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Keine Freiheit ohne Verantwortung – keine Verantwortung ohne Freiheit

Lesedauer: 17 Minuten
Redigierte und erweiterte Fassung eines am 17. März 1994 bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Berlin gehaltenen Vortrags, sowie eines Beitrags in «Freiheit und Verantwortung», Jahrbuch für politische Erneuerung 1995, Wien 1994

Originalquelle: «Die Enkel des Perikles», Liberale Positionen zu Sozialstaat und Gesellschaft, Hrsg. von Roland Baader, Gräfelfing 1995, Resch Verlag, S. 127 – 141

Die Aussage in der Überschrift ist weder besonders neu noch besonders umstritten. Sie gehört zum Repertoire liberaler Rhetorik und eignet sich wegen ihrer Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit für parteipolitische Grundsatzerklärungen. Gibt es überhaupt noch etwa zu erklären? Die beiden Begriffe, mit denen operiert wird, sind vieldeutig und geschichtlich derart befrachtet und belastet, dass jede Definition als schreckliche Vereinfachung erscheinen muss. Trotzdem sollte sich niemand vor diesem Versuch drücken, der die subtilen Zusammenhänge von Freiheit und Verantwortung unter die Lupe nimmt.

Vielleicht kann man der Gefährlichkeit einer Definition entgehen, wenn man Zuflucht nimmt zur aphoristischen Annäherung in Form eines Paradoxes. Freiheit ist jene Idee, die stets gleichzeitig unendlich bedroht und unendlich resistent ist. Damit ist nicht viel Konkretes erklärt, aber es wird dadurch immerhin eine konkrete Umschreibung der Freiheit und damit des Liberalismus ermöglicht. Liberalismus wäre jene politische Grundhaltung, die um die unendliche Bedrohung weiss – und deshalb vom Staat Schutz der Freiheiten und Rechte erwartet – und an die unendliche Resistenz glaubt. Auch mit dem Begriff Verantwortung sind im Lauf der Geschichte schon verschiedene Vorstellungen verknüpft worden. Das Wort ist bereits eine komplizierte Zusammensetzung., und es weckt nicht jene positiven Assoziationen wie das Zauberwort «Freiheit», in dessen Namen schon so viele Verbrechen verübt worden sind.

Freiheit wird als eine Errungenschaft erlebt, als etwas, das man auf dem Weg zur Mündigkeit schrittweise – und oft nicht ohne äussere und innere Kämpfe – erlangt. Die pädagogische Begleitmusik, die dabei ertönt, lautet in ihrem Refrain: «Du darfst frei sein – mach was du willst, aber – du musst die Folgen tragen», Verantwortung – ganz im Sinne von Max Webers Verantwortungsethik – als das Einstehen-müssen und das Einstehen-wollen für die Folgen unseres Verhaltens.

Das ökonomische Pendant zu diesem ethischen Grundsatz ist der Satz von Milton Friedman «There ain’t no such thing as a free lunch» – so etwas wie eine Gratismahlzeit gibt es nicht. Das Aufzeigen dieser Zusammenhänge gehört zur Propädeutik einer liberalen Lebensschule: Freiheit als gegenseitiges Zugeständnis, als «Zuckerbrot», und Verantwortung als gegenseitige Zumutung, als «Peitsche»; die Freiheit als belohnender Preis für den Fleiss im «Schulfach Verantwortung». So haben wir es selbst erlebt und so sind wir daran, es unseren Kindern wieder zu vermitteln: «Du wählst zwar frei, aber wenn du nicht das wählst, was ich für richtig halte, so ist dies unverantwortlich, und was verantwortlich ist, das bestimme ich…» «0 Freunde, nicht diese Töne», möchte man da – auch sich selbst – zurufen.

Autoritäre Wurzeln der Verantwortung

Wer mit dem Begriff Verantwortung autoritär operiert, hat vielleicht den ersten Teil des Themas «Keine Freiheit ohne Verantwortung» begriffen, aber zu wenig über den zweiten Teil, «Keine Verantwortung ohne Freiheit» nachgedacht. Möglicherweise ist die erwähnte Aversion gegen alle erzieherischen Drohgebärden rund um die Verantwortung ein pädagogischer Spätschaden oder ein ganz persönlicher anarcho-libertärer Reflex. Ein Rückblick in die komplexe Geschichte des Verantwortungsbegriffs mag aufzeigen, was hier auf Vorurteilen und was auf Urteilen beruht. In seiner Monographie über Zurechnung und Verantwortung schreibt Max Offner im Jahr 1904 folgendes: Die Verantwortlichkeit eines Menschen besteht in der Möglichkeit, zur Verantwortung gezwungen zu werden, d.h. in der Möglichkeit, dass er, falls sein Handeln als gewissen Forderungen widersprechend betrachtet wird, von dem Vertreter jener Forderungen genötigt wird, vor ihm den Nachweis zu liefern, dass jene Handlung in Wahrheit jenen Forderungen nicht widerspricht.» Verantwortung wird also hier ganz direkt mit Zwang verbunden.

Wer also verantwortlich handeln will, muss den Beweis erbringen, dass er die von aussen (von der Obrigkeit, oder von der Wissenschaft oder von anderen angemassten Autoritäten) an ihn herangetragenen «gewissen Forderungen» erfüllt. Es ist nicht mehr alles erlaubt, was nicht verboten ist, sondern es ist alles verboten, was gewissen, im Namen der Verantwortung erhobenen Forderungen widerspricht. Einen eindrücklicheren Beweis für die Berechtigung liberaler Skepsis gegenüber dem Begriff der Verantwortung hätte ich kaum finden können…

Skepsis eignet sich zwar als Ausgangspunkt oder als Zwischenstation einer begriffsgeschichtlichen Exkursion, aber sie sollte nicht das Reiseziel sein. Offner hat 1904 nicht das letzte Wort über die Verantwortung geäussert.

Viel Gescheites, aber wenig Erhellendes lässt sich in Wilhelm Weischedels Schrift mit dem Titel «Das Wesen der Verantwortung» (Frankfurt a.M. 1933, 3. Aufl. 1972) finden. Weischedel unterscheidet mit der Akribie eines deutschen Philosophieprofessors das soziale und das religiöse Phänomen der Verantwortung und die Selbstverantwortung, eine besonders vertrackte, aber vielleicht notwendige Begriffskonstruktion, die er dann durch ganze Begriffshierarchien über «Grundverantwortung» und «Grundselbstverantwortung» differenziert. Wir finden bei ihm etwa folgende Passage: «Ich verantworte mich, das bedeutet also: ich hole mich, mich zurückbiegend, in das entgegnende Offenbarmachen hinein» (S. 16). Es ist zwar hier nicht mehr von Zwang die Rede, aber das Zurückbiegen wirkt ebenfalls nicht besonders freiheitlich.

Wer in diesem Sinn zur Verantwortung gezogen wird, steht als Angeklagter vor einer höheren Instanz. Er hat als grundsätzlich Schuldiger seine Unschuld zu beweisen, und er muss jenen schwierigen Nachweis erbringen, mit seinen Handlungen gewisse Forderungen erfüllt zu haben, ein Nachweis, der im Bereich der Ethik umso schwerer fällt, je höher die Anforderungen sind.

Freiwilligkeit als Wesensmerkmal der Verantwortung

Den wirklichen «Trost der Philosophie» habe ich – nach einigen Umwegen – schliesslich bei Walter Schulz gefunden. Er liefert einen Beweis für das, was Sigmund Freud den «Gegensinn der Urworte» genannt hat: Grundbegriffe sind deutungsbedürftig und deutungsfähig. Sie können auch das Gegenteil dessen bedeuten, was im Lauf der Geistes- und Begriffsgeschichte behauptet worden ist. Schulz umschreibt in seiner «Philosophie in der veränderten Welt» (Pfullingen, 1972, S. 852) Verantwortung folgendermassen: «Verantwortung ist das Wesensmerkmal der ‹ethischen Einstellung›, das heisst des Engagements, in dem ich mich entschliesse, von mir aus in das Geschehen handelnd überhaupt eingreifen zu wollen. Dieser Entschluss ist nur in Freiheit und aus Freiheit vom einzelnen zu leisten; zu ihm kann keiner gezwungen werden. Er ist jedoch die unausweichliche Bedingung und Voraussetzung für alles konkrete ethische Verhalten. Das ethische Engagement muss gerade heute besonders betont werden, weil Ethik in der Gegenwart an den Rand geraten ist.» Damit wären wir also beim zweiten Teil unseres Themas, «keine Verantwortung ohne Freiheit», und wir haben allen Grund zur liberalen Aussöhnung mit dem Begriff der Verantwortung – gegen Offner und mit Schulz.

Zurechnungsfähigkeit und Mündigkeit

Verantwortung ist der Preis der Zurechnungsfähigkeit, und die Zurechnungsfähigkeit ist ein wesentliches Merkmal und eine wesentliche Eigenschaft des mündigen Menschen. Verantwortung kann man aber auch – durchaus in der autoritären Deutung von Offner – andern Menschen übertragen oder abnehmen.

Auf diesem Hintergrund verstehe ich es sehr wohl, wenn etwa ein zentrales Motiv in Wolfgang Borcherts Nachkriegsstück «Draussen vor der Tür» die Rückgabe der Verantwortung ist. «Herr Oberst, ich gebe Ihnen die Verantwortung zurück.» Ja, diese Art von erzwungener Verantwortung, sich «gewissen Forderungen» nicht zu widersetzen, müssen wir als Liberale zurückgeben, mehr noch: zurückweisen.

Verantwortung kann – wie Schulz zu Recht hervorhebt – nur in Freiheit übernommen werden, und es ist ein Eingriff in die Freiheit des andern, wenn wir ihn gegen seinen Willen «für etwas verantwortlich machen». Freiheit sollte zwar, wie Rosa Luxemburg zu Recht fordert, immer auch die Freiheit des andern meinen, aber Verantwortung müssen wir – wenn immer möglich – selber übernehmen, selber tragen.

Wenn wir einem Menschen die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ab-sprechen, ist dies ein Eingriff in seine Freiheit. Solche Eingriffe können notwendig sein, wenn die Zurechnungsfähigkeit vermindert ist, beziehungsweise noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Ein Eingriff in die Freiheit und Würde des Menschen ist es auch, wenn wir ihm die Fähigkeit, Verantwortung zu tragen, abnehmen oder in einem entmündigenden Ausmass vermindern. Die Übernahme von Verantwortung bedeutet das Eingehen auf Chancen und Risiken. Aus liberaler Sicht müssen wir unsere mündigen Mitmenschen gar nicht erst für etwas «verantwortlich machen», sie sind es bereits. Das Einstehenmüssen für die Folgen unseres Verhaltens gehört in eine Gesellschaft, die Freiheit zulässt und schützt, zur «condition humaine».

Haftung, die erzwingbare verbindliche Verantwortung

Die Privatrechtsgesellschaft kennt seit ihren Anfängen in der Antike die systematische Verknüpfung von Person, Eigentum, Vertrag und Haftung. Das Haftpflichtrecht ist nichts anderes als der «rechtliche Aspekt» der Verantwortung.

In diesem Umfeld wird auch die bisher reichlich geäusserte Skepsis gegenüber dem Zwang wieder relativiert. Das ethische Minimum, das die Rechtsordnung garantiert, soll durchaus erzwingbar sein. Die liberale Skepsis gegenüber jedem Zwang darf nicht in eine anarchistische «Zwangsphobie» ausarten. Zwang ist – wenn er auf das Notwendigste beschränkt bleibt – in einer Gesellschaft unverzichtbar.

Erst die Dosis macht das Gift, sagte schon Paracelsus. Und hier öffnet sich das weite Feld liberaler Politik: beim richtigen Umgang mit dem Zwang. Zwang stört und zerstört Freiwilligkeit, Selbstverantwortung und Eigeninitiative, und Zwang macht süchtig, weil man die mit Zwang verbundenen Misserfolge stets auf ein «Zuwenig» an Zwang zurückführen kann. Zwang macht Kontrolle und Durchsetzung durch Zwang nötig und perpetuiert sich damit selbst.

Zwang und die Sucht nach mehr Zwang

Bei jedem Ausbau des Zwangs, der mit dem Versagen der Freiwilligkeit begründet wird, verschwindet ein weiteres Stück Freiwilligkeit – ein Teufelskreis. Darin liegt einer der Gründe für die sogenannte «Gesetzesflut» und für den Perfektionismus bei der immer differenzierteren Gewährleistung der «austeilenden Gerechtigkeit», die ein «Fass ohne Boden» ist. «Zwang macht süchtig nach mehr Zwang», könnte man auch sloganartig sagen. Und doch ist Zwang auch für uns Liberale ein wichtiges Medikament, vielleicht sogar ein Lebensmittel. Der liberale Rechtsstaat will zwar Autonomie ermöglichen, aber keine Anomie dulden. Das Recht als «ethisches Minimum» soll erzwingbar sein, aber es muss ein abgrenzbarer und begrenzter Bereich des gesellschaftlichen Kommunikations- und Interaktionsverhaltens bleiben – klein, klar und übersichtlich und – wenn immer möglich – einer «Konkurrenz der Systeme» ausgesetzt.

Dies ist kein Votum gegen Internationalisierung und Europäisierung. Aber je genereller Normen sind, desto leichter lassen sie sich international vernetzen. Deregulierung ist aus diesem Grund meist besser als harmonisierende Reglementierung. Ein zweites Mal unterstreiche ich hier das liberale Postulat nach einem «limited government». Beschränkt sei die Staatsgewalt nicht nur im Hinblick auf ihre Machtfülle, sondern auch in Bezug auf ihre gesamtgesellschaftliche Zuständigkeit. Aus liberaler Sicht soll die rechtlich erzwingbare Verantwortung (Haftpflicht) klar getrennt werden von der stets nur freiwillig anzubietenden sittlichen Verantwortung. Wir dürfen in das unendlich komplexe Netz z.T. konkurrierender Verantwortlichkeiten nur im Notfall steuernd eingreifen. Wenn es etwas zu ändern gibt, dann ist es der Abbau von Zwängen, welche die freiwillige Übernahme von Verantwortung behindern oder vereiteln.

Man ist verantwortlich für das, was man liebt

Die beste Charakterisierung der Verantwortung habe ich nicht bei den Philosophen gefunden, sondern bei einem Poeten, der nicht einmal zu den ganz Grossen zählt: im «Petit Prince» von Antoine de Saint-Exupery. «On est responsable pour ce qu’on a apprivoise», man ist verantwortlich für das, was man sich vertraut gemacht hat und darum liebt. Dies ist ein kurzer und deutlicher Hinweis auf das Prinzip und auf dessen Abgrenzung.

Verantwortung kann nur übernommen werden, wenn sie abgrenzbar bleibt. Niemand kann allverantwortlich sein, und nichts strapaziert die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung mehr als der penetrante Hinweis auf ein weltumfassendes Gesamtsystem, welches eine globale Fernstenliebe voraussetzt und allen Menschen permanent ein Gefühl der Schuld an allem Elend der Welt vermittelt. Diese Spielart der Totalverantwortung ist letztlich auch aus religiöser Sicht anmassend.

Früher oder später neigen Menschen, die sich für alles und jedes mitverantwortlich fühlen, zur Resignation, und diese Resignation stumpft ab und «immunisiert» dann auch gegenüber dem Elend in nächster Nachbarschaft und gegenüber der Hilfebedürftigkeit in der eigenen Familie. Der Hinweis auf die Verknüpfung der Verantwortung mit der stets persönlichen Liebe, mit dem Prinzip der Personalität, ist etwas ganz Zentrales.

Von der Personalität zur Subsidiarität

Für mich liegt hier der Ansatzpunkt für die Kritik am Sozialstaat. Die katholische Soziallehre geht von den drei Prinzipien. «Personalität», «Subsidiarität» und «Solidarität» aus. Für alle drei Prinzipien spielt das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung eine entscheidende Rolle, und vielleicht geht jedes Prinzip auch von jeweils verschiedenen Deutungen des Verantwortungsbegriffs aus. Ich habe andernorts schon dargelegt, wo bei dieser «Dreieinigkeit» die Verwandtschaft mit dem Liberalismus liegt und wo Probleme auftauchen. (Die katholische Soziallehre vom Standpunkt eines Liberalen, in: Reflexion Nr. 30, Zürich 1993, S. 5 ff.) Das Prinzip der Personalität geht von einem Menschenbild aus, das die Verantwortung des Menschen vor Gott und seinen Mitmenschen anerkennt und die Freiwilligkeit der Entscheidung zum Glauben ins Zentrum stellt. Solange daraus keine ethischen Forderungen von Menschen gegenüber Menschen autoritär und allgemeinverbindlich erhoben werden, ist das Personalitätsprinzip auch für Liberale massgebend.

Im Zusammenhang mit der Dialektik von Freiheit und Verantwortung möchte ich an dieser Stelle ein paar pointierte Bemerkungen zur Subsidiarität anbringen. Bei der Subsidiarität geht es ja letztlich um die Abgrenzung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung in einem hierarchisch aufgebauten System – kurz: um das Verhältnis von Verantwortung, Autonomie und Herrschaft. Seit dem Vertrag von Maastricht hat das Subsidiaritätsprinzip eine gewisse Berühmtheit erlangt. Es besagt, dass eine Aufgabe erst dann an eine grössere Gemeinschaft übertragen werden soll, wenn sie auf unterer Stufe nicht mehr lösbar ist.

Ursprünglich war damit die Abgrenzung zwischen dem Staat und den Privaten gemeint, und erst später wurde der Begriff für die Teilung der Verantwortung im Stufenbau staatlicher Hoheitsträger verwendet – und missbraucht. Die Krux des Prinzips besteht darin, dass es – vor allem im Zeitalter der «leeren Kassen» und der komplexen überlappenden Probleme – nichts Leichteres gibt als den Nachweis, eine Aufgabe sei auf unterer Stufe nicht mehr lösbar. So ist ein Prinzip, das an sich für die dezentrale Problemlösung sorgen sollte, zu einer Einbahnstrasse in Richtung Zentralverwaltung geworden.

Die Aufgaben werden nach oben abgeschoben, nach dem Motto «Herr Oberst, ich gebe Ihnen die Verantwortung zurück», und die Aufgaben werden nach oben gezogen mit der Begründung «dafür bist du zu klein» oder «zu wenig verantwortungsbewusst» (im fragwürdigen autoritären Sinn des Wortes).

Eine anti-zentralistische Definition der Subsidiarität

Im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung, wo es darum geht, die Verantwortung an den Ort zurückzuführen, wo das ist, was man sich vertraut gemacht hat, was man kultiviert und bildet, was man liebt, gibt es daher nur einen vertretbaren Entscheid. Die «Einbahntafel» des real existierenden Subsidiaritätsprinzips muss umgedreht werden. Die «Flucht in den grösseren Verband» löst keine Probleme, sondern verdrängt und verschleiert sie und macht sie letztlich noch schwerer lösbar als auf unterer Stufe. Aus liberaler Sicht muss das Subsidiaritätsprinzip folgendermassen umformuliert werden:

Wenn man ein Problem in einer grösseren Gemeinschaft für nicht lösbar hält, so soll es an die nächsttiefere Stufe zurückgegeben werden. Mit anderen Worten: Entzentralisieren, deregulieren und letztlich – an der Grenze von kommunalen, kirchlichen und gemeinnützigen, privaten und familialen Aufgaben auch privatisieren und «familiarisieren».

«Familiarisieren sozialer Probleme», dies wäre vielleicht ein wirklich liberaler Beitrag zum «Jahr der Familie»… Selbstverständlich hat dieses Prinzip, wie alle Prinzipien, seine Grenzen. Wo es nicht funktionieren kann, sind begründete Ausnahmen möglich, aber die politische und ethische Beweislast liegt bei den Etatisierern und Zentralisierern.

Prinzipien funktionieren nicht in allen Fällen, aber sie haben den Vorteil, dass sie eine Unterscheidung in Normalfälle und Ausnahmen zulassen. Auch der Grundsatz des «Kleinen Prinzen», die Verantwortung für das zu tragen, was man liebt, funktioniert nicht immer. Die auf Liebe abgestützte Verantwortung ist stets so begrenzt wie die Liebe selbst. Aber die Liebe ist bekanntlich «das einzige Gut, das wächst, wenn wir es verschwenden» (Riccarda Huch).

Das macht sie aus der ökologisch inspirierten Sicht der Zukunftstauglichkeit so attraktiv. Liebe ist zwar vermehrbar, bleibt aber stets auf persönliche Beziehungen angewiesen. Sie kann weder erzwungen noch verordnet werden. Damit bleibt sie über die Freiwilligkeit mit der Verantwortung, wie wir sie verstehen wollen, stets verbunden.

Freiheit und Verantwortung als Zugeständnis und Zumutung

Nach diesen begriffsgeschichtlichen Hinweisen auf «Freiheit» und «Verantwortung» möchte ich einige Überlegungen anstellen zum subtilen Verhältnis zwischen beiden Bereichen. Im Zusammenhang mit der Freiheit war von «gegenseitigem Zugeständnis» die Rede und im Zusammenhang mit «Verantwortung» von «gegenseitiger Zumutung». Können wir auch daran festhalten, nachdem wir uns – gestützt auf Walter Schulz – zu einer freiheitlichen Auffassung von Verantwortung bekannt haben?

Vielleicht gibt es auch beim Begriff der Zumutung den «Gegensinn der Urworte». «Mut» ist wohl auch ein «Urwort» im Sinne von Sigmund Freud. Der Begriff bezeichnet eine Eigenschaft, die in der Politik eine zentrale Rolle spielen sollte, aber leider oft nicht spielt. Es gibt zwar die «Mehr-Mut»-Slogans (mehr Mut zur Demokratie, mehr Mut zur Erziehung, mehr Mut zur Familie, mehr Mut zu Ethik usw.). Aber Slogans sind ja allzu oft nur eine Ausrede für alle, die sie zwar verkünden, aber nicht befolgen wollen.

Vielleicht braucht es im Zusammenhang mit Freiheit und Verantwortung etwas mehr Mut zu Zumutungen. Freiheit ist nicht machbar, sie ist zumutbar. Je mehr wir uns gegenseitig zumuten, desto weniger erwächst daraus eine allgemeine Zumutung. Dazu ein Beispiel: Im Jahr der Familie sind in allen Parteien Forderungen nach Entlastungen der Familie politisch «en vogue». Werden dadurch tatsächlich die «family values» gestärkt und gefördert?

Die Verantwortung in der Familie – über- oder unterfordert?

Ich vertrete als Liberaler und Familienvater die unpopuläre These, dass viele Familien – und auch die Institution der Familie als solche – heute nicht an Überforderung, sondern an Unterforderung leiden. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen: die berühmten fünf bis zehn Prozent Problemfälle, die nach dem Verteilungsmuster der Gauss’schen Kurve überall vorkommen. Erst durch die gut gemeinte Unterstützung und durch die systematische Reduktion dessen, was wir uns gegenseitig zumuten, wächst die Gruppe der Bedürftigen, bis wir schliesslich alle – auf mehr oder weniger hohem Niveau – bedürftig und damit auch entmündigt sind.

In den USA wird einer grossen Zahl von Familien und Eltern zugemutet, dass sie für die Kosten der Hochschulbildung selber aufkommen und damit Verantwortung gegenüber ihren Kindern tragen (oder eben nicht tragen). Natürlich hat dieses System erhebliche Nachteile, aber dem Zusammenhalt in der Familie ist es förderlich. Die Vorstellung vom generationenweisen Weiterreichen von Bildungsinvestitionen und schrittweisen Steigern der Möglichkeiten wird durch diesen Finanzierungsmodus ermöglicht, allerdings um den Preis, dass der Aufstieg in die Gruppe der Bildungsbürger erschwert ist und die sogenannte Chancengleichheit nicht voll gewährleistet wird.

In der Schweiz sind die Hochschulen, wie in der Bundesrepublik, staatlich finanziert, und es besteht ein Stipendienwesen, das an die finanzielle Leistungsfähigkeit der Eltern und nicht an die Begabung der Studierenden anknüpft. Ich habe zwei Söhne und kann mir leicht ausrechnen, dass mich die volle Finanzierung ihrer Ausbildung nach dem USA-Muster finanziell in Bedrängnis bringen würde. Ich bin also diesbezüglich bedürftig gemacht worden und damit auch ein Stück entmündigt. Bei einer Steuersenkung von 10 bis 20 Prozent wäre ich allerdings in der Lage, auch die finanzielle Verantwortung für die Ausbildung der nächsten Generation voll zu tragen.

Vielleicht wäre ich auch motiviert, den Stipendienfonds meiner Universität freiwillig so zu alimentieren, dass eine begabte Studentin oder ein begabter Student aus einer unbemittelten Familie oder gar aus einer Randgruppe zusätzlich studieren könnte…

Wird im Zusammenhang mit diesen hypothetischen Überlegungen bereits das Gespenst des Sozialabbaus beschworen? Würde eine solche Lösung hier wirklich die sozial Bedürftigsten treffen oder eher eine belastbarere Mittelschicht? Sind solche Überlegungen asozial, oder bilden sie die Basis eines sozialen Überlebenskonzepts für eine Zeit, in welcher der Wohlfahrtsstaat endgültig zusammengebrochen ist?

Wie dem auch sei – formulieren will solche Überlegungen heute kaum mehr ein Politiker, und hören will sie auch kein Wähler.

Polit-ökonomische Ursachen für das unbremsbare Wachstum des Sozialstaates

Dass solche Probleme zu wenig diskutiert werden, hat – neben vielen andern – auch Gründe, die mit der «politischen Ökonomie» eines demokratisch strukturierten Sozialstaats zusammenhängen. Entscheidend ist hier das – in der politischen Theorie meist sträflich unterschätzte – Steuersystem, das die Stimmbürgerschaft und die Steuerzahler in «taxpayers» und «taxeaters» gliedert, in Nettozahler und Nettoempfänger. Die demokratischen Mechanismen des umverteilenden Sozialstaats tendieren dazu, über das sogenannte «Giesskannenprinzip» nicht einer begrenzten Gruppe von wirklich Bedürftigen zu helfen, sondern jeweils über 50 Prozent Nettoempfänger zu kreieren.

Argumentiert wird auf dem politischen Parkett mit dem stets populären Neid gegenüber den «Besserverdienenden», die das Ganze bezahlen sollen, und mit dem ebenfalls populären Schutz der Bedürftigen vor der Diskriminierung als «Bittsteller». Das Verfahren hat System, und das «System» funktioniert – aber nicht auf die Dauer.

Sozialstaatliche Einrichtungen, die mehr als die Hälfte der Stimmbürger und Steuerzahler begünstigen, sind in einer Demokratie kaum mehr reversibel. Die Mehrheit der Begünstigten hat zu wenig Motive, um davon abzusehen und sie zu ändern. Der einzige Spielraum liegt noch in einer weiteren Diskriminierung von Minderheiten, häufig der sogenannten Besserverdienenden, häufig aber auch der nicht-wählenden und somit politisch unattraktiven Randgruppen, der wirklich Bedürftigen.

Sparen durch Ausgaben- und Aufgabenreduktion wird in einem solchen Umfeld als «Sozialabbau» gebrandmarkt und ist damit nicht mehr mehrheitsfähig. Dies ist nicht die Schuld besonders uneinsichtiger Politiker, sondern ein gravierender Systemmangel, der sich unabhängig von der Qualität der Politikerinnen und Politiker immer deutlicher manifestiert.

Gibt es einen «geordneten Rückzug» aus dem Wohlfahrtsstaat?

Der «geordnete Rückzug» aus einem über-schuldeten Wohlfahrtsstaat ist eine politische Operation, für die es weder Modelle noch Rezepte gibt. Wenn die Operation – wie im ehemaligen Ostblock – mit einem totalen Systemwechsel verbunden werden kann, stehen die Chancen wenigstens in dieser Beziehung besser, es gibt allerdings auch grössere Risiken für Rückfälle und für den Übergang zu neuen totalitären Systemen.

Im Westen sind in Grossbritannien unter Margaret Thatcher Schritte in diese Richtung unternommen worden, und Roger Douglas hat in Neuseeland in dieser Beziehung Ausserordentliches geleistet. Auch in einigen Staaten Südamerikas sind Prozesse und Experimente im Gang, die schon in absehbarer Zeit auch uns Europäer interessieren sollten.

Während andernorts bereits mit neuen Modellen und Verfahren experimentiert wird, um aus der Sackgasse sozial-staatlicher Überforderung und Überschuldung herauszukommen, werkeln wir in Europa – und zur Zeit leider auch in den USA – mit Retuschen und immer wieder neuen Kompromissen an unserem verfehlten System herum. Das Verwerfliche daran ist nicht das Experimentieren mit kleinen Schritten (in der Bundesrepublik etwa die Komödie um den gestrichenen Feiertag, in der Schweiz der «Grundsatzstreit» um 6,3 oder 6,7 Prozent Mehrwertsteuer), das Verwerfliche ist der Mangel an Mut zu einer «opération vérité» über sozialstaatlich-demokratische Teufelskreise.

Der real existierende Sozialstaat wird über die Verschuldung und das Umlageverfahren zu Lasten der nächsten Generation finanziert. Kaum ein Politiker ist bereit, diese Art von Unsolidarität zu thematisieren. Es ist geradezu widerlich, mit welcher Selbstverständlichkeit das Rezept der Umverteilung zu Lasten der Zukünftigen praktiziert und propagiert wird, z.T. von den gleichen Volksvertretern, die dauernd mit dem Begriff der Solidarität operieren…

Man hört und liest heute vieles zur Wohlfahrtsstaatskritik. Auch aufgeklärte Sozialdemokraten haben begriffen, dass der Wohlfahrtsstaat nicht linear weiterentwickelt werden kann.

Zukunftsverträglichkeit des Wohlfahrtsstaates

Es ist an der Zeit, einen Terminus aus der ökologischen Debatte, jenen der «sustainability», der Dauerhaftigkeit bzw. der Zukunftsverträglichkeit eines Ökosystems auch auf politische Systeme, insbesondere auf Wohlfahrtsstaaten zu übertragen. Zur Zukunftstauglichkeit gehören beispielsweise das Kriterium der Reversibilität und das Kriterium der nachhaltigen, immer wieder neuen Finanzierbarkeit, es gehört aber auch die Umweltverträglichkeit im engeren Sinn dazu.

Der heutige Wohlfahrtsstaat besteht keinen der drei Verträglichkeitstests. Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Wohlfahrtsstaaten – auch in ihrer gemässigten Ausprägung – «not sustainable» sind. Die Subsysteme «Staat», «Wirtschaft» und «Sozio-Kultur» sind mit dem Subsystem der natürlichen Ressourcen verbunden, und Umweltverträglichkeit wie Sozialverträglichkeit können nicht isoliert betrachtet werden. Lassen Sie mich nun unter den Stichworten «Freiheit und Verantwortung» den Wohlfahrtsstaat dem Test der Zukunftsverträglichkeit unterziehen. Sinnvollerweise beginnen wir mit dem ökologischen Verträglichkeitstest.

Innere Widersprüche zwischen ökologischer und sozialstaatlicher Politik

Wohlfahrtsstaatliche Umverteilung bringt national – und vor allem, wenn sie konsequenterweise auch weltweit spielt – einen weiteren Schub an Umweltbeeinträchtigung. Die «rot-grünen» politischen Koalitionen sind daher theoretisch ausserordentlich schlecht fundiert. Die einzige Gemeinsamkeit besteht in der Lust an Interventionen aller Art, und dabei wird kaum bewusst, dass sich in diesem absurden Geflecht des jeweils Gutgemeinten die grundsätzlichen Zielsetzungen gegenseitig ausschliessen. Man kann weltweit nicht gleichzeitig umverteilen und die Umwelt schonen. Es gibt nichts Unökologischeres als die weltweite «Welfarization», welche neue ungebremste Begehrlichkeiten weckt und den Konsum anheizt, das Sparen und Investieren behindert und damit sowohl die Entwicklung neuer Technologien als auch die Schaffung neuer, ökologisch verträglicherer Arbeitsformen behindert. Das sozialstaatliche Motto «alles für alle» bewirkt letztlich vom Bereich der Mentalitäten her die grösste ökologische Katastrophe, denn die Natur funktioniert, wie die Wirtschaft, ebenfalls weitgehend nach dem von Milton Friedman formulierten Grundsatz, «dass es so etwas wie ein Gratisessen nicht gibt».

Wohlfahrtsstaaten sind auf die Dauer nicht finanzierbar

Der zweite Test ist der ökonomische. Sind Sozialstaaten ökonomisch zukunftstauglich? Das Problem der wachsenden Staatsausgaben kann theoretisch auf viererlei Arten gelöst werden: Steuererhöhung, «Sparen» (durch Effizienzsteigerung und/oder Aufgabenabbau), Verschuldung und Inflation. Das tauglichste Verfahren, die Reduktion der Ausgaben, ist gleichzeitig auch das politisch unwahrscheinlichste, und das politisch wahrscheinlichste ist das untauglichste: die Kombination von Verschuldung und Inflation, ein Verfahren, bei dem – wie wir alle wissen – der Mittelstand mit seinem Spar- und Leistungswillen zugrunde geht. Wohlfahrtsstaaten sind dauerhaft nicht finanzierbar, das wissen die meisten – aber es wird in der politischen Szene von rechts bis links verschwiegen und verdrängt. Die schwierigste Finanzierbarkeit ist zwar ein einleuchtendes, aber kein grundsätzliches Argument.

Der Staat kann nicht sozial sein

Der dritte Test für die Zukunftstauglichkeit des Wohlfahrtsstaates ist die Fragestellung «Wie sozial ist der Wohlfahrtsstaat?». Als Liberale haben wir eine besondere Verantwortung, wenn es um die Beantwortung dieser Frage geht. Hier liegen wir im Kernbereich unseres Themas. Es geht um die Verbindung von Freiheit und Verantwortung und um den Stellenwert der Freiwilligkeit. Der Sozialstaat ist für mich der Inbegriff des Gutgemeinten, das in seiner Auswirkung kontraproduktiv wird. Man will im Einzelfall etwas Gutes tun und stört oder zerstört dabei Strukturen, welche das Gesamtsystem tragen, es dauerhaft erhalten haben und weiterhin erhalten sollten. Diese Zusammenhänge sind im Umgang mit Ökosystemen längst bekannt, und auch im Bereich der sogenannten Entwicklungshilfe ist das Bewusstsein von der Kontraproduktivität gutgemeinter Eingriffe bei Fachleuten durchaus vorhanden.

Im Bereich gesellschaftlicher Strukturen und der Gefahren ihrer Beeinflussung durch eine Mischung von sozialen, pseudosozialen und rein populistischen Hilfs- und Interventionsangeboten gibt es aber erstaunlich wenig Untersuchungen. Forscher wie der Soziologe Helmut Schelsky, der dazu wesentliche Zusammenhänge erkannt und dargestellt hat, werden ignoriert und isoliert. Liberale Vordenker wie Anthony de Jasay und Gerard Radnitzky sind nur einem kleinen Kreis von Kennern bekannt. Die grosse Gruppe der Professionellen im Sozialwesen, welche einen Einblick in die Probleme haben oder haben sollten, sind selber «taxeaters» und haben keinerlei Interesse und auch kein Sensorium für die Aufdeckung dieser Zusammenhänge. Sie sind überzeugt von der Notwendigkeit des Systems, weil das System, so wie es ist, sie selber erhält und für sie notwendig ist. Ihre Zurückhaltung bei der Kritik des Wohlfashrtsstaates und ihre populären Forderungen nach einem weiteren Ausbau sind durchaus verständlich. Man kann keiner sozialen Gruppe den Vorwurf machen, dass sie nicht über den eigenen Schatten springt und «aus besserer Einsicht» den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Nur: Dieser Ast ist morsch und er wird ohnehin bald brechen. Wer an sogenannt sozialen Institutionen rüttelt und dies erst noch mit dem Argument, sie seien im Effekt gar nicht sozial, sondern sozialschädlich, steht bald einmal im Ruf des Zynikers. Als Politiker werden Leute mit solchen Auffassungen durch Nichtwiederwahl «honoriert».

Keine «Wahrheit am Krankenbett» des Wohlfahrtsstaates

Eigentlich wäre es Aufgabe von Politikern in der letzten Amtsdauer, diesbezüglich ihre Stimme vernehmen zu lassen. Aber wer setzt sich schon in älteren Jahren gern dem Ruf aus, «Sozialabbau» zu betreiben? In jeder «treuen Wählerschaft» gibt es eine grosse Gruppe von Nutzniessern des sozialstaatlichen Giesskannenprinzips, und die «taxeaters» bilden, aufgrund der dargelegten demokratischen Mechanismen, in den meisten Staaten die durch Staatsbeihilfen entmündigte und korrumpierte Mehrheit. Ein weiteres Problem für Wohlfahrtsstaatskritiker ist der hohe Anteil an Staatsangestellten, die – quer durch alle Parteien – einen nicht zu vernachlässigenden Stimmenanteil ausmachen und die im weiteren Sinn von der Erhaltung und vom Ausbau sozialstaatlicher Strukturen abhängig sind. Ich weiss, ich habe als Institutsleiter einer privat finanzierten Stiftung gut reden. Ich muss mich weder hier noch in der Schweiz einer Volkswahl stellen. Man hat mir auch schon vorgeworfen, ich singe eben das Lied jener «Besserverdienenden», deren Brot ich auch esse. Möglicherweise spielt dies eine Rolle. Ich habe allerdings die Beobachtung gemacht, dass gerade bei den Reichsten eine grosse Bereitschaft vorhanden ist, wohlfahrtsstaatliche Strukturen zu stützen und auszubauen – aus durchaus einleuchtenden Gründen. Der Staat ist eine Organisation, welche den Reichen viel und den Armen weniger Geld wegnimmt, beides unter dem Vorwand, die einen vor den andern zu schützen.

Ursache: Systemmängel

Ein grosser Teil dieses Geldes versickert allerdings im Apparat der Verwaltung. Es soll hier nicht undifferenziert gegen die Beamten polemisiert werden. Sie leisten wohl kaum schlechtere Arbeit als vergleichbare Angestellte in der Privatwirtschaft. Die Mängel liegen grösstenteils im System. Die Kontrolle der Verwaltung obliegt einer weiteren Gruppe: dem Parlament. Auch dieses ist weder besser noch schlechter als das Volk, das es repräsentiert. Es liegt aber am System des unlimitierten demokratischen Sozialstaats, dass wir hier eine Gruppe vor uns haben, die sich wählen lässt, damit sie mit zwangsweise eingezogenem Steuergeld jene «Wohltaten» vollbringen kann, um derentwillen sie wieder gewählt wird. Dem können sich auch Liberale nicht völlig entziehen. Es gibt aber dort immerhin eine grössere Zahl beherzter Skeptiker, welche sich nicht scheuen, den Mitbürgern Freiheit zuzugestehen und Verantwortung zuzumuten und sie nicht durch Hilfen aller Art zu entmündigen… Vielleicht ist dies ein Grund, warum sie insgesamt keine hohen Wähleranteile erreichen.

Vom «Verleichtsinnigen» anvertrauter Güter

Als Abschluss dieses Tests der Zukunftstauglichkeit sei ein durchaus unverdächtiger Zeuge aus der Schweiz zitiert, dessen Staatsverständnis heute an Aktualität gewinnt. Es ist glücklicherweise kein anarcho-libertärer Zyniker, für den das Individuum alles und die Gemeinschaft nichts bedeutet. Es handelt sich um Jeremias Gotthelf, den Dichter-Pfarrer aus dem Emmental, bei dem noch Vieles und Wesentliches über den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung nachzulesen wäre.

«Der Staat ist eine Verbrüderung zum Schutze der Güter, ist eine aufgestellte Wache, welche hemmen soll jede Beeinträchtigung dieser Güter, aber auch mutwillige Verschleuderung, ist eine väterliche Pflege, die dafür sorgt, dass den Unmündigen kein Gut vorenthalten, kein Gut angetastet, aber auch keines von ihnen verleichtsinniget, Betrügerhände nicht über sie mächtig werden könnten. Dafür ist der Staat da, sonst ist er für nichts da.»

Wir stehen heute – gut 150 Jahre nach Gotthelf – mitten drin im «Verleichtsinnigen» des Kapitals, das wir uns von den Unmündigen, ohne sie zu fragen, geliehen haben.

Selbstverständlich muss sich auch der Liberalismus immer wieder den verschiedenen Tests der Zukunftstauglichkeit stellen. Dazu gehört der Nachweis, dass er soziale, ökologische und technisch zivilisatorische Anforderungen erfüllt und mit Demokratie vereinbar ist.

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