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Korruption, der Schatten des Interventionismus

Lesedauer: 5 Minuten


(Schweizer Monatshefte – Heft 6, 1995 – Seite 4-5)

POSITIONEN

Robert Nef

«Free market economy — quo vadis?» war eine der zentralen Fragestellungen, die am «China Workshop» der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Atlas Foundation in Beijing zur Debatte standen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Europa und Amerika hatten dabei ausgiebig Gelegenheit, mit chinesischen Wissenschaftlern ins Gespräch zu kommen.

Die Plenardiskussionen wurden auf chinesischer Seite mit der traditionell höflichen Zurückhaltung geführt, aber es kamen auch kritische und selbstkritische Meinungen zum Ausdruck. Allerdings wurde der an grundlegend frei geführte Kontroversen gewöhnte europäische Teilnehmer den Eindruck nie ganz los, dass bei dieser Kritik und Selbstkritik ein hoher Anteil an autorisierter «Ordonnanzmeinung» zum Ausdruck kam. Nach offizieller Darstellung ist es die Regierung, welche einen geplanten «Systemwechsel» der Wirtschaftspolitik durchführt, etwa wie wenn in einem Privathaushalt der Gasherd durch einen Elektroherd ausgewechselt wird. Das «neue System der Wirtschaftspolitik» (das keineswegs als «Wende» im Gesamtsystem gedeutet wird, sondern als «Modernisierung» und «Öffnung») wechselt von zentral und dezentral verwalteten Staatsbetrieben zu einer «Sozialistischen Marktwirtschaft». Diese beruht auf konkurrierenden nichtstaatlichen Betrieben, bei denen aber Beteiligungen der «öffentlichen Hand» (bzw. von ganzen «Branchen» der Staatsverwaltung wie Energie oder Militär) im Vordergrund stehen. Die auch bei uns nicht immer leichte Unterscheidung von «öffentlichen» und «privaten» Komponenten in gemischtwirtschaftlichen Betrieben ist angesichts dieser Verflechtungen und Verschachtelungen schlechterdings unmöglich. Daneben gibt es aber auch viel erfreulichen marktwirtschaftlichen Ur- und Wildwuchs: die sichtbaren und spürbaren Resultate eines deregulierten «Self-employment» von Klein- und Kleinstunternehmern. Es ist zu hoffen, dass die «am Rande Geduldeten» bald einmal zu den tragenden Säulen des Wandels werden. Zu befürchten ist allerdings, dass der mit allerhand marktwirtschaftlichen Geburtsfehlern behaftete gemischtwirtschaftliche Korruptionsfilz früher oder später «von oben nach unten» die wirklich marktwirtschaftliche Konkurrenz der privaten Unternehmungen, die auch in China «von unten nach oben» wächst, durch einen neuen Interventio¬ nismus und Protektionismus bedroht. Die vorhandenen totalitären politischen Strukturen, die vom «Wandel» und von der «Öffnung» sorgfältig ausgenommen werden, erlauben es, solche Schritte als «Schutz der sozialistischen Marktwirtschaft» zu bezeichnen. Den ausländischen Investoren mag dies zunächst in ihrem eigenen Interesse nur recht sein. Im Interesse einer längerfristig gesunden marktwirtschaftlichen Entwicklung muss aber festgestellt werden, dass das Engagement der ausländischen Investoren auf der «unfreiheitlich interventionistischen Seite» eingegangen wird und dass unsere China-Pilger aus Politik und Wirtschaft — einmal mehr — den falschen Leuten die Hände schütteln und Kredite in Aussicht stellen…

«Ausser Kontrolle»

Die offizielle Regierungspolitik der Wirtschaftsreform und der Öffnung, welche den Handel betrifft, aber beispielsweise im politisch empfindlichen Bereich der elektronischen Medien grosse Zurückhaltung übt, findet auch in akademischen Kreisen kaum Widerspruch. Beklagt wird allenfalls das Tempo und der Zerfall nationaler chinesischer Kultur im Zuge der «Mac-Donaldisierung». Als aussenstehender Beobachter wird man den Eindruck nicht los, dass der Transformationsprozess mindestens zum Teil aufgrund chaotischer Urkräfte stattfindet, etwa wie ein Dammbruch oder ein Vulkanausbruch, wobei diese Vergleiche natürlich zu negativ sind, weil ja die Ströme, welche sich neu ihren Weg bahnen, mehrheitlich heilsame Ströme sind. Die sozialistische Nomenklatura ist nicht mehr in der Lage, überall steuernd und koordinierend Einfluss zu nehmen. Aus dieser Not wird nun eine Tugend gemacht, indem man das Chaos als «gewollte Öffnung» bezeichnet und die entstehenden wirtschaftlichen Chancen einerseits als politischen Erfolg feiern lässt und andererseits persönlich soviel wie möglich finanziell davon profitiert. Auch wenn Vergleiche immer hinken: Die derzeitige Wirtschaftspolitik kann mit den fast tragikomischen Bemühungen der chinesischen Verkehrspolizisten verglichen werden, wie man sie etwa auf den grösseren Kreuzungen in Beijing und Shanghai beobachten kann. Sie versuchen, den Verkehr zu regulieren. Ein eigentlicher Phasenwechsel kommt im kreuz und quer durcheinanderfliessenden und zeitweise blockierten Strom nicht zustande, aber immerhin: Die Stockungen werden immer wieder aufgelöst, und schliesslich fliesst alles wieder — ob trotz oder wegen der fuchtelnden und pfeifenden Uniformierten, bleibe dahingestellt. Sie scheinen auszudrücken: «Seht, wie | das alles dank uns funktioniert, denn schliesslich hätten wir ja die Macht, alles zu blockieren… !»

Korruption als «Altlast»

Ein grosses Übel wird allgemein diagnostiziert und beklagt: die Korruption. Sie ist denn auch nicht zu verstecken, und jeder weiss Dutzende von Musterehen zu berichten. Als einziges Heilmittel dagegen wird eine Verschärfung strafrechtlicher Verfolgung mit generalpräventiven drakonischen Strafen genannt, auch hier — durchaus im Einklang mit der Regierung, die damit an die konfuzianischen Tugenden appellieren kann. Dass dadurch mit grosser Wahrscheinlichkeit nur die Korruptionsebene gewechselt und der «Korruptionstarif» nach oben verschoben wird (man muss dann eben die Anti-Korruptionsbehörden wirksam korrumpieren), ist ein Einwand, der zwar ungern gehört wird, der aber auf dem Hintergrund von vielfältigsten historischen Erfahrungen nicht zu widerlegen ist.

Bis zum Überdruss wird man mit der Auffassung konfrontiert, die Korruption sei eine notwendige Begleiterscheinung der Marktwirtschaft, gewissermassen der Preis, den man für die Freiheit bezahlen müsse. Wenn eben alles käuflich und verkäuflich werde, könne man auch die traditionelle Moral nicht mehr aufrechterhalten…

Korruption blüht dort am üppigsten, wo der Interventionismus und Protektio nismus im Verfallsstadium einer alten Ordnung «die Karten neu mischt».

Ich habe mich in allen Kurzvorträgen und Diskussionsvoten, die ich durch Vermittlung der Organisatoren in verschiedenen akademischen Gremien halten durfte, bemüht, den Nachweis zu führen, dass Korruption gerade nicht eine Begleiterscheinung des Marktes, sondern seines Gegenstücks, der politisch beherrschten bzw. regulierten MachtWirtschaft sei. Korruption ist der Kauf von politischer Interventionsmacht bzw. der Loskauf von politischer Kontrolle wirtschaftlichen Tuns: der Tausch von Geld gegen Privilegien. Sie mag in einer Phase des Übergangs ökonomisch gesehen gelegentlich «das kleinere Übel» sein, weil sie — gegen Geld — gewisse notwendige Freiräume öffnet. Moralisch ist sie immer ein Übel, und eine von diesem Virus befallene Gesellschaft ist dadurch auch ökonomisch belastet. Das einzige wirksame Mittel gegen Korruption ist eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung, welche genügend Freiräume für alle gewährleistet und damit eine Gegenleistung in Geld überflüssig macht. Wer Rechte für eine privatautonome Wirtschaftstätigkeit hat, braucht keine Bestechungsgel¬ der, um sich Vorrechte zu kaufen. Wo wenig staatliche Macht vorhanden ist, gibt es auch wenig davon auf dem Korruptionsweg zu «verkaufen» und zu «kaufen», und wo der Staatsapparat grundsätzlich nicht in wirtschaftliche Abläufe eingreift, gibt es auch kein Motiv, dafür Bestechungsgelder zu bezahlen. Korruption mag auch in solchen Ordnungen nie ganz verschwinden, aber ihre Bedeutung sinkt, weil das, was sich dadurch an Vorteilen erkaufen lässt, gegenüber dem, was allen ohnehin erlaubt ist, in den Hintergrund rückt. Es gibt immer und überall bestechliche Menschen, aber es gibt Ordnungen (totalitäre und interventionistische), in denen der Erfolg in erster Linie von Bestechungen abhängt, und andere (freiheitliche und marktwirtschaftliche), in denen die Leistung und die spontane Nutzung von Konstellationen den Ausschlag geben.

Korruption blüht dort am üppigsten, wo der Interventionismus und Protektionismus im Verfallsstadium einer alten Ordnung «die Karten neu mischt» und ein Durchbruch zu einer wirklich staatsunabhängigen Marktwirtschaft wenig Chancen hat. Sie ist ein typisches «Altlast-Problem» von Systemen ohne offene Märkte und eine zwingende Begleiterscheinung aller Formen des Interventionismus. Es gehört zu den auch hierzulande weit verbreiteten Irrtümern, diese typische «Altlast» nicht-marktwirtschaftlicher Ordnungen bzw. marktwirtschaftlich defekter Ordnungen ausgerechnet als «notwendige Folge» der Marktwirtschaft zu deuten.

P.S. Auf dem Rückflug aus China in die Schweiz sass ich neben einem jüngeren Unternehmer aus der Schweiz – ein sogenannter China-Kenner. Dieser lobte die Fortschritte der Öffnung und den «unternehmerischen Geist» der ehemaligen kommunistischen Bürokraten. Aber eben, mit der Marktwirtschaft halte notwendigerweise auch die Korruption Einzug. Da könne man nichts machen…

Schweizer Monatshefte – Heft 6, 1995 – Seite 4-5

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