiten, d. h. den durch Neid verursachten Wunsch nach Umverteilung.
Daneben gibt es auch politische Motive det Umverteilung. Dass die Umverteilung nicht nur bei der Gruppe der Empfänger politisch attraktiv ist, sondern auch eine auf den ersten Blick erstaunliche Akzeptanz hat bei den Reichen, beruht auf der politischen Funktion der Umverteilung. Offeriert wird einerseits — echt oder vermeintlich – «mehr Gerechtigkeit» und eingehandelt witd — ebenfalls echt oder vermeintlich – «sozialer Friede». Der Reiche empfindet die Umverteilung als eine Art «Versicherungsprämie» gegen soziale Unruhen, gegen revolutionäre Strömungen. Gleichzeitig entlastet er sich moralisch von einer persönlichen Pflicht des spontanen Umverteilens, indem er Argumente bekommt, er habe durch die erzwungene Umverteilung gleichzeitig auch alle ethischen Pflichten schon erfüllt.
Wer diese Zusammenhänge beobachtet und die Frage stellt: «Does it work?» wird auf den ersten Blick sagen müssen: Ja, es funktioniert, und für einige Zeit sogar perfekt. Aber der Prozess ist nicht dauerhaft praktizierbar. Es gibt nämlich in keinem Staat nur jene zwei Gruppen, die Reichen und die Armen, es gibt immer auch die beiden Zwischengruppen: die relativ Armen und die relativ Reichen, und diese beiden Gruppen sind für die dauerhafte Existenz eines Staates von entscheidender Bedeutung. Während die wirklich Reichen durch die Umverteilung zwar belästigt, aber nicht wirklich beeinträchtigt werden und mit der Vorstellung einer «Versicherungesprämie gegen Revolutionen» und der Entlastung vom schlechten Gewissen sehr gut leben können, ohne ihren Lebensstandard senken zu müssen, werden die relativ Reichen durch eine hohe staatliche Umverteilung übet Steuern im Kern getroffen. Sie wehren sich auch, wenn sie sehen, dass die Umverteilung gar nicht an die kleine Gruppe der Bedürftigsten geht, sondern an die grosse Gruppe der relativ Armen, die sich nur wenig von ihnen unterscheiden. Der Anreiz steigt dann, schliesslich auch zur Gruppe der Empfänger zu gehören, welche früher oder später die in einer Demokratie wichtige Quote von 50 Prozent übersteigt.
Der «obere Mittelstand», der politisch und ökonomisch alles tragen sollte, wird zutode besteuert.
Dieses Problem wird noch dadurch verschärft, dass die ganz Reichen über grössere – auch legale — Möglichkeiten verfügen, sich der Besteuerung zu entziehen als diese «mittlere Gruppe» von «relativ Reichen» im «oberen Mittelstand», so dass die Fiskalbelastung noch konzentriertet diese Gruppe (die «Milchkühe der Nation») betrifft. Wenn immer weniger Leute immer höhere Lasten tragen müssen und sich die am meisten belastbaren Reichen legal oder illegal aus der Affäre ziehen, ist der Teufelskreis perfekt. Der «obere Mittelstand», der politisch und ökonomisch alles tragen sollte, wird zutode besteuert, und es bewahrheitet sich der Ausspruch von Churchill: «The power to tax is the power to destroy.» In dieser Situation kippt das System in die galoppietende Verschuldung oder in eine Mischung von Illegalität und Korruption (oder in beides). Damit ist der Teufelskreis der >«Welfarization» und des «Redistributionism» geschlossen: Es funktioniert auf die Dauer nicht.
Je komplexer das Umverteilungssystem ist, desto mehr steigen die Möglichkeiten des politisch populistischen Missbrauchs.
Die technologische Fragestellung «does it work?» kann noch in einer ganz andern Hinsicht gestellt werden. Die Annahme, dass es ohne weiteres möglich sei, die Gruppen der Reichen und der Bedürftigen schlüssig zu ermitteln und dass es in der Folge möglich wäre, die entsprechenden Geldströme durch den Fiskus aus der Tasche der Reichen in die Tasche der wirklich Bedürftigen zu lenken ist nämlich reichlich naiv. Die empirischen Erfahrungen mit Umverteilungssystemen sind alles andere als positiv. Offensichtlich ist es schwierig, in einem Staat die Gruppe der echt Bedürftigen zu ermitteln und sicherzustellen, dass sie wirklich in den Genuss von Leistungen und Vergünstigungen kommen. Vielleicht hat auch niemand ein Interesse daran, dass hier Klarheit herrscht. Je komplexer das Umverteilungssystem ist, desto geringer sind die Chancen einer rationalen Umverteilung, und desto mehr steigen die Möglichkeiten des politisch populistischen Missbrauchs.
Ökonomisch und sozial erfolgreich ist eine Umverteilung nur, wenn sie den wirklich Bedürftigen wirksam zu helfen vermag. Der Erfolg oder Misserfolg hängt ganz wesentlich von der Leistung det dritten Gruppe ab, vom politisch-administrativen System, das den ganzen Prozess steuert und das, mindestens zum Teil, auch selber daran angeschlossen ist. Ein Staatsapparat lebt nämlich nicht von «Luft und Liebe», sondern er zweigt sich seinen Anteil vom Umverteilungsstrom ab.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass dieser Apparat schlimmstenfalls alle Mittel selbst konsumiert, die eigentlich zur Umverteilung vorgesehen gewesen wären, und dass er einen grossen Aufwand betreibt, um dies zu verschleiern.
Das Problem wird noch verschärft durch die Tatsache, dass dieser Apparat in einer Demokratie ja durch politische Kräfte gesteuert und beeinflusst wird und nicht immun ist gegenüber den Forderungen, welche die jeweiligen Wählergruppen in Form von Umverteilungswünschen hegen. Damit fliessen die Umverteilungsströme nicht mehr von den Reichen zu den Bedürftigen, sondern von den «relativ Reichen», die sich nicht wirksam wehren können, zu den politisch gut Organisierten, die damit ihre Lobbies bezahlen.
Umverteilung, etwas ursprünglich ganz Vernünftiges und jedermann Einleuchtendes wird damit zur Hauptursache einer legalen politischen Korruption. Die politischen Kosten sind zu hoch, da in diesem Prozess die Demokratie untergraben wird.
Notwendige Trennung von Staat, Wirtschaft und Kultur
Es gibt gute Gründe, das politische System, das in bestimmten umschriebenen Situationen Gewalt ausüben darf und muss, vom ökonomischen System, das in erster Linie durch Tausch auf Märkten die Bedürfnisbefriedigung sicherstellt, zu trennen und auch nicht zwingend und institutionell mit kulturellen und sozialen Netzen zu verbinden, die den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Kultut gewährleisten. Es sollen nicht dieselben Organisationen verteidigen, strafen, produzieren, verteilen, lehren, helfen, fördern und schenken. Hilfe und Unterstützung sind etwas Ambivalentes. Sie verleihen dem Helfenden Macht und entmündigen oft diejenigen, denen geholfen wird. Das Problem wird verschärft, wenn der Helfende nicht mit eigenen Mitteln, sondern mit Mitteln, die ihm kraft seiner politischen Macht zustehen, d. h. mit Steuergeldern, hilft, fördert und schenkt. Es entsteht eine neue Klasse, welche ihre Macht auf die Steuerhoheit und die Umverteilungsmacht abstützt und sich dafür in einer Demokratie die notwendigen Mehrheiten immer wieder neu erkauft. Dass ein solches System, bei dem immer grössere Mehrheiten zu Lasten von immer kleineren Minderheiten leben wollen, nicht zukunftstauglich ist, braucht wohl nicht betont zu werden.
Umverteilung verleiht denen, welche darüber bestimmen, eine Machtfülle, die zum Missbrauch verleitet.
Eigentlich erübrigt sich bei diesem Befund die ökonomische Fragestellung «does it pay?», lohnt es sich?, denn was nicht funktioniert zahlt sich auch nicht aus. Ich möchte aber doch noch kurz darauf eingehen, weil mit dem Ökonomischen – wie so oft – auch das Ethische verknüpft ist.
Programmierte Pleite zu Lasten der Bedürftigsten
Gehen wir einmal von der Annahme aus, es könnten wiiklich Systeme gefunden werden, welche die Umverteilung wunschgemäss zum Funktionieren bringen. Wären damit die Probleme gelöst? Meine Beobachtungen und Feststellungen über die politischen Kosten der Umverteilung in einer Demokratie münden in die zwar pessimistische aber begründete Voraussage eines finanziellen und politischen Systemzusammenbruchs, der sich entweder dramatisch oder in kleinen Schritten abspielen kann, wenn nicht vorher eine grundlegende Reform des Fiskalsystems und des Rentensystems (Generationenvertrag) erfolgt. (Hier liegt übrigens der wirkliche verfassungsrechtliche Revisionsbedarf, aber dies wird in der Schweiz und in andern westeuropäischen Staaten durch ein aktivistisches kurzfristig ausgerichtetes sozialpolitisches Flick- und Kompromisswerk drapiert…) Ein Zusammenbruch des sozialstaatlichen Versorgungssystems wird die sozial Schwächsten am härtesten treffen. Die Hauptlast eines unkontrollierten Transformationsprozesses tragen die Armen und Ärmsten, und jede politische und wirtschaftliche Massnahme, welche einen «geordneten Rückzug» aus einem Fehlsystem beabsichtigt, ist im besten Sinn sozial, auch wenn sie für grössere Gruppen zunächst mit einem Abbau von «Wohltaten» der Umverteilung verbunden sind. Wer staatliche Umverteilung reduziert, reduziert‘ die Gruppe der total Systemabhängigen und ermöglicht dem Gesamtsystem, den wirklich Bedürftigen dauerhaft zu helfen. Was die immer grösser werdende Gruppe von nicht wirklich hilfebedürftigen Staatsklienten als «asozial» und als «Sozialabbau» kritisiert, ist der wirklich soziale Weg zu einer dauerhaft möglichen Hilfe an die kleine Gruppe der Bedürftigsten.
Die entscheidenden sozialen Kosten liegen nicht in der bereits erwähnten Hypertrophie einer ineffizenten, eigenmächtigen Umverteilungsbürokratie, sondern in der «doppelten Atrophie», welche die Umverteilung bewirkt. Im Vordergrund steht die Atrophie, welche bei jenen entsteht, die sogenannte Nutzniesser der Umverteilung sind. Sie verlieren ihre persönliche Verantwortung für ihr wirtschaftliches und soziales Fortkommen, ihre ökonomische Mündigkeit, und den Anreiz, das Leben aufgrund der eigenen Leistung zu bewältigen. Dauernde Hilfe entmündigt, und sie verschleiert jene Mängel im ökonomischen und sozialen System, welche die Überwindung der Hilfebedürftigkeit ermöglichen sollten. Die Menschengruppe, welche von einem durch staatlichen Zwang gesteuerten Umverteilungssystem abhängt, ist und bleibt diesem politischen System ausgeliefert. Umverteilung ist asozial, weil sie keinen wirklichen Anreiz enthält, die Verhältnisse so zu gestalten, dass die Gruppe der Bedürftigen immer kleiner wird und letzlich verschwindet.
Eine zweite Art der Atrophie ist aber noch schwerwiegender. Durch eine exzessive Besteuerung verkümmert — zunächst bei den Reichen, aber schliesslich in der ganzen Gesellschaft – die Bereitschaft, den sozial Schwachen spontan zu helfen.
Über ein Thema ist wohl in der ganzen Transformationsdiskussion in Europa zu wenig gesprochen worden. Was sich heute in den Ländern des ehemaligen Ostblocks an Negativem und Asozialem abspielt sind nicht Geburtswehen eines neuen marktwirtschaftlichen Systems. Es sind die Altlasten von zwei bis drei Generationen sozialistische! Praxis. Die Tragödie des Sozialismus besteht nicht darin, dass er nicht funktioniert hat, sondern dass er genau jene menschlichen Eigenschaften, die er zu entwickeln und zu stützen vorgab, verkümmern liess. Glücklicherweise nicht total und nicht restlos…
Ein Zusammenbruch des sozialstaatlichen Versorgungssystems wird die sozial Schwächsten am härtesten treffen.
Aber auch die auf Umverteilung setzenden Wohlfahrtsstaaten Westeuropas haben ihre Altlasten. Sie sind weniger dramatisch, abet deswegen vielleicht nicht leichter lösbar. Auch wir stehen vor entscheidenden Transformationsprozessen, wobei wir darunter leiden, dass dies allgemein zu wenig bewusst ist und im politischen Prozess ausgeklammert wird. Es ist einfach nicht populär, auf langfristige Schwierigkeiten hinzuweisen.
Die soziale Primärgruppe der Familie hat — schlecht und recht – alle Versuche ihrer Abschaffung oder «Umfunktionierung» überdauert, ebenso Nachbarschaften und kleine Betriebsgemeinschaften. Auch die spontane Hilfsbereitschaft zahlreicher Menschen (niemals aller, aber doch einer Mehrheit) hat die mehr oder weniger gut gemeinten Versuche organisierter und staatlicher Zwangshilfe überlebt. Urtümliche Formen gegenseitiger Zuwendung sind weltweit offensichtlich resistenter als alle verfehlten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Systeme, mit denen im 19. und 20. Jahrhundert experimentiert worden ist. Auf den erwähnten, nicht-staatlichen sozialen Gemeinschaften ruht die Hoffnung, dass es jenseits der Staatswirtschaft und jenseits der staatlich gesteuerten Umverteilung überall auf der Welt eine lebenswerte Zukunft, aufgrund echter mitmenschlicher und freiwilliger Solidarität, geben kann.
Die Erhaltung von Demokratie in Freiheit wird nicht durch die Einschränkung bzw. Vermeidung direktdemokratischer Verfahren gewährleistet, sondern durch die verfassungsrechtliche Limitierung der Umverteilung und durch den institutionellen Stop der Aufgaben- und Ausgabenexplosion beim Staat.
Das Schlussdokument eines Seminars, an dem sich eine kleine international zusammengesetzte Gruppe von klassischen Liberalen mit dem Themenkreis «Freie Märkte, freie Nationen» befasst hat (abgedruckt in «Reflexion» Nr. 35, Zürich 1995, S. 9 ff), fasst diese Überlegungen folgendermassen zusammen:
«Es wird behauptet, dass Umverteilung das universelle Heilmittel gegen alle Übel in der Gesellschaft sei, insbesondere gegen Armut, Diskriminierung und soziale Probleme.
Wir sind hingegen überzeugt, dass Umverteilung längerfristig in der Regel mehr Probleme schafft als löst. Sie verewigt die Armut, schafft neue Diskriminierungen und verstärkt Abhängigkeiten. Umverteilung verleiht denen, welche darüber bestimmen, eine Machtfülle, die zum Missbrauch verleitet.»