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Liberale Wegweiser – Ideen und Erfahrungen

Lesedauer: 13 Minuten
Vortrag anlässlich einer Konferenz mit dem Thema «50 Jahre Frieden – 5 Jahre Demokratie», veranstaltet von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Budapest am 25. März 1995

Ich möchte weder das Jahr 1989, noch das Jahr 1945 an den Anfang meiner Ausführungen stellen, sondern das für Ungarn und für die Geschichte der Freiheit in Europa ebenso bedeutsame Jahr 1956. Es hat auch in meiner eigenen Lebensgeschichte einen ganz besonderen Stellenwert. Ich war damals 14 Jahre alt und ich habe mit dem Enthusiasmus dieser herrlichen Lebensphase die Revolution in Ungarn mitverfolgt. Die Begeisterung in den Tagen des Freiheitskampfes und die bittere Enttäuschung nach der Niederwalzung durch die russischen Panzer gehören für mich zu den prägenden Erlebnissen meiner Jugend. Freiheit ist seither für mich etwas unendlich Verletzliches, aber auch etwas unendlich Resistentes. Das erste wissen wir und an das zweite wollen wir glauben.

Mein Engagement für den Liberalismus, das zu meinem Beruf als Institutsleiter des «Liberalen Instituts» gehört, geht über das rein Berufliche hinaus, weil es diese tiefen Wurzeln hat.

Ich habe später das Glück gehabt, an verschiedenen Arbeitsstellen mit Emigranten aus Ungarn zusammenzuarbeiten, und es sind daraus auch Freundschaften entstanden, die mir viel bedeuten.

Gegenwärtig bin ich in einem Projekt engagiert, das die Auswanderung von Schweizer Landwirten nach Ungarn unterstützt. Die durch Gewalt erzwungene Auswanderung, welche nach 1956 von Osten nach Westen stattgefunden hat, kann vielleicht auf freiwilliger Basis in umgekehrte Richtung stattfinden. Die Osmose von Einwanderung und Auswanderung zwischen Ostmitteleuropa und Zentraleuropa, die schon im letzten Jahrhundert funktionierte, findet so möglicherweise eine Fortsetzung.

Gegenseitiger Ideen- und Erfahrungsaustausch

Wenn ich im Titel meines Referats von Wegweisern, von Ideen und von Erfahrungen rede, so meine ich nicht, dass wir Westeuropäer die liberalen Wegweiser stellen und die liberalen Ideen liefern und Sie in Ostmitteleuropa vor allem ihre Erfahrungen beisteuern, die bis weit in die Geschichte zurück schmerzhaft und leidvoll sind. Das wäre eine unfaire Arbeitsteilung. Ich bin überzeugt, dass der Austausch von Ideen und Erfahrungen schon heute nicht mehr einseitig sein kann und dass vor allem wir Liberalen in West- und Zentraleuropa von Ihren Ideen und Erfahrungen im Transformationsprozess lernen können.

Ich gehöre also nicht zu jenen westeuropäischen und amerikanischen Intellektuellen, welche davon ausgehen, dass unsere Vorstellungen und Modelle von Marktwirtschaft und Liberalismus abschliessend vorliegen und als Exportprodukt für den Rest der Welt bereitstehen. Es gibt für mich kein «Ende der Geschichte» und ich habe in verschiedenster Hinsicht eher das Gefühl, dass wir am Anfang einer Epoche stehen, in der sich der Liberalismus zu bewähren hat und in der er herausgefordert ist.

Unsere politischen Systeme in Westeuropa – einschliesslich der Schweiz – sind nicht kerngesund. Sie sind zunehmend verschuldet und das ist ein Symptom, dass sie langfristig nicht überlebensfähig sind, wenn wir nicht grundlegende Reformen durchführen. Auch wir stehen in einem Transformationsprozess. Er ist vielleicht weniger dramatisch als im ehemaligen Ostblock aber nicht weniger notwendig. Liberalismus kann man nicht konservieren und darum stört es mich, wenn sich Liberale als «konservativ» bezeichnen.

Das Ziel des Liberalen Instituts, das ich in Zürich leite, ist die Weiterentwicklung und Verbreitung liberaler Gedanken, ein Ziel, das es ideell mit der Friedrich-Naumann-Stiftung verbindet. Ich bin der festen Überzeugung, dass es bei dieser Aufgabe nicht einfach um ein «Ideen-Marketing» geht. Daher bin nicht als «Verkäufer» eines bewährten und funktionierenden «Systems» nach Budapest gereist, sondern als ein interessierter Gesprächspartner. Ich möchte Ideen und Erfahrungen nicht einseitig vermitteln, es geht mir darum, sie auf einem offenen Markt auszutauschen.

Man kann sich mit guten Gründen fragen, ob es überhaupt sinnvoll sei, zwischen verschiedenen Entwicklungen in verschiedenen Nationen unter verschiedenen Zeitumständen nach Ideen und Erfahrungen zu forschen, die in irgend einer Weise vorbildlich oder modellhaft sein können. In der Geschichte kommt es immer wieder zu Transformationsprozessen und jeder dieser Prozesse hat sowohl etwas Einmaliges als auch etwas Typisches. Ich möchte versuchen, das Typische und aus liberaler Sicht Interessierende hervorzuheben.

Anthropologische Konstanten und historische Besonderheiten

Wer Ideen und Erfahrungen austauschen will, darf nicht mit leeren Händen kommen. Darum gestatte ich mir zunächst einige Erfahrungen aus meinem Herkunftsland, der Schweiz, vorzutragen, und zwar sowohl positive als auch negative. Die positiven stammen vorwiegend aus dem letzten Jahrhundert, die negativen aus der Gegenwart. Ich will damit nicht sagen, dass es über die heutige Schweiz keine positiven Erfahrungen mehr zu berichten gäbe, aber sie haben mit liberaler Wirtschaftspolitik wenig zu tun.

Man kann die Erfahrungen der Schweiz mit der Idee der Freiheit 700 Jahre zurückverfolgen (bis zur mythischen Figur des Wilhelm Tell) oder 150 Jahre bis zur Gründung des Bundesstaates und man wird immer wieder auf die Rolle des «Sonderfalls» stossen, der sich als «Wegweiser» schlecht eignet und wenig beiträgt zu neuen Ideen und zu brauchbaren Erfahrungen, weil eben alles ganz anders ist als anderswo.

Der deutsche Bundespräsident, Roman Herzog, hat kürzlich über das Selbstbewusstsein seines Landes etwas sehr Schönes gesagt, das eigentlich für alle Nationen gilt: «Wir sind nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes.» Jede Nation ist aufgrund ihrer Geschichte in verschiedenster Hinsicht etwas Bestimmtes und das berechtigt und verpflichtet sie, ihren eigenen Weg zu suchen.

Die Wirtschaft Ungarns kann nicht nach dem Modell von Singapur oder von Taiwan transformiert werden und auch die Reformen in den Nachbarländern sind nicht einfach zu kopieren. Trotzdem gibt es auch in der Wirtschaftspolitik gewisse anthropologische Konstanten, und die Erfahrung zeigt, dass das menschliche Verhalten in einer arbeitsteiligen technischen Zivilisation in einer zunehmend globalen Schicksalsgemeinschaft vergleichbare Verhaltensweisen in Produktion, Konsum und Kommunikation hervorbringt. Das Prinzip des friedlichen Tausches durch Verträge, das Prinzip der Vertragstreue und der Treue ganz allgemein (etwas in jeder Gesellschaft Grundlegendes!), die Idee des Marktes aber auch die Bedeutung des Geldes, all diese zivilisatorischen Errungenschaften sind nicht nur international sondern auch interkulturell vorhanden. Eine friedliche Gemeinschaft kann somit an die Menschen anknüpfen wie sie sind und muss nicht zuerst einen «neuen Menschen» hervorbringen.

Dies ist wohl ein entscheidendes Merkmal des Liberalismus: Er baut auf den Menschen, wie er weltweit aufgrund einer Normalverteilung «real existiert». Wenn ich nur eine einzige Linie hätte, um den Liberalismus, wie ich ihn verstehe, zu charakterisieren, so würde ich ein Gauss’sche Glockenkurve zeichnen: So sind die Menschen – es gibt keine andern, aber es gibt eine Hoffnung auf Lernprozesse. Die knappste Ressource ist dabei nicht das Geld und auch nicht das Wissen oder die Motivation, sondern die Geduld.

Eigenständigkeit und Lernbereitschaft

Lassen Sie mich kurz eine Zwischenbilanz ziehen bei meiner Bemühung um die drei wichtigsten Wegweiser.

Auf dem ersten liberalen Wegweiser, den ich aufstellen würde, steht der Satz: Gehe Deinen eigenen Weg.

Ich möchte dies mit einer kleinen Geschichte begründen und illustrieren. Die Schweiz hat bekanntlich – wie alle Staaten Westeuropas – eine stark interventionistische Landwirtschaftspolitik. Sie ist – wie jeder Interventionismus – auch eine Altlast aus Zeiten der Kriegswirtschaft.

Im Gespräch mit einem – trotz allem – erfolgreichen jungen Bauern eröffnete mir dieser sein «Rezept»: «Mein Vater sagte mir, ich solle immer sehr genau auf das hören, was die Landwirtschaftsexperten den Bauern anraten, und dann das Gegenteil tun, d.h. einen eigenen Weg gehen, der nicht dem neuesten Stand des jeweils vorherrschenden Irrtums folgt.» Ich hoffe nun, dass dieser junge Mann nicht nach Ungarn auswandern wird, denn wir brauchen ihn dringend in unserm Land…

Sicher stecken nicht nur in solchen Geschichten, sondern in der Geschichte als Ganzes Erfahrungschätze und es wäre unklug auf einen Austausch solcher Erfahrungen zu verzichten.

Ich habe mir überlegt, ob es nicht sinnvoll wäre, auf «Liberalen Wegweisern» einfach einige wichtige Namen von klassischen Theoretikern, die liberale Ideen entwickelt haben, anzuführen: John Locke, Adam Smith, Edmund Burke (ein Konservativer), John Stuart Mill, David Riccardo, Alexis de Tocqueville, und – in neuerer Zeit – Ludwig von Mises, F. A. von Hayek, Milton Friedman, Gary Becker und James Buchanan.

Eine andere Möglichkeit wären die Namen der bedeutenden Praktiker, welche sich für eine freie Wirtschaft in einer freien Gesellschaft eingesetzt haben und einsetzen: Mit guten Gründen werden an diesem Seminar die historischen Leistungen von Konrad Adenauer und Josef Antall in Erinnerung gerufen. Neben Adenauer hat auch Ludwig Erhard Wesentliches zum deutschen Wirtschaftswunder beigetragen. Man könnte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auch folgende zeitgenössischen Politiker als «liberale Wegweiser» bezeichnen: Margaret Thatcher, Ronald Reagan, Vaclav Klaus und Roger Douglas (ein Labour-Politiker in Neuseeland, der das international viel zu wenig beachtete Kunststück vollbracht hat, sein Land aus der Sackgasse des Wohlfahrtsstaats herauszuführen).

«Forget Keynes»

Man hat gegenüber politischen Theorien immer wieder die Frage nach ihrer Wahrheit gestellt. Dies ist zwar legitim, ich meine aber, dass eine andere Frage viel wichtiger ist, wenn es um die Beschriftung von Wegweisern geht: Was funktioniert, was bewährt sich in konkreten Situationen?

Auch dazu ein Beispiel: Ich hatte letzte Woche die Gelegenheit an einem Seminar in Wien teilzunehmen, das den attraktiven Titel hatte: «Hayek versus Keynes» und das als Gründungsanlass eines Instituts für «Austrian Economics» konzipiert war. Es ging nicht in erster Linie um die Kontroverse zwischen zwei Personen (die ja bekanntlich persönlich befreundet waren, obwohl der eine ein Spontanist und der andere ein Interventionist gewesen ist). Es ging um zwei grundverschiedene Modelle der Wirtschaftspolitik. Vaclav Klaus, der im Rahmen des Seminars ein Referat hielt, gab seine Meinung kurz und bündig bekannt: «Forget Keynes». Dies ist eine eindeutige Option, mit der ich grundsätzlich einig gehe. Ich bin allerdings mit einem Blick auf die Erfahrungen, die weltweit gesammelt worden sind und gesammelt werden, etwas vorsichtiger. Ich meine, dass es für einen Liberalen wichtig ist, zuzugeben, dass er sich möglicherweise täuschen oder irren könnte. Dies soll ihn aber nicht daran hindern, das, was er für richtig hält, kompromisslos anzustreben und aus den Erfahrungen, die er dann macht, so viel wie möglich zu lernen.

Auf dem zweiten Wegweiser würde also bei mir der Satz stehen: Wähle einen Weg, und kehre nicht beim ersten Zweifel und Misserfolg um.

Wir kommen vielleicht in einer unserer Diskussionen auf die Frage nach dem Stellenwert des Interventionismus und nach den diesbezüglichen Erfahrungen zurück.

Hayek soll in späteren Jahren gelegentlich sein Bedauern über den frühen Tod seines Freundes mit dem Hinweis verbunden haben, dass es ihm – wäre Keynes nur fünf Jahre älter geworden – gelungen wäre ihn von den Irrtümern des Keynesianismus zu befreien. Ob die Wirtschaftsgeschichte oder gar die Weltgeschichte dann einen anderen Verlauf genommen hätte, bleibe dahingestellt. Man sollte den Einfluss von Gelehrten weder unter- noch überschätzen. Vielleicht beruhte die Vorliebe, welche der – im Grunde liberale – Keynes für wirtschaftspolitische Interventionen hatte, einfach auf seinem persönlichen Erfahrungshorizont, der weitgehend kriegs- und krisenwirtschaftlich gewesen ist. Vermutlich ist der wesentliche Unterschied zwischen Interventionismus und «Laissez-faire» nicht derjenige von «falsch» oder «richtig» sondern von «kriegstauglich» und «friedenstauglich». Der Interventionismus ist eine Wirtschaftspolitik für Kriege und Krisen.

Doch zurück zur Frage nach den liberalen Erfahrungen und nach den Lehren, die sich daraus ziehen lassen, selbst wenn wir anerkennen, dass wir nicht Zuvieles verallgemeinern sollten.

Die Geschichte ist ja auch schon als das Experiment der Natur mit dem Menschen bezeichnet worden, oder – etwas anmassender – als das Experiment des Menschen mit dem Menschen. Sie ist das einzige «Labor», in dem die Richtigkeit, oder besser: die Tauglichkeit sozialwissenschatlicher Theorien getestet wird, allerdings immer nur «ex post», was die «Sozialingenieure» und Interventionisten aller Parteien in ihrem Machbarkeitswahn bedauern und was den Skeptikern und Anhängern spontaner Ordnung ein Trost ist.

Vieldeutige Dreierformeln

Die Ideengeschichte vermittelt uns ideologische, politische und religiöse Grundsatzprogramme häufig in Dreierformeln.

«Glaube, Liebe und Hoffnung» heisst es bei Paulus, «Leben, Freiheit und Eigentum» heisst es bei John Locke, in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung steht statt Eigentum «the pursuit of happiness», was immer das bedeuten möge… «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» postulierten die Jakobiner, «Das Wahre, das Schöne und das Gute» hiess es im deutschen Idealismus, «Ehre, Vaterland und Pflichterfüllung» im alten Preussen «Personalität, Subsidiarität und Solidarität» in der katholischen Soziallehre und «Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung» bei Carl Friedrich von Weizsäcker. Was soll ich angesichts dieser Vielfalt auf meinen dritten liberalen Wegweiser schreiben?

Ich kann mich aus liberaler Sicht für keine dieser Maximen begeistern. Meine persönliche Präferenz liegt bei John Locke. Alle Dreierformeln enthalten zwar gute, meist unvereinbare Ziele, aber gibt es dazu einen gangbaren Weg, den man empfehlen kann?

Bei der Lektüre von Adam Smith bin ich in einer frühen Abhandlung auf eine wichtige und originelle Dreierformel gestossen: «Peace, easy taxes and tolerable justice». Hinter dieser Dreierformel ist vielleicht das Erfolgsgeheimnis der Schweiz im letzten Jahrhundert verborgen. Vom selben Autor stammt aber auch die politisch viel weniger taugliche Aussage, der «liberale Plan» sei «Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit».

Ich möchte mit dieser Aufzählung von politischen Ideen hier abbrechen. Es wäre ein anspruchsvolles Gesellschaftsspiel in diesem Kreis eine Rangfolge von solchen Maximen zu ermitteln, wobei die Begründungen wohl das Interessanteste und Aufschlussreichste wären.

Die Dreierformel, die ich als Maxime der Arbeit des «Liberalen Instituts» voranstelle lautet: Offenheit, Vielfalt, Freiwilligkeit. Das entscheidende Merkmal des Liberalismus ist die negative Einschätzung des politischen Zwangs und nicht die Betonung des Individualismus, wie immer wieder behauptet wird. Wenn der Mensch nicht unterdrückt wird, wird er nämlich nicht zum Einzelgänger, sondern bildet spontan Partnerschaften und Gruppen. Der wesentliche Unterschied zwischen Liberalismus und Sozialismus ist nicht der Stellenwert des Individuums und der Stellenwert der Gemeinschaft sondern der Stellenwert des Zwangs bei der Bildung von Gemeinschaften: Spontane freiwillige Solidarität bei den Liberalen, organisierte und erzwungene Solidarität bei den Sozialisten.

Mein persönliches Leben versuche ich nach einem anderen Wegweiser auszurichten, der aus dem polemischen Bereich stammt. Die Feministinnen haben den traditionellen Frauen vorgeworfen, sie seien ausschliesslich an den drei K interessiert, an Kindern, Küche und Kirche. Ich frage mich: Gibt es denn überhaupt etwas Wichtigeres, wenn man die drei Bereiche in ihrem weitesten Sinn versteht: die kommenden Generationen (Kinder), das leibliche und psychische Wohlbefinden, verbunden mit dem vernünftigen Genuss (Küche) und die individuelle und gemeinsame Suche nach dem Sinn (Kirche).

Auf den dritten Wegweiser würde ich also die drei K «Kinder, Küche Kirche» hinschreiben – allerdings in einem ganz weiten Sinn. Ich weiss nicht wie liberal das ist, aber ich habe damit gute Erfahrungen gemacht…

Mut zum Optimismus

Eine zentrale Frage, die mich als Liberalen beschäftigt, ist die Frage nach der Berechtigung des langfristig ausgerichteten Optimismus. Ich wurde kürzlich in einem Radio-Interview über das Buch von Robert Heilbroner «Kapitalismus im 21. Jahrhundert» gefragt, wieso denn alle berühmten kapitalistischen Ökonomen (genannt wurden namentlich Smith, Keynes und Schumpeter) «in the long run» Pessimisten seien. Ich habe dann auf zwei Namen verwiesen, die – nicht zufällig – der Schule der Austrian Economics angehören und die – wohl auch nicht zufällig – von Heilbroner nicht genannt werden: Mises und Hayek. Ich bin überzeugt, dass es diese zwei Persönlichkeiten sind, deren Werk jene Lehren enthält, welche den Transformationsprozess erleichtern, den wir in Mittel- und Osteuropa und in Westeuropa brauchen.

Ludwig Erhard war kein Hayekianer, obwohl er Hayek gekannt und geschätzt hat. Seine Staatsskepsis und sein Glaube an die Selbststeuerung wirtschaftlicher Kräfte hat aber auch eine österreichische Quelle: kein Austro-keynesianer sondern der antietatistische Austromarxist Franz Oppenheimer…

Weg der Schweiz

Ich habe kürzlich – ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit – in einem Essay mit dem ambitiösen Titel “Wege in die Freiheit” (Zürich 1992) versucht, verschiedene mögliche «Lehren» aus geschichtlichen Transformationsprozessen zu ziehen und habe fünf Modellsituationen untersucht: Das «Deutsche Wirtschaftswunder», das «iberische Modell» (mit seinem «Ableger» in Chile), das «Code-Civil Modell Bonapartes», «Calvins Reformation» und der «Exodus des Volks Israel unter der Führung von Moses». Freunde aus Ostmitteleuropa haben mich darauf aufmerksam gemacht, ich hätte das eindrücklichste Modell vergessen: die Transformation der Schweiz im 19. Jahrhundert, bei der es dank einem konsequenten liberalen Kurs innert zwei Generationen gelang – ohne Rohstoffe und ohne Meerhäfen von einem der ärmsten zu einem der reichsten und freisten Länder Europas zu werden, in dem es auch den Ärmsten und gerade den Ärmsten signifikant besser ging als ihren Leidensgenossen in den Nachbarländern. Dies ist übrigens ein brauchbarer Massstab für den Erfolg eines Transformationsprozesses. Entscheidend ist nicht, ob es Unterschiede gibt zwischen «arm» und «reich», entscheidend ist, wie erträglich das Leben der wirtschaftlich Schwächsten ist und welche Chancen sie haben. Der egalitäre Angriff und (fiskalische Zugriff) auf die Reichen, die Superreichen und die Neureichen ist das Dümmste, was man in einem Transformationsprozess machen kann, denn dadurch wird das notwendige Risikokapital vermindert und das Potential für künftige Investitionen abgebaut. In der Schweiz geschah die Entwicklung des Industriekapitalismus ohne nennenswerte sozialpolitische «Abfederung» und ohne Bismarck’sche Rentengesetze, ohne Auslandhilfe, ohne ausländische und inländische Experten, aber mit dem Vorbild der zu jener Zeit ebenfalls liberalen USA und mit der Hilfe von innovativen Emigranten und ausländischem Kapital, das – schon damals – auf rein kommerzieller Basis ohne den leisesten Anflug von Altruismus in die Schweiz floss, allerdings nicht in die Banken sondern in die Industrie.

Die in der Schweiz nach 1848 praktizierte Marktwirtschaft verzichtete auf das Adjektiv sozial, wirkte sich aber de facto sozial aus. Sie wurde auch keineswegs als ein «neues System» empfunden, sondern als das, was natürlicherweise stattfindet, wenn man auf jeden Interventionismus verzichtet, weil dazu – glücklicherweise – die finanziellen und personellen Mittel fehlen.

Dies ist eine wichtige Lehre, die auch in heutigen Transformationsprozessen eine Rolle spielt: Eine leere Staatskasse kann auch eine Chance sein… Neben der Bundesregierung mit 7 Mitgliedern gab es bei der Gründung des Bundesstaates noch 5 weitere Beamte, und die Bundesakten samt Staatskasse konnten auf zwei Ochsenkarren von Luzern nach der neuen Hauptstadt Bern transportiert werden. Heute beträgt – ohne dass diesbezüglich die Verfassung grundlegend geändert worden wäre – die Beamtenquote insgesamt über 15 Prozent der Gesamtbevölkerung von 7 Mio. Einwohnern und die Staatsquote über 40 Prozent. (Auch dies eine Warnung in Richtung Brüssel vor einem diesbezüglichen bundesstaatlichen Wachstums- und Wucherungspotential).

Unser gegenwärtiges verfehltes und nicht zukunftstaugliches Rentensystem ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden. Es ist – wie die meisten sozialpolitischen «Errungenschaften» – ein bedauerliches Relikt der Kriegswirtschaft, das man aber in einer Demokratie einfach nicht mehr loswird.
Die Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann nicht als «Modell» oder als «Testlabor der freien Marktwirtschaft» betrachtet werden, sondern als «Glücksfall» oder – wenn sie wollen – als «Rentnerin» des «Prinzips Neutralität». Wir überlebten dieses kriegerische Jahrhundert in einer günstigen Nische und hatten. vor allem nach dem 2. Weltkrieg, optimale Voraussetzungen als Exportland und Finanzplatz.

Es stört mich immer, wenn dieser Erfolg in unbescheidener chauvinistischer Selbstüberschätzung ausschliesslich auf den Faktor Tüchtigkeit zurückgeführt wird. Wir sollten nicht nur als Schweizer sondern ganz allgemein als Anhänger der Marktwirtschaft den Mut haben, die Bedeutung günstiger Konstellationen richtig einzuschätzen und zuzugeben, dass sie oft über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Was man daraus macht und wie man darauf reagiert ist allerdings eine Sache der Einstellung und nicht eine Sache der äusseren Umstände.

Privat- und Gemeindeautonomie

Ich habe die Eigenständigkeit («keine Hilfe von aussen») und die «öffentliche Armut» als Pfeiler unseres Erfolgs genannt. Not lehrt nicht nur beten, sie weckt auch Phantasie und Leistungsbereitschaft, wenn sie nicht zur Resignation verleitet.

Gewiss gab es auch noch andere Faktoren des wirtschaftlichen und politischen Erfolgs, die bis in die heutige Zeit wirksam sind. Die diesbezügliche Bedeutung der direkten Demokratie wird wohl eher überschätzt. Schrankenlose Demokratie kann die Freiheit, welche den Markt gewähren lässt, auch zerstören. Demokratie kann zwar direkt sein, aber sie muss beschränkt bleiben und Freiheiten und Minderheiten schützen – auch vor der fiskalischen Ausbeutung. Je beschränkter sie diesbezüglich ist, desto direkter kann sie sein, ohne zu degenerieren. Von grösster Bedeutung ist die Gemeindeautonomie, welche Pluralismus und Kooperation verbindet und welche den Zusammenhang zwischen kommunalen Steuern und kommunalen Dienstleistungen stets spürbar macht.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind wir daran, die meisten sozialpolitischen Fehler unserer Nachbarländer in mehr oder weniger moderater Form zu kopieren. Dies ist darum so bedauerlich, weil dadurch tief verwurzelte gewachsene Mentalitäten zerstört werden und weil wir uns aufgrund unseres Reichtums und unserer Kreditwürdigkeit sehr lange in der falschen Richtung der «Welfarization» weiterbewegen können.

Kreative Vielfalt

Die Schweizer haben im 19. Jahrhundert die Erfahrung gemacht, dass eine nicht-interventionistische Wirtschaftspolitik (d.h. eigentlich: der Verzicht auf jede aktive Wirtschaftspolitik, weil es dafür weder Geld, noch Motivation noch Fachleute gab…) verbunden mit tiefen Steuern und einem kleinen Beamtenapparat und dezentralen politischen Strukturen – Erfolg haben kann. Die Vielfalt und das Nebeneinander von zahlreichen geschützten Minderheiten hat sich dabei als etwas Positives erwiesen, aber die Politik konnte sich den Forderungen nach mehr Gleichheit durch entsprechende Interventionen und durch den Aufbau und Ausbau eines immer mächtiger werdenden Umverteilungsapparats nicht wirksam entziehen. Es ist heute angesichts dieser Entwicklung hin zu mehr Interventionismus schwer, nicht dem Pessimismus zu verfallen und jenen Optimismus zu bewahren, der etwa bei Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek spürbar ist.

Hayek hat für mich in einer vorbildlichen Art Ideen und Erfahrungen verbunden. Er gehört für mich daher zu den Wegweisern des liberalen Denkens und Handelns. Bei aller Vorliebe für das Laissez-faire und die Spontaneität, hat er doch immer auf die Verantwortung jener Menschen aufmerksam gemacht, welche wichtige Zusammenhänge entdeckt und neue Lösungsmöglichkeiten erfunden haben: jene Elite der Erfinder und Entdecker, von denen erfolgreiche Lernprozesse abhängen und die in der Regel nicht zur Gruppe der anmassenden und selbsternannten «Intellektuellen» gehören. Sie sind die eigentlichen Wegweiser, die Ideen mit Erfahrungen verbinden und beides an andere Menschen vermitteln können. Hayek hat stets jene vornehme Distanz zu den Dingen gewahrt und jene intellektuelle Bescheidenheit, die ihn und seine Schüler vor dem Machbarkeitswahn der «Sozialingenieure» und vor der Anmassung des Wissens bewahrt haben. Er verfügte über jene – sehr ernsthafte – Spielart des Humors, welche nicht nur die Quelle des Optimismus ist sondern auch ein wichtiger Garant der Freiheit.

Ich bin überzeugt, dass wir auch in der Schweiz, früher oder später einen Transformationsprozess brauchen, um aus der Sackgasse des Verschuldungs-, Umverteilungs- und Bevormundungsstaates herauszufinden, und darum finde ich auch alle Kontakte so wertvoll, die ich heute in Ländern knüpfen kann, welche mitten im Transformationsprozess von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft stecken. In wenigen Jahren können Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen bei uns Wegweiser beschriften und aufstellen und ich freue mich jetzt schon auf den Austausch von weiteren Ideen und Erfahrungen.

Abgedruckt in: Reflexion Nr. 37, 1996, S. 33ff.

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