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Umgang mit knappem Geld und knappem Geist

Lesedauer: 10 Minuten

(NZZ – ZEITFRAGEN – Samstag/Sonntag, 2S./26. Februar 1995 – Nr. 47 – Seite 17)

Aktuelle Herausforderungen des Liberalismus

Die Freisinnig-Demokratische Partei der Schweiz feierte 1994 ihr 100jähriges Bestehen. Der Liberalismus als politische Philosophie ist noch 200-300 Jahre älter, und die Idee der Freiheit, die seine Basis ist, hat ihre historischen Wurzeln im Altertum. Vermutlich ist sie aber noch viel älter, nämlich so alt wie die Vergesellschaftung, die bei einzelnen Menschen den Bedarf an persönlichen Freiräumen bewusst werden liess. Wo steht diese politische Philosophie, die zugleich progressiv und konservativ ist, heute?

Wenn sich alles immer wieder grundlegend ändert, dann muss auch jede Generation ihre politischen Ziele neu formulieren und ihre Programme neu gestalten. Wenn aber das Bleibende stärker ist als der Wandel, dann geht es darum, das Bleibende zu vermitteln und die jeweils notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Die eine Auflassung ist Ausgangspunkt der Progressiven, die andere der Konservativen. Als Liberale wollen wir immer beides sein, und daher sind wir aufgefordert zu sagen, was wir konservativ angehen und was progressiv.

Die Unterscheidung von wertkonservativen und strukturkonservativen Einstellungen kann hier hilfreich sein. Der Liberalismus ist gegenüber den grundlegenden Wertvorstellungen unserer Gesellschaft und unseres Staates konservativ. Trotzdem – oder gerade deswegen – drängt sich gegenüber unseren politischen Strukturen eine nichtkonservative, progressive Einstellung auf. In mancher Hinsicht haben sie sich zwar durchaus bewährt, aber sie schieben eine Fülle ungelöster Probleme vor sich her, für welche die Schulden nur das äussere Zeichen sind. Es besteht hier ein Bedarf nach schrittweiser und grundlegender Veränderung, und es gibt genügend Anzeichen, dass unsere Staatsorganisation und Staatsfinanzierung insgesamt nicht zukunftstauglich ist.

Der Liberalismus ist nirgends verwirklicht

Das Bedürfnis des Menschen, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen auf Grund seiner eigenen Vorlieben und Abneigungen eigenständig, flexibel und mit Freiräumen für Spontaneität zu gestalten, ist etwas relativ Konstantes, das sich in der Zielrichtung auch über Generationen kaum ändert. Trotzdem sind konservativ geprägte Formulierungen wie «Liberalismus – nach wie vor» zumindest missverständlich. Sie suggerieren die Vorstellung von einem «goldenen Zeitalter» der Freiheit, das in der Vergangenheit einmal real existiert habe und dessen endgültigen Niedergang es aufzuhalten gelte. Eine politische Idee entsteht nie im luftleeren Raum. Sie nimmt immer Bezug auf eine gegenwärtige Wirklichkeit und vergleicht diese – rückblickend und vorausschauend – mit andern Möglichkeiten. Wer sich für diese Idee engagiert, reagiert auf das, was in der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Realität vor sich geht, und will gestaltend darauf Einfluss nehmen. Und diese Realität ist es, die sich gewandelt hat und die sich weiterhin rasch wandelt. Was uns herausfordert, ist also nicht der Wertewandel, sondern der Tatsachenwandel, und wir neigen gelegentlich dazu, die beiden Dinge zu verwechseln.

Wir stehen vor der gemeinsamen Aufgabe, dauerhafte Werte in einem rasch und grundlegend veränderten tatsächlichen Umfeld wirksam zur Geltung zu bringen. Wenn wir nun bei klassischen Liberalen, wie etwa Ludwig von Mises, nachlesen, was sie zu einer liberalen Wirtschaftspolitik äussern, so wird uns bewusst, wie weit wir von solchen liberalen Zielvorstellungen entfernt sind, die übrigens auch in jener Zeit, in der sie formuliert worden sind, keineswegs verwirklicht waren. Die liberale Herausforderung besteht nicht in der Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes, sondern in der Schaffung von freiheitlichen Verhältnissen, die es in dieser Form noch nie dauerhaft gegeben hat.

Wandlung des Liberalismus

«War in früheren Tagen das Erreichen des Gemeinwohls das äusserlich erkennbare Zeichen liberaler Massnahmen (was in jedem Fall durch den Abbau von Schranken geschah), so ist heute das Gemeinwohl zu einem Ziel geworden, das die Liberalen nicht mehr indirekt durch Schrankenabbau, sondern direkt erreichen wollen. Und weil sie es direkt anzielen, wenden sie Methoden an, die den ursprünglichen im Kern zuwiderlaufen.»

Herbert Spencer
The Man versus the State (1884)

Zur geistigen Situation

Es bereitet Mühe, angesichts der fortschreitenden Verwohlfahrtsstaatlichung, Bevormundung und Reglementierung die selbstgerechte und zufriedene Haltung jener Liberalen zu teilen, die den Liberalismus für «weitgehend verwirklicht» halten. Die erwähnte Formel «Liberalismus – nach wie vop>; ist daher zu defensiv und zu stark auf die Vergangenheit ausgerichtet. Das in der jetzigen Zeit aktuelle Motto wäre eher: «Lasst uns einen liberalen Anfang machen» . . . oder: «Liberalismus -jetzt erst recht».

Die Herausforderungen, vor denen der Liberalismus heute steht, betreffen zwei Bereiche, die enger miteinander verknüpft sind, als es auf den ersten Blick scheint: Geld und Geist. Die geistigen Herausforderungen sind eher theoretisch und allgemein, während die finanziellen Herausforderungen auch eine sehr praktische und tagespolitische Seite haben. Der Zusammenhang besteht darin, dass beide Ressourcen knapp sind. Es fällt schwer zu entscheiden, welche Knappheit in unserem Staat gegenwärtig die grössere Herausforderung an den Liberalismus darstellt.

Nach dem Bankrott des Staatssozialismus und des Sowjetimperiums 1989 liegt der kalte Krieg hinter uns. Wir stehen vor der Herausforderung, mehr zu bieten als nur die Ablehnung des sozialistischen Totalitarismus. Im Bereich der politischen Grundsatzdiskussion sind wir im Begriff, von der kleinen, aber kreativen liberalen bzw. libertären Elite in Ostmitteleuropa überholt zu werden. Ob dieses Überholen «links» oder «rechts» ist, lässt sich kaum entscheiden, denn die beiden Begriffe sind in diesem Zusammenhang unbrauchbar geworden. Hier liegt die erste grosse Herausforderung an den Liberalismus: die Herausforderung zur neuen liberalen Radikalität. Wir müssen uns aus den bequemen Koalitionen mit Bindestrich-Liberalismen herauslösen. Der Liberalismus ist heute «eingeschmolzen» in eine politische Legierung, die den Test der Dauerhaftigkeit nicht überstehen wird. Es besteht ein dringender Bedarf an radikaler Besinnung auf das Grundsätzliche und Notwendige, und wir müssen den Mut aufbringen, Unpopuläres zu sagen, um nicht mitverantwortlich zu sein an der schleichenden schrittweisen Aushöhlung liberaler Substanz.

Ausstieg aus aufgezwungenen Denkmodellen

In der ideologischen Auseinandersetzung ist nach dem kalten Krieg eine neue Situation entstanden. Es gilt heute auszusteigen aus den falschen Denkmodellen, die den Liberalen von ihren ideologischen Gegnern aufgezwungen worden sind. Die Linke hat für sich selbst zunächst den technisch-zivilisatorischen Fortschritt reklamiert, dann das soziale Element und schliesslich das ökologische. Der real existierende Sozialismus hat nun aber in allen drei Bereichen ein gründliches Versagen demonstriert. Die bürgerlichen Nichtlinken haben sich jahrzehntelang als konservativ, unsozial und unökologisch abstempeln lassen und allzu oft nur aus der Defensive argumentiert. Das falsche Schema: links = kollektiv, gemeinschaftlich, solidarisch, sozial, friedliebend, ökologisch und «am öffentlichen Interesse orientiert», rechts – individuell, privat, konkurrierend, egoistisch, profitorientiert, kriegerisch, naturfeindlich und «am privaten Interesse orientiert », wurde in der Zeit des kalten Krieges je einem weltpolitischen Block zugewiesen, wobei auf der linken Seite zugegeben wurde, dass der «real existierende Sozialismus» nicht – beziehungsweise noch nicht – seinen Idealen entspreche. Der real existierende Kapitalismus führte und führt – nach Auffassung der Linken – nicht wegen Abweichungen vom Ideal, sondern wegen seiner konsequenten Verwirklichung in die Sackgasse der Anspruchs- und Ellbogen- und Umweltzerstörungsgesellschaft und in die Kriminalität und Verslumung amerikanischer Grossstädte. Dieses Blockdenken und die gefährliche Gegenüberstellung von inkommensurablen Idealen und Realitäten enthielt auch die grosse Versuchung für die Liberalen, nach einem «dritten Weg» zu suchen, der das «Positive von beiden Seiten» verbindet. Hier gilt es einen neuen, besseren Ansatz zu verfolgen: den des klassischen radikalen Liberalismus, der noch nirgends unverfälscht verwirklicht worden ist.

Der Hauptfehler, den die Liberalen immer wieder machten, besteht darin, dass sie das fragwürdige Grundschema der ideologischen Links- Rechts-Diskussion akzeptierten und beweisen wollten, dass sie ja auch noch ein bisschen gemeinschaftlich, sozial, friedliebend und ökologisch usw. seien und durchaus bereit wären, diesbezüglich Abstriche an den eigenen Grundsätzen zu machen. Von dieser kleinmütigen und unnötigen Kompromissbereitschaft und Anbiederung nach allen Seiten gilt es jetzt Abschied zu nehmen, indem man klar feststellt, dass der Liberalismus nicht dank Anleihen bei seinen Gegnern, sondern dank seinen eigenen Grundsätzen – und gemessen am längerfristigen Resultat – die freie Gemeinschaft freier Menschen fördert, die auch die sozialen Verhältnisse verbessert. Er tut dies nicht trotz der Wahrung privater Interessen, sondern wegen der Wahrung privater Interessen, denn es existiert ein eminentes öffentliches Interesse an deren Schutz im Rahmen der Privatautonomie. Die bei Juristen so beliebte Interessenabwägung beruht auf fragwürdigen Voraussetzungen. Die Verwirklichung sozialer Ideale ist bei einer überwiegend «öffentlichen» Interessenwahrung dh u r c den demokratischen Staat, der die jeweils vorherrschenden Gruppeninteressen repräsentiert, schlecht aufgehoben.

Gesetzlicher Zwang zum Guten?

Eine technisch-zivilisierte arbeitsteilige Gesellschaft ist allerdings hoch komplex und kann allein auf der Basis individueller Interessenwahrung nicht existieren. Das wissen auch liberale Theoretiker wie F. A. von Hayek. Die Grundfrage lautet nicht «Individuum oder Gemeinschaft», sondern «Gemeinschaft durch gesetzlichen allgemeinverbindlichen Zwang oder Gemeinschaft durch freiwillige flexible Vereinbarungen». Die durchaus wünschenswerten und notwendigen sozialen Netze müssen aus liberaler Sicht – wenn sie längerfristig funktionieren sollen – privatautonom durch immer wieder neu adaptierte vielfältige Verträge und nicht durch den vereinheitlichenden und schwer änderbaren gesetzlichen Zwang geknüpft werden. Kollektiver Zwang zerstört mittel- und langfristig die Bereitschaft zu sozialem Verhalten und ist daher im Effekt ein Promotor des Asozialen, Egoistischen. Die Liberalen sind nicht einfach dem Individualismus verfallen, aber sie setzen für die notwendige und positiv bewertete soziale Vernetzung der Menschen auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Folgerichtig lautet daher der ideologische Gegensatz nicht «individuell» gegen «kollektiv», sondern «freiwillig gemeinschaftlich» gegen «erzwungen gemeinschaftlich».

Soziales Verhalten, Rücksichtnahme gegenüber den Schwachen, Hilfsbereitschaft, Dienstbereitschaft und Dankbarkeit sind aus liberaler Sicht durch die Ethik zu gewährleisten und nicht durch die Gesetzgebung, weiche immer nur das ethische Minimum erzwingen kann, um den Preis, dass die Bereitschaft zu ethischem Verhalten insgesamt abnimmt.

Die Begründung dafür ist weniger eine ideologische als eine praktische, auf die Erfahrung gestützte. Ethik beruht ihrem Wesen nach auf Freiwilligkeit, und es stimmt nachdenklich, wenn sich angesichts des heutigen Ethik-Booms überall Leute zusammentun, die sich selber für besonders ethisch halten und die möglichst viel von ihrer Ethik von Gesetzes wegen den andern zwingend vorschreiben möchten. Gesetzlicher Zwang zum Guten ist nicht aus prinzipiellen Überlegungen abzulehnen. Er ist abzulehnen, weil er keinen Er- folg verspricht. Er wirkt nicht bzw. er bewirkt das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt. Die entscheidende Frage ist hier nicht eine moralische: «Was ist gut, und was ist böse?», sondern eine praktische: «Was bewirkt etwas?» oder, wie der Amerikaner sagt: «Does it work?»

Staatsfinanzen – Engpass oder Sackgasse?

Das «Loch in der Staatskasse» ist nicht einfach eine aktuelle Panne, sondern ein Symptom für die fehlerhaften oder fehlenden Bremsen beim demokratisch gesteuerten und von Liberalen mitverantworteten Wohlfahrtsstaat. – Hier genügt es heute nicht mehr, einzelne Budgetposten zu streichen und über Steuerprozente und Altersgrenzen zu streiten. Wir sind in einer Situation, die man als Engpass oder sogar als Sackgasse bezeichnen kann. In dieser Situation müssen wir einerseits tagespolitisch präsent bleiben und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir als Liberale nicht mit leeren Händen dastehen, wenn bei einem grundlegenden Wandel der Tatsachen – etwa bei einem finanziellen Zusammenbruch der Gemeinwesen – Rüstzeug für einen Neubeginn gefragt ist.

Als Antwort auf diese Herausforderung gibt es keine Patentrezepte. Das Stichwort «Sparen» ist missverständlich, da es ja nicht darum geht, Geld auf die Seite zu tun für künftige Aufgaben und Ausgaben, sondern darum, grundsätzlich weniger auszugeben. Auch die heute modischen Begriffe wie Sanierung und Revitalisierung tönen allzu sehr nach hilflosem Flickwerk. Ein schwerwiegendes Problem besteht darin, dass sich eine grundlegende Änderung rprimä im Sozialbereich aufdrängt und dass kein Politiker, der wieder gewählt werden ,will den Mut hat, hier Klartext zu reden. Man wettert zwar gegen das Giesskannenprinzip, hält sich aber beim Streichen von Beiträgen an jene Randgruppen, die kein Wählerpotential haben (Ausländer, Osteuropakredite), und sorgt dafür, dass die Giesskanne eine möglichst grosse Zahl aus dem eigenen Wählerpotential erreicht (AHV-Revision). Dieses Verhalten beruht weniger auf Charaktermängeln bei den Volksvertretern als auf Mängeln unseres politischen Systems.

Neue Sicht der Subsidiarität

Die notwendige Entlastung des Staatshaushaltes kann nur durch eine Entlastung des Staates von Aufgaben stattfinden, und man kann Ausgaben nur streichen, wenn man auch Aufgaben streicht. Staats- und Politikerschelten sind heute Mode. Konstruktiver wäre es, wenn wir Liberale dem Staat und den Politikern Hilfe leisten würden, indem wir Wege zeigen, um aus dem Teufelskreis der Anspruchsinflation herauszukommen. Man hat die Formel «Weniger Staat – mehr Selbstverantwortung» oft als staatsfeindlich gedeutet. Es gibt aber nichts Staatserhaltenderes als die Redimensionierung und die Rückführung zu jenen Aufgaben, die der Staat wirklich befriedigend erfüllen kann, und die Entlastung von jenen Aufgaben, die ihn überfordern und ins Versagen manövrieren. Dies ist vor allem bei der Verteilung und Umverteilung des Wohlstandes, beim Organisieren tragfähiger sozialer Netze und bei der Vermittlung von Lebenssinn der Fall.

Das Subsidiaritätsprinzip wurde ursprünglich für die Abgrenzung der Aufgaben zwischen Individuum und Gemeinschaft formuliert Es postuliert, dass eine Aufgabe nur dann von der Gemeinschaft übernommen werden muss, wenn sie vom Individuum nicht mehr befriedigend erfüllt werden kann. Als Liberale interessiert uns das Prinzip vor allem im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung von «privat» und «staatlich», und im politischen Bereich wird es heute vor allem für das Schwarzpeterspiel zwischen staatlichen Hoheitsträgem (Gemeinde, Kanton, Bund, internationale Zusammenschlüsse) verwendet.

Am Prinzip selber ist nichts auszusetzen, aber es funktioniert gegenwärtig nur als Einbahnstrasse in Richtung Zentralität,- denn nichts ist leichter als der Nachweis, man könne angesichts der leeren Kassen und der überlasteten Behörden eine öffentliche Aufgabe nicht mehr befriedigend erfüllen. Aus liberaler Sicht gilt es nun, diese Einbahntafel umzudrehen und zu zeigen, dass Aufgaben wirklich auf der «tiefst möglichen», «problemnächsten» Stufe zu lösen sind und dass man sie gegebenenfalls dorthin zurückgeben muss, auch mit dem Risiko, dass dadurch Lücken entstehen. Die entscheidende Schnittstelle ist zwischen dem Staat einerseits und wirtschaftlichen und soziokulturellen Organisationen andererseits. Das Postulat der Trennung von Staat und Gesellschaft muss in seiner Bedeutung neu erkannt werden, es ist gleichrangig mit dem Postulat des Schutzes der Individualrechte.

Die Famille soll den Staat entlasten, nicht umgekehrt

Der Staat muss sich einfach weigern, alle Folgeprobleme zu lösen, die im wirtschaftlichen und sozialen Bereich anfallen. Im «Jahr der Familie» hat man Dutzende von Vorschlägen gehört, wie der Staat die Familie zusätzlich unterstützen könnte – vor allem mit Geld (das nicht vorhanden ist). Das eigentliche Thema wäre aus liberaler Sicht und gestützt auf die hier vertretene Auffassung vom Subsidiaritätsprinzip: Wie kann die Familie den Staat entlasten? Die Familie ist nicht grundsätzlich ein «Sozialfall», sie leidet eher an Unterforderung, was nicht heisst, dass es nicht einzelne Familien gibt, die wirklich Hilfe brauchen – notfalls auch vom Staat. Unser Wohlfahrtsstaat leidet darunter, dass er über das «Giesskannenprinzip» einer grossen Zahl helfen will und dadurch Abhängige schafft bzw. Anhänger von Unterstützungssystemen und damit von jenen Politikern, welche sie vertreten. Wir sollten die Strukturen so ändern, dass wir wieder den 5 bis 10 Prozent wirklich Bedürftigen, die es in jeder Gesellschaft gibt, mit den stets begrenzten staatlichen Mitteln helfen können.

Wir stehen vor einem grossen Bedarf an Privatisierung bzw. an Entstaatlichung. Ein Teil der heute mit öffentlichen Mitteln und Monopolen erfüllten Aufgaben kann besser oder ebensogut von wirtschaftlichen Trägem, d. h. vom Markt, gelöst werden, wenn der Staat die richtigen Voraussetzungen schafft. Zu denken ist hier nicht nur an den klassischen Infrastrukturbereich öffentlicher Betriebe wie PTT und SBB, sondern vor allem auch an die Bereiche Sozialwesen, Gesundheitswesen und höhere Bildung und Ausbildung. Ein Teil dieser Aufgaben lässt sich allerdings nicht im engem Sinn «verwirtschaftlichen». Die Gesellschaft besteht aber nicht nur aus Staat und Wirtschaft, sondern auch aus sozialen Gemeinschaften wie der Familie. Entstaatlichen heisst also nicht nur verwirtschaftlichen, es heisst auch vergesellschaften, d. h. «sozialisieren» im besten und ursprünglichen Sinn. Die Privatautonomie steht dabei im Mittelpunkt Der Staat, dem die menschliche Eigenschaft, sich sozial zu verhalten, abgeht, kann dafür nur den notwendigen Ordnungsrahmen gewährleisten.

Angesichts dieser Herausforderungen ist wohl klargeworden, dass es keinen Grund gibt, zu behaupten, der Liberalismus sei «weitgehend verwirklicht ». Im Gegenteil – wir stehen vor einem grossen Handlungsbedarf. Man kann ihn als Engpass definieren, bei dem es mit etwas mehr Kraft und Druck in derselben Richtung weitergeht; man kann aber auch vom Bild der Sackgasse ausgehen, in die wir dh u r c allseitige Konzessionen gelockt worden sind und die eine Umkehr notwendig macht, bevor der freiheitliche Weg in die Zukunft beschritten werden kann.

Subsidiaritätsprinzip

«Die Besorgung der Geschäfte aller ist die Sache aller . . . Was hingegen nur einen Teil angeht, muss von diesem Teil entschieden werden; und was nur den einzelnen betrifft, ist nur diesem vorbehalten. Man kann es nicht genügend oft wiederholen: der Gemeinwille, sobald er über seine Sphäre hinaustritt, ist nicht schützenswerter als der private Wille.»

Benjamin Constant (1767-1830)
Œuvres Politiques

«Es ist nicht recht, dass der Bürger oder die Familie völlig im Staate aufgeht . . . Daher soll jedermann seine Handlungsfreiheit behalten, soweit dies unbeschadet des Gemeinwohls und ohne Beeinträchtigung der Rechte eines anderen geschehen kann.»

Papst Leo XIII.
Enzyklika Rerum Novarum (1891)

«. . . wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstösst es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen . . . Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.»

Papst Pius XI.
Enzyklika Quadragesimo Anno (1931)


Der Verfasser leitet das «Liberale Institut» in Zürich. Der Text ist eine überarbeitete Fassung des Einleitungsreferats zu einem Liberalismus-Seminar der Liberalen Partei Luzern.

NZZ 25.02.1995, Seite 17

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