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Jenseits des Wohlfahrtsstaats

Lesedauer: 2 Minuten

(NZZ – WIRTSCHAFT – Donnerstag, 6. Oktober 1994, Seite 27)

Eine Veranstaltung des Liberalen Instituts

G. S. Das Liberale Institut in Zürich hat in den letzten Jahren jeweils versucht, seine Aktivitäten schwergewichtig unter ein Jahresthema zu stellen. 1994/95 will es sich vor allem mit der Krise des Wohlfahrtsstaates beschäftigen. Eröffnet wurde die Reihe der Vorträge und Diskussionen am Dienstag abend mit einem Vortrag des Institutsleiters Robert Nefem>. In einem sehr persönlich gehaltenen und teilweise provokativen Votum gelang es ihm, das Thema breit und unkonventionell abzuhandeln und sowohl zur Diskussion als auch zum Nachdenken anzuregen.

Entlastung des Staates durch die Familie

Nef ging von dem zentralen liberalen Postulat der Trennung von Staat und Gesellschaft aus, das die Privatisierung zu einer Grundidee nicht nur für den wirtschaftlichen Bereich, sondern für die Gesellschaft insgesamt mache. Die Privatisierung der sozialen Sicherung sei dabei gewiss nicht ohne soziale Kosten, aber diese seien nicht notwendigerweise höher als die sozialen Kosten der Nichtprivatisierung. Die soziale Wärme sei kein Monopol kollektiver Institutionen. Vor diesem Hintergrund plädierte der Referent – im Jahr der Familie – für eine Entlastung des Staates durch die Familie und stellte die Frage in den Raum, ob eine Gesellschaft, welche die Familie schon fast per se zum Sozialfall mache, denn noch überleben könne. Wenn, wie eine Umfrage in Schweden ergeben habe, mehr als die Hälfte der Bevölkerung mögliche finanzielle Schwierigkeiten der Eltern nicht als ihr eigenes Problem, sondern als Probmlem des Staates betrachtet, sei mit einer solchen Gesellschaft etwas nicht mehr in Ordnung.

Nur 10 Prozent Bedürftige

Die Marschrichtung für Reformen, die letztlich in einer Abschaffung der Sozialversicherung bestehen müssten, skizzierte Nef mit drei Thesen. Die erste lautet, dass es in jeder Gesellschaft, ob in Bangladesh oder in der Schweiz, nie mehr als etwa 5-10% der Bevölkerung gebe, die Hilfe benötigten und denen man auch Hilfe gewähren könne. Als zweites sind für Nef der Wohlfahrtsstaat, immer verstanden als Umverteilungsstaat, und die Demokratie auf Dauer unvereinbar. Wenn die Zahl der Nutzniesser zu gross werde, wenn sie gar die Zahl von 50% übersteige, dann würden diese Nutzniesser des Umverteilungssystems zugleich zur potentiellen Machtbasis für die Politiker. Darin bestehe eine enorme Gefahr, nicht zuletzt jene, die Spirale der Umverteilung immer noch weiter zu drehen. Drittens vertrat Nef die Ansicht, ein Staat müsse gerecht im Sinne der Gleichbehandlung der Bürger sein. Das sei indessen in einem Umverteilungsstaat unmöglich. Insofern versteht er die Forderung nach sozialpolitischen Reformen nicht als Zerstörung des Staates, im Gegenteil: für Nef ist das schweizerische Staatswesen ein «Kunstwerk», das man indessen von jenen Aufgaben befreien müsse, die es kaputtmachten.

Biedermeier-Familien?

In der zum Teil sehr angeregt geführten Diskussion wurde insbesondere Kritik an der Idee der Rückverlagerung der sozialen Sicherung vom Staat in die Familie geübt. Verschiedene Teilnehmer witterten dahinter das Idealbild einer Biedermeier-Familie und machten sich Sorgen um jene, die ihr Leben ohne permanenten Partner oder jedenfalls ohne Kinder führen möchten. Zu spüren war dabei auch ein gewisses Unbehagen gegenüber der sozialen Kontrolle und der Enge der Kleingruppe gegenüber der Anonymität der staatlichen Versicherung. Nef verwies darauf, dass die Familie ja nicht die einzige Form sozialer Sicherung darstellen müsste, sondern dass daneben ökonomische Angebote privater Versicherungen bestünden. Kinderlose Ehepaare könnten ihre finanzielle Altersvorsorge also stärker auf Versicherungen abstützen, während Familien mit Kindern vielleicht mehr auf den Generationenvertrag bauen würden. Im übrigen anerkannte Nef durchaus die Schwachstellen seiner Überlegungen. Im Vergleich mit dem heutigen Wohlfahrtsstaat, der sich in einer Sackgasse befinde, stellte die Privatisierung der Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens dagegen aus seiner Sicht noch allemal einen Fortschritt dar.

NZZ 6. Oktober 1994, Seite 27

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