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Geplante und spontane Stadtentwicklung

Lesedauer: 11 Minuten


(Gallus-Stadt: Jahrbuch der Stadt St. Gallen 1994, Seite 7-23)


ROBERT NEF studierte Rechtswissenschaft in Zürich und Wien. Von 1968 bis 1988 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung, bis 1991 am Lehrstuhl Rechtswissenschaft – beide an der ETH Zürich. Seit 1979 ist er Leiter des Liberalen Instituts Zürich. Als Redaktor der Zeitschrift «Reflexion» sind seit 1991 bei den «Schweizer Monatsschriften» schrieb er zahlreiche Artikel zu liberalen Grundsatzfragen, zur Raumordnungs- und Umweltpolitik und zur Sicherheitspolitik. In St. Gallen aufgewachsen und noch heute hier wohnhaft, verfolgt er die Stadtentwicklung als Fachmann und selbst Betroffener.

Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob die erste Stadt mit Vorbedacht gegründet worden sei oder ob sie sich aus irgendwelchen stadtähnlichen Siedlungsformen spontan entwickelt habe. Historisch belegt sind weltweit beide Entstehungs- und Entwicklungsformen. In jeder Stadtgeschichte gibt es Phasen, in denen einzelne Bestandteile und Bereiche einer Stadt bewusst gestaltet worden sind, und Phasen, in denen spontane Einzelentscheide und individuell genutzte – oder verpasste – Gelegenheiten die Entwicklung bestimmten, Die Frage nach dem Vorrang zwischen Planung und Spontaneität bei der Stadtentwicklung kann und muss daher offenbleiben.

Ungeplanter Ursprung

Am Ursprung der Stadt Sr. Gallen steht kein bewusster Akt der Planung und Gestaltung. Es sind auch keine politischen oder wirtschaftlichen Überlegungen, sondern religiöse Überzeugungen, welche zum Bau der Zelle geführt haben, aus welcher sich zuerst das Kloster und dann die Stadt entwickelt hat.

So etwa wird die Gegend um die Klosterkirche ausgesehen haben, als Gallus in die Steinachschlucht drang – geeignet für eine Klause, weniger ideal für den Verkehr einer modernen Stadt.

Gallus erbaute seine Klause an jenem Ort im Arboner Forst, an dem er sich bei einem Sturz verletzt hatte. Am Anfang unserer städtischen Unrast steht also die erzwungene Rast nach einem Unfall, den wir als Zufall oder – wie Gallus – als «Fingerzeig Gottes» deuten können, keinesfalls aber als Akt menschlicher Planung. Der Heilige, dessen Namen das Kloster und die Stadt später tragen sollte, folgte lediglich einer spontanen Eingebung und plante weder die Gründung eines Klosters noch die Gründung einer Stadt. Wer nach einem Schutzpatron für unsere Stadtplanung sucht, muss sich anderweitig umsehen. Vielleiehr gab es aber doch vor dem folgenreichen Stolpern und Rasten historisch-biographische Ereignisse, welche Merkmale der Planung, d.h. der zielbewussten Beeinflussung künftigen Geschehens, tragen. Ganz ohne jede Planung wäre weder die Einsiedelei noch das Kloster noch die Stadt entstanden. Das Missionsprojekt des irischen Abtes Columban, an dem auch Gallus mitwirkte, trägt alle wesentlichen Merkmale geplanten Vergehens. Columban wollte auf dem curopäisehen Festland heidnische Stämme christianisieren, und er hat sein Werk zielstrebig vorangetrieben. Das unter seiner konsequenten Leitung durchgeführte Unternehmen war vielleicht darum so erfolgreich, weil er nach dem Zeugnis seiner Biographen konsequent an den Zielen festhielt, die einzelnen Schritte aber flexibel den jeweiligen Gegebenheiten und den Fähigkeiten und Schwächen seiner Mitarbeiter – unter andern Gallus – anpasste. Columban kann mit guten Gründen als planender Unternehmer bezeichnet werden.

Etwa 70 Jahre nach dem Tod von Gallus gründete Otmar das Kloster und erbaute die erste steinerne Kirche. Ihn, den eigentlichen Klostergründer und Kirchenbauer, darf man ebenfalls als Planer bezeichnen, dem das Realisieren und Gestalten mehr lag als religiöse Inspiration und spontane Eingebungen. Columban und Otmar stehen also für die Ursprünge der Stadtentwicklungsplanung, während Gallus das Prinzip der Spontaneität symbolisieren könnte… Doch was soll hier diese laienhafte Spurensuche nach Ursprüngen unserer Stadtentwicklung und deren psychologisierende Deutung?

Die Suche nach den Ursprüngen enthält oft wichtige Anregungen für die Gestaltung der Zukunft. Möglicherweise sind die schon im Mittelalter schriftlich fixierten Heiligenviten samt ihren legendenhaften Ausschmückungen und Übertreibungen erste Zeugnisse der Literatur über Lebens- und Unternehmensführung – Planungsliteratur im weitesten Sinn. Sie beschreiben typisierend Erfolge und Misserfolge und wirken damit exemplarisch. Selbst der Hinweis auf zahlreiche und oft symbolträchtige Wunder macht in der heutigen säkularisierten Welt durchaus Sinn. Erfolg hängt nämlich auch in Gegenwart und Zukunft nicht ausschliesslich von der zielbewussten Planung und Leistung ab, sondern ebensosehr von der Intuition, von der Konstellation und vom Glück, das weder machbar noch erzwingbar ist. Dies gilt nicht nur in der Stadtenewicklungsplanung, sondern ganz allgemein. Die Überbetonung der Leistungskomponente kann dazu führen, dass der Faktor «Gunst und Ungunst» unterschätzt wird und die diesbezüglichen Chancen und Risiken falsch beurteilt werden. Wenn man an die zahlreichen Möglichkeiten denkt, die dazu führen, dass eine Entwicklung – spontan oder geplant – schiefläuft. so hat man keine Mühe, jedes Gelingen auch als etwas durchaus Wunderbares zu deuten, Welcher historisch und psychologisch interessierte Betriebswissenschafter entdeckt die Heiligenviten als Quellen für eine wissenschaftliche Untersuchung? «Columban, Gallus und Otmar und das Spannungsfeld von Planung und Spontaneität»… Über das Verhältnis von Planung und Spontaneität, von Überlegung und Überzeugung, von Leistung und Konstellation, von Rationalität und Intuition wäre bei einer solchen Untersuchung wohl viel Aufschlussreiches und durchaus Aktuelles zu ermitteln… Im Zusammenhang mit den folgenden Überlegungen zum aktuellen Stand der Stadtentwicklung mag der Hinweis genügen, dass sich die beiden Elemente Planung und Spontaneität bis an die Ursprünge unserer Stadt, ja bis an die Ursprünge jeder Stadt zurückverfolgen lassen und dass es sinnlos wäre, das eine gegen das andere auszuspielen.

Die Stadt im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Kultur

Die Frage, ob es eher wirtschaftliche oder politische Kräfte waren, welche die Stadtentwicklung in der Vergangenheit bestimmten und in Gegenwart und Zukunft bestimmen werden, kann nicht abschliessend beantwortet werden. Eine grosse und oft unterschätzte Rolle spielen sicher kulturelle, religiöse und soziale Faktoren, denn die Stadt ist nicht nur ein Ort gemeinsamer Sicherheit und gemeinsamen Wirtschaftens, sondern auch ein Ort, an dem die Arbeitsteilung vielfältiges Kulturschaffen ermöglicht.

Wesentliche politische Elemente einer historisch gewachsenen Stadt sind die Befestigungen und der Sitz der Stadtregierung, für die Wirtschaft ist der Markt entscheidend, und das kulturell-soziale Leben braucht ein religiöses Zentrum, den Tempel bzw. die Kirche und in neuerer Zeit die Schule. Die Frage nach der Priorität und der zeitlichen Reihenfolge, in der sich diese Elemente verbunden haben, ist für die Entwicklung der Stadt St. Gallen eindeutig geklärt: Kirche, Markt, Rathaus. Die Religion macht den Anfang, es folgt die Ökonomie, die wiederum politische Strukturen hervorbringt. Auf eine Umfriedung und auf einfache Befestigungen wurde wohl schon bei der ersten Klosteranlage nicht verzichtet, und Wirtschaftsgebäude und Herbergen gehörten organisch zum Kloster; sicherheitspolitische und ökonomische Komponenten spielten also schon früh ihre Rolle. Aber ein «Primat der Wirtschaft» oder ein «Primat der Politik» hat es in den Anfängen der st.gallischen Siedlungsentwicklung nicht gegeben, und wer nach historischen Hinweisen sucht, dass das religiöse Bewusstsein auch die politische und wirtschaftliche Realität bestimmen kann und die Realität nicht einfach das Resultat wirtschaftlicher und politischer Machtverhältnisse ist und bleibt, findet sie an den Wurzeln unserer Stadtgeschichte. Bis in die Gegenwart wird die äussere Gestalt des Stadtkerns durch Kirchtürme geprägt, wobei sich die Infrastrukturbauten der Spital- und Verwaltungsgebäude des 20. Jahrhunderts heute ebenfalls markant und dominant in Szene setzen, Die Schulbauten, das Theater ebenso wie Tonhalle und Museum haben ihren wichtigen Stellenwert behauptet und sind aus dem Stadtbild nicht wegzudenken. Die kulturell-soziale Komponente ist also als Bestandteil der Stadtentwicklung – mindestens optisch – durchaus präsent geblieben.

In dieser kurzen Besinnung auf den Ursprung liegt auch ein Auftrag für die Zukunft. Jede Stadt ist ein Ort des gemeinsamen Wirtschaftens und der gemeinsam-beweglichen Lösung politischer Aufgaben. Sie ist aber auch ein Ort der Kultur, des gemeinsamen Denkens und Lernens, Schaffens und Geniessens. Die Stadt braucht die Kultur, aber – was heute oft zuwenig beachtet wird – die Kultur braucht auch die Stadt. Wer die Institutionen der Kultur von ihren städtischen und lokalen Wurzeln löst und ihre Trägerschaft kantonalisieren, nationalisieren oder gar europäisieren will, erschliesst nicht nur neue Quellen, sondern verschüttet auch alte, lebenswichtige.

Befestigungen und Kirchen sind die Merkzeichen der mittelalterlichen Stadt (Ansicht von Westen)

Innen und Aussen

Die Abgrenzung von Innen und Aussen spielt bei der Stadtentwicklung eine zentrale Rolle, und die Kunst des Planens beruht ganz wesentlich darauf, bestmögliche zeitliche und räumliche Abgrenzungen zu finden. Dabei ist davon auszugehen, dass Grenzen zwar etwas Notwendiges sind, dass sie aber immer in irgendeiner Hinsicht willkürlich bleiben und etwas Gewaltsames an sich haben. Räumliche und zeitliche Abgrenzungen kennt zwar sogar die Natur, aber die Schaffung von Zonen, Quartieren und Etappen ist ein willkürlicher Akt, der auf menschlichen Entscheidungen beruht. Spontaneität wird dadurch eingegrenzt, und es werden Folgen ausgelöst, die verantwortet werden müssen.

Der Planungsbegriff «Zone» weist darauf bin, dass die Siedlungsentwicklung in der Regel ringförmig um einen alten Kern voranschreitet, d.h. als «Gürtel», der immer weiter geschnallt wird. (In der Stadt Wien stehen noch heute die beiden Bezeichnungen «Ring» und «Gürtel» für zwei wichtige Etappen der Stadtentwicklung.) St.Gallen, die «Stadt im grünen Ring», hat sich auf Kosten eben dieses Rings entwickelt – nach dem Motto «aus Grün mach Grau». Aufgrund unserer Topographie und unserer Geschichte ist es ein vordringliches Anliegen, die Abgrenzung von Innen und Aussen sorgfältig vorzunehmen, den grünen Ring zu schützen und zu schonen und doch jene Durchlässigkeit zu erhalten, welche das Merkmal lebenswichtiger Austauschprozesse ist.

Die Erhaltung von Grünflächen und Grüngürteln wird in der Planerspracbe – etwas despektierlich – als «Negativplanung» bezeichnet, während die städtebauliche Gestaltung, die Siedlungsplanung, als das Anspruchsvollere, Wichtigere erscheint. Für die Stadt St.Gallen ist aber gerade diese Negativplanung das wirklich Positive, Notwendige und langfristig Entscheidende. Die Erhaltung von unüberbauten Naherholungsräumen in unmittelbarer Nähe der Stadt ist ein vordringliches Anliegen. Eine hohe Priorität verdient auch der Schutz der historischen Bausubstanz, welche die Entwicklungsgeschichte der Stadt verkörpert und den Bewohnern Kontinuität, Identität und das Gefühl der Unverwechselbarkeit und Vertrautheit vermittelt.

Öffentliches und Privates

Jede Stadt ist nicht nur durch das Spannungsfeld von Innen und Aussen. sondern auch durch das Spannungsfeld von Öffentlichem und Privatem geprägt. Es gehört zum Wesen einer Stadt, dass sie stets beides ermöglicht: den für die Öffentlichkeit planvoll gestalteten Raum und den nach persönlichen Vorstellungen gestalteten und nach individuellen Bedürfnissen genutzten Privatbereich. Wenn diese beiden Gestaltungs- und Entwicklungskomponenten tatsächlich wechselseitig aufeinander angewiesen sind und dieses Spannungsfeld zum Wesen lebendiger Städte gehört, so ist die politisch kontroverse Frage nach der Zuständigkeit für die städtebauliche Entwicklung bereits beantwortet: Es geht nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-Als-Auch. Es braucht die richtige Mischung von geplanten und spontanen Prozessen. Gewonnen ist mit der in dieser Form ziemlich unbestrittenen Aussage allerdings wenig. Die politischen Auseinandersetzungen über die optimale Stadtentwicklungspolitik und über städtebaulich wichtige Einzelentscheidungen drehen sich ja gerade um die Frage, welches denn die bestmögliche Verbindung zwischen diesen Komponenten sei und wer sich im Einzelfall nach wem zu richten habe. Nutzen die Privaten öffentlich erstellte und finanzierte vernetzte städtische Einrichtungen und Leistungen – oder hat die Stadt jene Infrastrukturen bereitzustellen, welche von den in der Stadt lebenden, verkehrenden und wirtschaftenden Menschen benötigt werden? Schreiben die von der Bürgerschaft gewählten städtischen Behörden vor, was sie an Entwicklung vorantreiben oder zulassen wollen, oder schreiben die Bürger als aktuelle und potentielle Benützer und Bezahler vor, was sie an Entwicklung benötigen oder wünschen? Wessen Wünsche sind ausschlaggebend? Die Wünsche der Stimmbürger, der Steuerzahler, der Eigentümer, der Benützer und Konsumenten städtischer Einrichtungen und Leistungen? Wer entscheidet über die äussere Gestalt und über Art und Mass der zulässigen baulichen Nutzung: die jeweiligen Eigentümer von Grundstücken und Liegenschaften oder die politische Gemeinschaft bzw, die zuständigen Behörden auf lokaler, kantonaler oder nationaler Ebene?

Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht aufgrund von Patentrezepten erfolgen, Sie ist Gegenstand eines ganzen Netzwerks bzw. Gestrüpps von Gesetzen und Verordnungen auf allen Stufen. Auf Verfassungsebene ist die Garantie des Privateigentums an Grund und Boden umschrieben, und die bundesgerichtliche Rechtsprechung bemüht sich um die Grenzziehungen und Inhaltsumschreibungen im Einzelfall. Das Bau- und Planungsrecht ist in grundlegenden Fragen kantonal, während die Bauordnung und die dazugehörenden Pläne kommunal geregelt sind. Für die Stadtentwicklung haben aber zwei weitere Rechtsgebiete einen zentralen Stellenwert, Gebiete, die wenig übersichtlich sind und die daher gegenüber Reformen äusserst resistent bleiben: das Abgabenrecht und das Infrastrukturrecht im weitesten Sinn (Verkehrs-, Energie-, Versorgungs- und Entsorgungsnetze, ihre Planung, Erstellung, Betreibung und Finanzierung). Der Planer operiert in der Regel nicht mit dem ideologisch belasteten schwierigen Begriffspaar «öffentlich» und «privat», sondern mit dem Spannungsfeld zwischen Infrastruktur und Struktur. Die häufig öffentlich und kollektiv produzierte Infrastruktur ist auf die häufig privat und individuell produzierte Struktur (Wohnen und Arbeiten) abzustimmen, wobei offenbleibt, ob sich die Struktur nach der Infrastruktur zu richten habe oder ob das Umgekehrte gelte. Die Begriffe suggerieren eigentlich, dass die Entwicklung der Struktur die Infrastruktur bestimmt, die Realität wird aber bekanntlich durch die jeweiligen Engpässe gesteuert, so dass die Infrastruktur zur alles bestimmenden Voraussetzung wird, auf welcher die Struktur aufbaut, Die ursprünglich dienende Leistung und Einrichtung ist zu einem vorherrschenden Bestimmungsfaktor der Entwicklung geworden. Der gegenwärtig bestimmende, scheinbar allmächtige Engpassfaktor ist die Finanzknappheit der öffentlichen Hand. Dies stimmt aber nur bei einer oberflächlichen und kurzfristigen Betrachtungsweise. Aus längerfristiger ökologischer Sicht liegen die entscheidenden Entwicklungsfaktoren und die steuernden Engpässe im Verhältnis von Natur und Kultur und in der Herausforderung, welche eine nachhaltige Wirtschaftsweise an uns alle stellt. Aus dieser Sicht ist die Natur die eigentliche Infrastruktur, das heisst jenes Ur-Netzwerk, das allem zugrunde liegt und das Voraussetzung ist für den Fortbestand des Lebens. Die Fragen «Was dient und was herrscht?», «Was ist Struktur und was ist Infrastruktur, und was muss wie und inwiefern aufeinander abgestimmt werden?» stellen sich bei dieser Betrachtungsweise noch einmal in anderem Licht. So anschaulich die Gegenüberstellung von dienender technischer, öffentlich produzierter und finanzierter Infrastruktur einerseits und herrschender, bestimmender privatwirtschaftlicher Struktur andererseits gewesen sein mag – sie ist nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern auch aus polit-ökonomischer Sicht überholt. Dienstleistungen werden heute zunehmend privatwirtschaftlich produziert oder privatisiert. Es wird angesichts einer immer umfassender und komplexer werdenden Vernetzung immer schwieriger, von zwei Systemen – der Infrastruktur und der Struktur – zu sprechen, die mittels Entwicklungsplanung harmonisch aufeinander abzustimmen wären. Dies hat weitgehende und schwerwiegende Konsequenzen. Entwicklungsplanung wird auf diesem Hintergrund zu einer gemeinsamen Aufgabe politischer, wirtschaftlicher und sozio-kultureller Träger, welche sich die hiefür notwendigen flexiblen Strukturen der Interessenkoordination und der Konfliktlösung selber schaffen müssen. Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der gegenseitigen und allseitigen Verträglichkeit wird zu einem Dauertraktandum für Wirtschaft und Politik.

Ist die Stadt eine Personengemeinschaft oder eine Institution?

Aus juristischer Sicht stellt sich die Frage nach der rechtlichen Charakterisierung und Typisierung einer Stadtgemeinde. Ist sie eine Körperschaft, also eine Personenverbindung. welche ihre Ziele autonom gemeinsam festlegt und gemeinsam auch immer wieder ändern kann, eine Körperschaft, der die Stadt gehört und die über die Zukunft der Stadt verfügt? Oder hat sie heute nicht vielmehr den Charakter einer komplexen Grossunternehmung, einer «Anstalt», die «eine Gesamtheit von Personen und Sachen» bildet, welche bestimmten Zwecken dauernd gewidmet sind und deren Ziele durch die Gegebenheiten und durch den grössern politischen und wirtschaftlichen Rahmen fixiert sind und prinzipiell nicht zur Disposition stehen? Anstalten haben – anders als Körperschaften – keine Mitglieder, sondern Benützer. Sind wir also Mitglieder oder Benützer in unserer Stadt? Historisch und politisch gesehen überwiegt das körperschaftliche Element (Stichwort Mitglied), realistischerweise hat aber heute das «anstaltliche Element» (Stichwort Benützer) Überhand gewonnen: Wir sind alle eher Benützer als Mitglieder der vielfältigen städtischen Infrastrukturen, Auch hier gehört es zum Wesen der Stadt, dass sie ein Gemisch darstellt, Die Stadt gehört eben als Gesamtheit von Personen und Sachen nicht tel-quel ihren Bürgern, sondern sie gehört mit ihren Strukturen den jeweiligen Eigentümern und nur mit ihrer Infrastruktur der Bürgerschaft. Die öffentliche Infrastruktur ist aber eine Voraussetzung für alle privaten Nutzungen und hat daher einen bestimmenden Einfluss. Sie ist heute nur zu einem kleinen Teil nach Gutdünken autonom von den städtischen Stimmbürgern und Steuerzahlern zu erstellen und zu bewirtschaften. Viele Aufgaben sind von übergeordneten Gemeinwesen zwingend vorgeschrieben, oder sie werden im Verbund mit öffentlichen Werken in privatrechtlicher Form betrieben und stehen damit nicht zur Disposition der Stadtbürger. Die Politik der Stadtentwicklung muss daher sowohl den körperschaftlichen als auch den anstaltlichen Komponenten Rechnung tragen und die Koordination sicherstellen.

Das Zauberwort Koordination vermag allerdings nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass es bei Entscheidungen immer darum geht, Prioritäten zu setzen. Das populäre Sowohl-Als-Auch muss letztlich im Anwendungsfall einem harten Entweder-Oder weichen.

Flugaufnahme 2006 – © Geomatik und Vermessung der Stadt St.Gallen

Natur und Kultur

Stadtentwicklung spielt sich in einer Vielzahl von Spannungsfeldern ab, von denen bisher exemplarisch einige herausgegriffen worden sind. Die Frage nach dem Wesen der Stadt ist wohl von keiner Spezialwissenschaft umfassend zu klären. Es soll darum abschliessend ein Dichter zum Wort kommen, der Österreicher Franz Grillparzer, der in seiner «Libussa» unter anderem den Mythos einer Stadtgründung behandelt. In einem zentralen Dialog zwischen Libussa und Primislaus steckt er das weite Feld ab. Er nimmt dabei einiges vorweg, das später sowohl von Marx als auch von Freud aufgegriffen worden ist, die «Humanisierung der Natur» etwa oder die kulturpessimistische Entfremdungstheorie, welche in Libussas bangen Fragen zum Ausdruck kommen. Die Schlüsselstelle soll hier nicht analysiert und im Hinblick auf die spontane und geplante Stadtentwicklung gedeutet werden; dies sei der Leserin und dem Leser überlassen. Aber wenn unsere Stadt schon einen ideellen, sozio-kulturellen Ursprung hat, so soll auch ihre künftige Entwicklung nicht primär technokratisch-planerisch und auch nicht polit-ökonomisch, sondern kulturell inspiriert und getragen sein.

LIBUSSA:
Sag mir vorerst, was nennt ihr eine Stadt?

PRIMISLAUS:
Wir schliesscn einen Ort mit Mauern ein
Und sammeln die Bewohner rings der Gegend,
Dass hilfreich sie und wechselseitig fördernd
Wie Glieder wirken eines einz’gen Leibs.

LIBUSSA:
Und fürchtest du denn nicht, dass deine Mauern
Den Menschen trennend vom lebend’gen Anhauch
Der sprossenden Natur ihn minder fühlend
Und minder einig machen mit dem Geist des All?

PRIMISLAUS:
Gemeinschaft mit den wandellosen Dingen,
Sie ladet ein zum Fühlen und Geniessen.
Man geht nicht rückwärts, lebt man mit dem All,
Doch vorwärts schreiten, denken, schaffen, wirken
Gewinnt nach innen Raum, wenn eng der äussere,

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