Zum Inhalt springen

Demokratie – grenzenlos?

Lesedauer: 2 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1995 – Seite 1)

EDITORIAL

Demokratie als Herrschaft durch das Volk und für das Volk ist mit guten Gründen zum Inbegriff der einzigen zukunftstauglichen Staatsform geworden. Sie hat sich im 20. Jahrhundert gegen ihre totalitären Widersacher behauptet, und anlässlich der Erinnerungsfeiern an den Abschluss des Zweiten Weltkriegs ist immer wieder hervorgehoben worden, dass die Amerikaner mit ihrem Eingreifen ihr «Allerheiligstes», die Demokratie, «nach Europa zurückgebracht» und in Japan neu ermöglicht hätten. Der Begriff «Demokratie» ist zum Synonym geworden für einen Freiheit, Menschenrechte und Wohlfahrt garantierenden Rechtsstaat. Die Rhetorik der politischen Ideologie liebt diese Art von Mythologisierung. Alle wollen «mehr Demokratie wagen» und hoffen natürlich zur Mehrheit zu gehören. Was aber, wenn dieses «Wagnis» zu Lasten der Minderheit von Betroffenen, von Aussenseitern, Dissidenten und Kreativen oder zu Lasten der nächsten Generationen geht?

Wer sich um Differenzierungen bemüht, kommt nicht darum herum, auch Abgrenzungen vorzunehmen. Eine der grossen Herausforderungen der Demokratie im Sinne des Mehrheitsprinzips ist die Tatsache, dass durch Mitbestimmung fast die Hälfte der Beteiligten und Betroffenen fremdbestimmt werden kann und damit als Opfer einer «Diktatur der Mehrheit» ihre Selbstbestimmung verliert.

Daher wurde die Demokratie mit dem Prinzip der Repräsentation ergänzt, in der Hoffnung, dass die Repräsentanten besser in der Lage wären, «für das ganze Volk» zu entscheiden und zu regieren. Diese Hoffnung bewahrheitet sich selten genug. Die indirekte Demokratie hat zum Teil dieselben Strukturmängel wie die direkte Demokratie und allenfalls noch ein paar zusätzliche. Die für die Zukunft entscheidende Frage lautet nicht, «wie direkt kann und soll Demokratie sein?», sondern «wie beschränkt muss politische Herrschaft als solche sein, damit sie demokratietauglich und -verträglich ist»? Je begrenzter politische Herrschaftsmacht ist, desto eher kann man sie der direktdemokratischen Mehrheit anvertrauen, die zwar beileibe nicht immer Recht hat, aber nicht häufiger und nicht verhängnisvoller irrt als eine selbst- oder fremdbestimmte politische Führung.

ROBERT NEF

Schweizer Monatshefte – Heft 9, 1995 – Seite 1

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert