(Schweizer Monatshefte – Heft 5, 1995 – Seite 1)
EDITORIAL
Der 8. Mai 1945 sollte in Europa nicht nur als Anfang einer neuen europäischen Zusammenarbeit in Erinnerung gerufen werden, er ist auch ein Markstein für die amerikanisch-europäische Solidarität. Dieses Wort bezeichnet ein mitmenschliches Verhalten, bei dem einer des anderen Last trägt — aus freiem Entschluss. Kann man das Verhältnis von Nationen in der Weise vermenschlichen, dass Begriffe wie «Solidarität», «Opfer», «Dankbarkeit» und «Entschuldigung» angebracht sind? Normalerweise nein. Es gibt zwischen Völkern und Nationen zwar Koexistenz und Kooperation, aber uneigennützige Freundschaften jenseits von Kalkül und Geschäft bleiben dem zwischenmenschlichen Bereich vorbehalten, und sie sind auch dort selten genug.
Bill Clintons Versicherung «Amerika steht an eurer Seite, jetzt und für immer» kann trotzdem nicht einfach in die Kategorie der diplomatischen Rhetorik oder gar des propagandistischen Polit-Kitsches eingereiht werden. Die transatlantische Partnerschaft bleibt an ihren Wurzeln emotional, subtil und komplex: eine Ausnahme von der Regel. Sie ist mit der Geschichte und mit Geschichten (und das heisst immer auch mit dem Schicksal von Personen und Familien) verbunden. Darum erstaunt es nicht, dass bei soviel gegenseitigen Projektionen, Erwartungen und Enttäuschungen auch Missverständnisse vorkommen und Nähe und Ferne, Wärme und Kälte oft gleichzeitig feststellbar sind.
Karl Schmid hat in einer Vorlesung einmal darauf hingewiesen, wir Europäer könnten über das grosse Amerika sagen was wir wollten, es stimme immer auch das Gegenteil, und jede auch noch so radikale Kritik, sei schon als amerikanische Selbstkritik irgendwo geäussert worden. An die zentrale Bedeutung der transatlantischen Verbundenheit und an die Tatsache, dass wir Europäer allen Grund zur Dankbarkeit haben, kann aber gar nicht nachdrücklich genug erinnert werden.
ROBERT NEF